01.07.2008

Ohne Eliten keine Demokratie

Analyse von Josef Kraus

Ein diffuser Anti-Intellektualismus hilft keiner Demokratie weiter.

Da ist sie also wieder: die parareligiöse Ideologie des Egalitarismus, diese weltfremde Negation aller Unterschiede zwischen Menschen, hinter der unausweichlich das Heil einer gerechten und klassenlosen Gesellschaft lauert. Was nicht alle sind, darf offenbar keiner sein; was nicht alle haben, darf keiner haben; was nicht alle können, darf natürlich keiner können. Also darf es – außer im Sport und in der Musik – keine Elite geben. Das sind die Eckpfeiler des erneut aufgekommenen, typisch deutschen Anti-Elite-Komplexes. Dass übrigens alle egalitären Visionen von elitären Denkern stammen, sei wenigstens am Rande erwähnt. Ist der neue deutsche Anti-Elitismus nur ein Déjà-vu-Erlebnis? Auf den ersten Blick ja, denn dass Elite für die 68er tabu, ja reaktionär, repressiv, zumindest kryptofaschistisch war, ist bekannt. In jüngster Zeit freilich durfte man hoffen, dass Deutschland seine Anti-Elite-Reflexe hinter sich gelassen hätte. Diese Hoffnung aber trog. Das Fehlverhalten einiger Top-Manager bei Post und Siemens reichte aus, um alte Affekte zu reanimieren: Elite ist schlecht, Angriffe gegen Eliten sind gut.

Ein sonntägliches TV-Talk-Ersatzparlament titelte im April 2008 (ohne Fragezeichen): „Gierig, maßlos, arrogant – die Elite am Pranger“. Dort trat als selbst ernannter Allzweck-Experte ein SPD-Bundestagsabgeordneter namens Karl Lauterbach auf, der zu wissen glaubte, dass Eliten nichts anderes wollten, als sich und die eigenen Kinder von dem niederen Volk abzuschotten. Assistiert wurde ihm von einer dynamischen Jung-Journalistin, die tatsächlich ein paar private Kindergärten und Schulen besucht hatte, um die „Erfahrungen“ dort zu einem angeblichen Bestseller zu verpacken, und die nun meinte, der Begriff Elite hätte eigentlich mit den Begriffen Führer und Rasse untergehen sollen. Bereits zuvor hatten sich Politikmagazine, Zeitungen, Boulevard und Yellow Press reihenweise über die Elite ausgelassen: „Das Versagen der Eliten“ (Welt am Sonntag, 17.2.08), „Elite ohne Moral“ (Stern, 21.2.08), „Die geschmähte Elite“ (Spiegel Online, 26.2.08) – so oder so ähnlich lasen sich in seltener Einmütigkeit die Überschriften.

Angeführt wird die Anti-Elite-Elite von dem vermeintlich renommiertesten Eliteforscher Deutschlands, einem Darmstädter Professor namens Hartmann, der – Interview auf Interview gewährend – durch die Gazetten stürmt, um in bewusster Gleichsetzung von Elite und Konsumadel Definitionen wie folgende zum Besten zu geben: Elite seien die, die eine Jacht kauften, im Hochtaunus oder am Starnberger See wohnten, Golfen und Segeln gingen und deren Kinder in Nobelbars mehrere 100 Euro für eine Flasche Champagner auf den Tisch legten. Überhaupt, so Hartmann: Elite sei undemokratisch und deshalb anachronistisch. Schließlich begründe sich Elite in Deutschland nur durch einen bürgerlichen Habitus und bürgerliche Umgangsformen. Die Frage, was denn gegen gesittete Umgangsformen einzuwenden sei und ob nicht so manches unserer gesellschaftlichen Probleme mit einem Zuwenig an Bürgerlichkeit zu tun habe, gehört aber wahrscheinlich nicht hierher. Für einen anderen Sozialwissenschaftler namens Negt aus Hannover ist der zuletzt vermehrt vernehmbare Ruf nach Elite jedenfalls die vornehmere Variante der Stammtischforderung nach dem „starken Mann“. Sind wir also schon wieder so weit?

