01.07.2008

„Kindererziehung ist keine hohe Wissenschaft“

Interview mit David Anderegg

David Anderegg, Psychologieprofessor am Benningto College in den USA und Autor des Buches Worried All The Time – Rediscovering the Joy in Parenthood in an Age of Anxiety im Gespräch mit Sabine Beppler-Spahl.

Herr Anderegg, Ausgangspunkt Ihres Buches ist die These, dass sich die heutige Elterngeneration mehr Sorgen macht als frühere. Woher wissen Sie das?
Das ist sehr schwer festzustellen. Wir haben keine Daten, die über mehrere Jahre oder Jahrzehnte laufen, Langzeitstudien also, die sich mit dieser Frage beschäftigen. Eine Schwierigkeit ist, dass dieses Ausmaß an elterlicher Sorge ein relativ neues Phänomen ist. Wenn man aber heute Eltern befragt, ob sie glauben, Kindererziehung sei schwieriger als je zuvor, dann bestätigen dies 78 Prozent, während nur vier Prozent der Meinung sind, Kindererziehung sei heute leichter. Dies entspricht auch den eher anekdotischen Erfahrungen aus meiner eigenen Praxis.

Die Erziehung wird als schwieriger empfunden trotz der vielen Dinge, die die Elternschaft heute erleichtern?
Ja – man kann sagen, dass es heute zumindest für die Mittelschicht oder die obere Mittelschicht viel einfacher ist, Kinder großzuziehen, als je zuvor in der menschlichen Geschichte. Wir haben die Kinderkrankheiten besiegt, verfügen über genügend Nahrung, haben gute Wohnungen usw. Es ist paradox, dass es umso schwerer erscheint, je leichter es eigentlich geworden ist.

Elternschaft ist schon lange nicht mehr nur ein normaler Aspekt unseres Lebens. Wir können heute selber bestimmen, ob wir Kinder wollen oder nicht, und auch viel mehr als früher, wie wir sie erziehen möchten.
Kindererziehung hat sich gewandelt: von einer Volksweisheit hin zu einer Technik. In der Vergangenheit hat man seine Kinder mehr oder weniger so erzogen, wie man es von der eigenen Mutter gelernt hat, die es wiederum von ihrer Mutter gelernt hatte usw. Heutzutage wird Kindererziehung technologisiert – so kann man es zumindest bezeichnen. Dieser Prozess hat schon vor 100 Jahren begonnen, sich aber in den letzten 20 Jahren deutlich beschleunigt. Mit dem Begriff „technologisiert“ meine ich, dass man heutzutage bei der Erziehung Experten fragt. Kindererziehung scheint zu wichtig, als dass man sich da auf den Rat der eigenen Mutter verlassen könnte. Das Problem ist jedoch, dass es immer mehr Experten gibt, und so erscheint die Aufgabe immer schwieriger und komplexer, weil man zwischen den Experten auswählen muss.

Experten geben einem manchmal sehr widersprüchliche Ratschläge. Nehmen wir als Beispiel die Frage, ob man sein Kind nachts schreien lassen soll oder nicht. Manche Experten raten vehement ab, andere meinen, dies sei der richtige Weg. Trägt dies dazu bei, dass Eltern sich mehr Sorgen machen?
So ist es, das macht die moderne Kindererziehung so schwierig. Heutzutage hat man ein ganzes Spektrum an Wahlmöglichkeiten – von einem Extrem zum anderen. All diese Wahlmöglichkeiten bei der Erziehung basieren angeblich auf wissenschaftlicher Forschung. Ich finde es geradezu lächerlich, dass sich all diese Erziehungsexperten auf wissenschaftliche Forschung berufen, die angeblich ihre Meinung stützt, obwohl sie sich untereinander komplett widersprechen.
Dieses Phänomen erklärt sich daraus, dass wir nicht über Wissenschaft sprechen, sondern über Wertvorstellungen. Eltern müssen sich bei der Erziehung an den eigenen Werten orientieren. Das Problem ist, dass viele Eltern davor zurückschrecken. Sie haben kein Vertrauen in die eigenen Werte und suchen daher jemanden, der ihnen sagt, was sie tun sollen. Die Frage, ob sich ein Kind in den Schlaf schreien soll, ist ein gutes Beispiel: Die Vorstellung, Kinder sollten alleine einschlafen lernen, ist mit dem Wert der Unabhängigkeit verbunden. Eltern, die diesen Wert für besonders wichtig halten, möchten vielleicht ein Kind großziehen, das sich später als Erwachsener nicht so leicht einsam fühlt. Sie stellen sich einen Erwachsenen vor, der aus Karrieregründen auch ins Ausland gehen würde usw. Hat man jedoch ein Kind, das praktisch so lange im elterlichen Bett schläft, bis es bereit ist, dies von selber aufzugeben, dann drückt man damit vielleicht eher familienorientierte Werte wie Verbundenheit usw. aus. Es geht um die Frage, wie man sich die Zukunft seines Kindes vorstellt und welches Familienleben man für sich selber wünscht. Für manche ist „Unabhängigkeit“ das wichtigste Ziel, für andere ist dies nicht so entscheidend. Mit Wissenschaft hat das nichts zu tun, sondern mit den eigenen Wertvorstellungen.