Wie auch immer: Manchmal drängt sich schon der Verdacht auf, diese Anti-Elite habe nichts anderes im Sinn, als sich selbst an die Stelle der von ihr kritisierten Elite zu setzen. Zumindest aber fällt auf, dass so mancher Elite-Kritiker den Elite-Begriff als unscharf ablehnt, sich aber trotzdem nicht davon abbringen lässt, an Elite das eigene Blut in Wallung zu versetzen und sich an ihr abzuarbeiten. Das sind die ideologischen Reflexe gegen Elite. Wahrscheinlich sind es Reflexe, die bewusst haarscharf an einer Neiddebatte entlang konditioniert werden. Ungemach droht dem Elite-Gedanken aber auch durch seine Inflationierung und „Verramschung“ (Heike Schmoll, siehe unten). Wer im Internet „googelt“, der landet beim Stichwort Elite 150 Millionen Treffer. Computerspiele, Hotels, Sportgeräte heißen so, sogar ein Magazin für Milcherzeuger schmückt sich mit diesem Namen. Doch zurück zur Soziologie von Elite und um aufkeimende Zweifel zu zerstreuen: Natürlich gibt es Abzocker und Nieten in Nadelstreifen, gewiss gibt es den Dünkel von Steuerflüchtigen und „Celebrities“, die kaum von selbst strahlen, sondern die nur strahlen, weil sie angestrahlt werden. Aber weder pseudoelitäres Gehabe noch der Missbrauch von Elite durch Faschismus und Bolschewismus machen Elite überflüssig. Vielmehr gilt: Je komplexer und differenzierter Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft, umso mehr sind wir auf Eliten (Plural!) angewiesen. Und je mehr Eliten an der Spitze positive Vorbilder vorleben, umso mehr ist auch die sogenannte breite Bevölkerung bereit, diesen Vorbildern zu folgen.

Demokratie darf in Deutschland nicht zum Diktat des Durchschnitts werden. Eine permanent wechselnde Kursbestimmung nach den Ergebnissen der Meinungsforschung wäre eine Vulgarisierung des Politischen; das Zählen von Meinungen ersetzt nun einmal nicht deren ideelle und intellektuelle Reflexion. In diesem Sinne hat Karl Mannheim auch heute recht: Der politische Kurs darf kein arithmetisches Mittel, sondern er muss die Frucht eines theoretischen Ringens um die richtige Richtung sein; und er muss die relativ richtigen Elemente rivalisierender Theorien integrieren. Das vermögen aber nur Spitzenleute zu leisten. Radikaldemokratische Vorstellungen von der unmittelbaren Herrschaft des Volkes sind zumal in einer hochkomplexen Welt und in einer Welt des explodierenden Wissens naiv. Aus Demokratie darf jedenfalls kein „Konvent von ungefähr gleich Unwissenden“ (Peter Sloterdijk) werden. Eine solchermaßen zur Gleichheit verurteilte Gesellschaft wäre zur Stagnation verurteilt. Demokratie kann deshalb auch im 21. Jahrhundert nur bedeuten: Die Mehrheit entscheidet, welche Minderheit für eine bestimmte Zeit regiert. Das hat nichts mit geschlossenen Macht- oder Familien-Clans zu tun, sondern mit einer Gesellschaft, die offen ist für neue Eliten und in der Eliten auswechselbar sind. Joseph Alois Schumpeter nennt diese Auswechselbarkeit in seinem 1942 in den USA erschienenen Klassiker mit dem Titel Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie die „lebenswichtige Tatsache der Führung“. Der Vorteil der Demokratie dabei sei, dass sie den Austausch von Eliten ohne Blutvergießen ermögliche.

Wer legitimerweise die herrschende Minderheit ist, darüber gilt es zu streiten. Bloße Machtelite oder blanker Geldadel kann es nicht sein. Bloße Funktionselite darf es auch nicht sein, denn wertfreie Eliten sind keine. Eine Leistungs- und Verantwortungselite muss es sein, die zugleich Reflexions- und Werteelite ist. Das ist kein abgehobenes Plädoyer für Platons Vorstellung, derzufolge eine Polis nur dann gut sein könne, wenn entweder die Könige Philosophen seien oder Philosophen Könige. Aber ein wenig mehr Intellektualität und Idealismus darf es schon sein. Engagement allein reicht nicht als Merkmal von Elite, Erkenntnis und Weisheit sollen hinzukommen. Das ist ja auch die große Sünde vieler sogenannter Intellektueller, dass sie Engagement oder gar Gesinnung an die Stelle von Wahrheit setzen. Max Weber gilt hier durchaus auch für Berufspolitiker, unter denen er die Gesinnungsethiker von den Verantwortungsethikern zu scheiden weiß. Während sich der Gesinnungsethiker nur dafür verantwortlich fühle, dass die Flamme der reinen Gesinnung nicht erlösche, bedenke der Verantwortungsethiker stets auch die Motive und Ergebnisse seines Handelns. Ansonsten ließe sich mit dem Gegensatzpaar Gesinnung versus Verantwortung die gesamte Intellektuellenszene beschreiben. Gesinnungsintellektuelle gibt es zuhauf. Es sind diejenigen, die die Menschen nicht besser verstehen, sondern durch Gleichmacherei erlösen wollen. Im Grunde genommen provozieren sie damit aber eine Gefahr für die Demokratie, die schon Alexis de Toqueville beschrieb: Der Wille zur Freiheit erlahme nämlich in dem Moment, wo Gleichheit den Vorrang vor Freiheit erringe. Den Menschen sei das sehr recht, denn Freiheit wolle stets aufs Neue mühsam erarbeitet werden, Gleichheit aber biete ihre Genüsse von selbst dar. Die intellektuelle Elite dieser Denkart hat immer die Nase vorne, aus dem eben genannten Grund, aber auch deshalb, weil durch das andere gesellschaftspolitische Lager ein diffuser Anti-Intellektualismus wabert und weil dort – verkleidet hinter Pragmatismus und Realpolitik – das Denken hinter dem Handeln rangiert.

Nichts wäre also im Interesse der Pluralität intellektueller Eliten notwendiger als ein konservativ-liberaler Gegenbegriff zu „linken“ Vorstellungen von intellektueller Elite. Freilich ist es erheblich schwieriger, konservativ-liberale Intellektuelle zu finden, denn konservativ-liberales Denken orientiert sich nun einmal stärker am Konkreten als am Denkbaren, es will nicht verändern um der Veränderung willen, sondern es will kontrolliert zum Zweck der Verbesserung der Umstände verändern. Konservativ-liberales Denken ist auch nicht geprägt von einem euphorischen Radikalismus, sondern von einem ausgesprochenen Skeptizismus gegenüber allen Visionen einer Perfektibilität des Menschen und seiner Gesellschaften. Skeptiker ist einer ja deshalb, weil er nicht um die eine Wahrheit zu wissen glaubt, sondern weil er um verschiedene Wahrheiten der „condition humana“ und um die Unvollkommenheit des Menschen im Diesseits weiß. Schwierig, konservativ-liberale Elite zu finden, ist es schließlich deshalb, weil konservativ-liberale Intellektuelle von interessierter Seite oft dem Generalverdacht des Antidemokratischen, wenn nicht gar des Faschistoiden ausgesetzt werden. Dafür hat das Klima einer spießigen „political correctness“ gesorgt, der alles rechts von Angela Merkel bereits verdächtig ist. Konservativ-liberale Intellektuelle sind bei konservativ-liberalen Regierungen deshalb in der Regel auch weniger beliebt als progressive Intellektuelle bei den ihnen wohlgesonnenen Regierungen.