Ist es nicht generell gut, dass wir heutzutage mehr Wahlfreiheit haben?
Wahlfreiheit ist gut. Aber wenn es um Expertenrat für Eltern geht, dann wirkt sie sich sehr negativ aus. Am Ende verstricken sich Eltern vollkommen bei ihren Entscheidungen und wissen nicht mehr, was sie tun sollen. Ich habe zahlreiche Eltern kennengelernt, die ihre gesamte Freizeit damit verbringen, sich über Erziehungsfragen zu informieren, weil sie unbedingt die richtigen Entscheidungen für ihre Kinder treffen möchten. Sie glauben, sie müssten ständig über die neuesten Trends und Informationen in Sachen Kindererziehung Bescheid wissen. Die andere Sache ist, dass Eltern die Bedeutung von bestimmten Entscheidungen häufig sehr überschätzen. Manchmal glauben Eltern, eine Entscheidung könne das gesamte zukünftige Leben ihrer Kinder beeinflussen. In den USA ist die Frage, auf welches College ein Kind gehen wird, das beste Beispiel hierfür. Dazu habe ich eine gute Anekdote: Eine Mutter stand jeden Morgen mit einem Schreibblock in der Hand im Kindergarten ihres Kindes. Sie sagte, sie müsse sich Notizen über die Einrichtung und über das, was den Kindern dort geboten werde, machen, um sicherzugehen, dass sie sich für den richtigen Kindergarten entschieden habe: Die Qualität dieser ersten Einrichtung sei schließlich ein wichtiger Garant dafür, dass ihr Kind später auf ein gutes College gehen könne. Dies zeigt, wie viel Druck auf Eltern lastet, wenn sie immer und ständig daran denken, die richtigen Entscheidungen für ihre Kinder treffen zu müssen.

Was ist der Grund für diese Tendenz, sich zu viel Sorgen zu machen und sich ständig bei Experten absichern zu wollen?
Nun ja, da gibt es viele Faktoren. Diese Form der Elternsorge geht einher mit immer kleineren Familien. Es ergibt Sinn, dass man glaubt, alles perfekt machen zu müssen, wenn man nur ein oder zwei Kinder hat. Eltern mit mehreren Kindern sind meist etwas lockerer. Ein weiterer Faktor ist natürlich die Säkularisierung. Früher waren die Menschen nicht der Meinung, dass alles von ihnen abhing – schließlich gab es da noch einen wohlmeinenden Gott, der im Zweifelsfall half. Dann ist da natürlich auch der Einfluss der Medienkultur, die dazu neigt, alles zu dramatisieren. Die Isolation, in der wir heutzutage oft leben, macht es besonders wichtig für Eltern, nach Antworten auf ihre dringendsten Fragen zu suchen, z.B. die Frage: „Ist mein Kind noch normal?“. Also schaut man sich Fernsehsendungen über anderer Leute Kinder an. Nutzt man die Medien als Quelle für normative Daten, ergeben sich jedoch Probleme. Die Formel für ein gutes „Kind-in-der-Krise-Fernsehprogramm“ sieht so aus: Man sammelt einige Angst machende Anekdoten, übertreibt dabei ein bisschen und tut so, als sei dies alles die Norm – oder zumindest fast die Norm. So entsteht eine spannende Sendung. Die Konsequenz ist jedoch, dass der Zuschauer die Wahrscheinlichkeit einer ähnlichen Krise auch in seinem Umfeld ständig überschätzt.