Wie auch immer: Vor dem Hintergrund einer Verpflichtung von Eliten auf eine Ethik der Verantwortung kann selbst Ungleichheit gerecht sein – nämlich dann, wenn Elite allen nützt, wenn das Handeln von Eliten quasi zu einem „inequality surplus“, zu einem Mehrwert führt. Das sind hohe Ansprüche, die nur erfüllbar sind, wenn Politik und Wirtschaft wieder mehr geprägt werden von der Macht des Geistes statt vom Ungeist der Macht. Ein diffuser Anti-Intellektualismus hilft keiner Demokratie weiter. Und umgekehrt ist eine Demokratie – wie Weimar zeigt – dann in größter Gefahr, wenn ihr die intellektuelle Elite die Loyalität entzieht. Nein, Demokratie braucht die kritische Sympathie Intellektueller und nicht deren klammheimliche Genugtuung ob gesellschaftlicher Missstände. Deutschland braucht Spitzenkräfte in allen Bereichen. Die renommierte FAZ-Bildungsjournalistin Heike Schmoll hat skizziert, welche ideellen Ansprüche an diese Spitzenleute zu stellen sind. Aus ihrem höchst lesenswerten Buch Lob der Elite: Warum wir sie brauchen ist eine anspruchsvolle Konzeption einer humanistisch geprägten Elite geworden. Schmoll stellt sich unter Elite Leistungs- und Verantwortungsträger vor, die Ausnahmezustände sehr schnell begreifen, die aus ihrer historisch-kulturellen Unterkellerung heraus die Legitimität vorhandener oder zukünftiger Umstände reflektieren, die aus einer Gesamtschau heraus Orientierungen in Zeiten der Beliebigkeit und der Gleichgültigkeit vorleben.

Wir brauchen zudem ein Verständnis von Elite, bei dem neben dem Karrieregedanken der Gedanke des Dienens und des Respekts eine maßgebliche Rolle spielt. Das gilt zumal für Machteliten, deren Spitzen nicht umsonst „Minister“ (von lateinisch ministrare = dienen) heißen. Plakativ könnte man sagen: Elite heißt sich Verdient-Machen durch „öffentlichen Dienst“, durch vorbildliches Dienen am Gemeinwohl, heißt, „Treuhänder“ der Allgemeinheit (Gerd-Klaus Kaltenbrunner) zu sein, heißt, Respekt zu haben vor anderen, die begründet anders urteilen. Elite zu sein heißt zudem, charakterlich integer zu sein. Elite zu sein bedeutet im Sinne Ortega y Gassets, von sich selbst mehr zu fordern als von den anderen. Elite zu sein bedeutet schließlich Sozialpflichtigkeit des eigenen Handelns und des eigenen Status. Nicht umsonst steht in Art. 14, Abs. 2 des Grundgesetzes: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Dass zehn Prozent der Deutschen 50 Prozent der Steuern zahlen, ist insofern korrekt.

Stellt sich nur die Frage: Wie solche Eliten rekrutieren? Elite in dem oben skizzierten umfassenden Sinn zu sein kann man nicht planen, man kann es freilich fördern. Das wache Auge von Lehrern an Schulen und Hochschulen ist hier ebenso gefordert wie bei Wirtschaftskapitänen, Personalchefs, Spitzen der Staatsverwaltung, Publizisten und Parteiführern. Wenn diese Leute in vielerlei Hinsicht auch noch selbst Vorbilder sind, wird es ihnen sogar gelingen, angehende Spitzentalente an sich zu binden. Rekrutierung durch Protektion aber wäre der falsche Weg, denn eine Elite, die unter sich bleiben will, ist bald weg. Und abwegig wäre es auch, bei der Gewinnung von Führungskräften der uralten Praxis zu folgen: First class men hire first class men, second class men hire third class men, third class men fire first class men. Solches Handeln würde zu einer intellektuellen Verspießerung führen – und das in einer Zeit, die ohnehin eine ernüchternd ungeistige ist.

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