Sie unterscheiden zwischen elterlicher Wachsamkeit und elterlichen Sorgen. Können Sie kurz auf diesen Unterschied eingehen?
Wachsamkeit ist nützlich und rational, weil man hierdurch wirklich etwas bewirken kann. Wachsamkeit ist, wenn man auf Details achtet, die eine tatsächliche positive oder negative Auswirkung haben können. Aufpassen, dass ein Kleinkind nicht zu dicht an eine Steckdose herankommt, ist ein Beispiel für Wachsamkeit. Ein anderes wäre, sich die Sicherheitstests von Autos anzuschauen, bevor man ein neues kauft. Sorgen macht man sich dagegen, wenn man eigentlich keinen Einfluss auf etwas nehmen kann. Hat man z.B. das Auto gekauft, ergibt es keinen Sinn, sich dauernd vor einem Unfall zu fürchten – schließlich hat man getan, was man konnte. Man muss mit den Konsequenzen der eigenen Entscheidung leben und akzeptieren, dass nun nichts mehr getan werden kann. Das Komische ist, dass uns übermäßiges Sorgen nicht hilft, bessere Entscheidungen zu treffen. Viele Menschen überreagieren, wenn sie in einem besorgten Zustand eine Entscheidung treffen müssen. Menschen, die als chronisch besorgt gelten, treffen oft sehr impulsive und schlechte Entscheidungen, weil sie den Druck des ständigen sich Sorgens nicht mehr aushalten.

Haben wir die Fähigkeit verloren, Risiken korrekt einzuschätzen? Welche Konsequenz ergibt sich aus dem Wunsch, Risiken möglichst ganz zu vermeiden?
Nehmen wir die Frage, ob Kinder alleine zur Schule gehen sollen. Manche Eltern sagen: Es gibt ein Risiko von eins zu einer Million, dass mein Kind auf dem Schulweg entführt wird, und weshalb sollten wir dieses Risiko eingehen? Während wir uns auf die Risiken konzentrieren, ist es sehr schwer, die Vorteile festzuhalten. Ein Vorteil ist natürlich, dass die Eltern mehr Zeit für andere Dinge haben. Es gibt aber auch Vorteile für die Kinder: Freiheiten, ein Gefühl der Stärke usw. Ich persönlich glaube, dass der Schulweg allein für Kinder sehr positiv ist. Kinder entwickeln ein gewisses Selbstvertrauen, wenn sie mit Problemen alleine fertig werden müssen und auch mit Krisen umgehen lernen, wenn sie noch sehr klein sind. Diese Vorteile sind jedoch irgendwie unfassbar und für besorgte Eltern viel schwerer zu erkennen.

Wie verletzlich sind unsere Kinder tatsächlich?
Natürlich sind Kinder verletzlich. Aber die Vorstellung, wir müssten sie vor allem bewahren, ergibt keinen Sinn. Kinder müssen lernen, mit Widrigkeiten umzugehen. Es gibt Forschung über einige Jahrzehnte, die zeigt, dass kleinere oder auch größere Widrigkeiten, die überwunden werden, die Kinder insgesamt widerstandsfähiger machen. Das ist ein Grund, weshalb die Selbstbewusstseinskampagnen in den USA so absurd waren. Hier ging man davon aus, Kinder seien zu verwundbar, um selbst die normalen Enttäuschungen des Lebens verkraften zu können. Die Bewegung hat zum Glück ihren Höhepunkt überschritten, und viele Psychologen haben darauf hingewiesen, dass wirkliches Selbstbewusstsein eine Konsequenz tatsächlich erbrachter Leistungen ist und nicht eines Unterrichts, der Kindern immer wieder vorgaukelt, wie toll sie doch seien.
Die Selbstbewusstseinskampagne hat jedoch viele Eltern beeinflusst. Sie sorgen sich um den psychischen Schaden, den Kinder durch das Gefühl, versagt zu haben, davontragen könnten. In meinem Buch nenne ich das Beispiel von einem Jungen, der tagelang zu Hause das Vortragen eines Witzes geübt hatte. Als er dann den Witz vor der Klasse erzählen sollte, lachte keiner. Der Vater beschwerte sich daraufhin bei dem Lehrer, weil er meinte, dieser hätte sicherstellen müssen, dass die anderen Kinder lachen. So etwas ist natürlich vollkommen absurd. Wenn ein Witz nicht witzig ist, dann lacht eben keiner. Es passiert aber, weil Eltern erzählt bekommen haben, dass ihr Kind durch solche trivialen Vorkommnisse permanenten Schaden erleiden kann. Sie sehen nicht die Chance zu üben, mit Missgeschick umzugehen – geschweige denn, dem Kind einfach einen witzigeren Witz beizubringen

Ist es nicht zu einfach, den Eltern vorzuwerfen, sie seien überbesorgt, wo doch alle – von den Medien bis hin zur Politik – ständig darüber sprechen, wie verletzlich Kinder seien?
Das ist richtig. Eltern reagieren nur auf das, was sie im Alltag mitbekommen und was ihnen permanent erzählt wird. Die Politik trägt sicher auch dazu bei – ebenso wie die Werbung. Ich mache Eltern nicht dafür verantwortlich, dass sie ihre Ängste ernst nehmen. Verantwortlich mache ich aber diejenigen, die diese Ängste ausnutzen. Hier in den USA sind z.B. die Baby-Einstein-Produkte ein großer Renner. Baby Einstein ist eine Firma, die damit wirbt, dass Kinder stärker werden – und damit in ihrem Leben erfolgreicher –, wenn man ihnen z.B. eine gewisse Musik vorspielt.
Aber die Politik ist hier auch nicht unschuldig. Wer vorgibt, Kindern helfen zu wollen, kann immer gegen seinen Kontrahenten punkten. Ich kann das Mantra „Es geht um die Kinder“ nicht mehr hören. Für Politiker sind die Sorgen der Eltern eine Trumpfkarte. Denn wenn etwas dem Kinderschutz dienen soll, dann ist es sehr schwer, dagegen zu argumentieren. Man kann nicht sagen: „Oh, ich bin aber gegen Kinder.“ Es ist sehr schwer für Eltern, einem solchen Druck zu widerstehen.

Sie haben gesagt, die meisten Kinder würden sich am Ende trotzdem gut entwickeln – egal, wie besorgt die Eltern sind. Sie sprechen aber von Auswirkungen auf die Gesellschaft. Wie sehen die aus?
Das wird sich noch zeigen müssen. Wir können noch nicht sagen, was aus unseren überbehüteten Kindern wird. Es gibt aber Auswirkungen, die sich schon heute zeigen. Eine davon ist die zunehmende Plagiatbereitschaft. Immer mehr Eltern glauben, sie müssten die Wahrheit zugunsten ihrer Kinder beeinflussen. Manche schummeln sogar im Interesse ihrer Kinder. Die Welt gilt heute als so hart, dass Betrug zu einer Notwendigkeit erklärt wird. Hierzu habe ich noch eine Anekdote: Eine Lehrerin hatte Kinder, die bei einer Hausarbeit geschummelt hatten, durchfallen lassen. Die Eltern protestierten vehement dagegen: Die Kinder hätten zwar eine Strafe verdient, es sei aber zu hart, sie durchfallen zu lassen. Sie machten sich natürlich Sorgen über die Endnoten ihrer Kinder und meinten, diese sollten nicht für den Rest ihre Lebens bestraft werden. Wir müssen uns aber fragen: Wie viel ist uns die Integrität wert? Indem Eltern solche scheinbar unschuldigen Beweggründe verfolgen – wie alles tun zu wollen, um ihrem Kind zu helfen –, vergessen sie etwas anderes, sehr viel Beständigeres: die Beobachtungen, die ihr Kind macht, was ihre eigene Glaubwürdigkeit betrifft. Wenn wir alles tun, um einen Vorsprung gegenüber der anderen Familie zu haben, dann haben wir am Ende eine Art Mafia-Situation. Wir müssen uns fragen, was das für unsere Gesellschaft bedeutet.

Wie schaffe ich es, immun gegen zu viele Sorgen zu werden?
Zunächst einmal muss man sich über die Mechanismen der „Krisenberichterstattung“ bewusst werden und nicht alles so ernst nehmen, was uns die Medien präsentieren. Das wäre schon eine große Hilfe. Ich glaube auch, dass es sehr wichtig ist, die eigenen Wertvorstellungen zu kennen und sich in dieser Hinsicht selbst zu vertrauen. Man muss wissen, dass kein Experte und auch kein Ratgeber einem sagen kann, wie man sein Kind erziehen sollte. Man muss seine eigenen Werte kennen. Wenn man die Werte Unabhängigkeit und Mut schätzt, dann erzieht man sein Kind anhand dieser Vorstellungen. Wenn man dagegen jemand ist, der Verbundenheit und Vertrauen schätzt, dann erzieht man sein Kind eben nach diesen Grundsätzen. Ich schlage vor, dass wir uns wieder mehr über unsere eigenen Werte Gedanken machen. Und wir sollten uns daran erinnern, dass Kindererziehung keine hohe Wissenschaft ist.

Vielen Dank für das Gespräch.

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