01.05.2008

Meine Chatfreunde und ich

Kommentar von Mark Vernon

Die Anzahl „geaddeter Kontakte“ im Web gaukelt uns vor, wir hätten jede Menge Freunde. Tatsächlich aber sind Social-Networking-Webseiten für die Suche nach echten Freundschaften gänzlich unbrauchbar. Von Mark Vernon

Kürzlich erzählte mir ein Freund, er würde sich mit einer Fremden treffen. Natürlich sei ihm die Dame nicht wirklich „fremd“, fügte er hinzu: stunden- und tagelang hätten sie miteinander gechattet, Bilder ausgetauscht und über Gott und die Welt gemailt. Ihre SMS, ihre Bilder und ihr eigener Blog deuteten darauf hin, dass sie womöglich eine nette Person sein könnte – vielleicht sogar eine liebenswerte. Dennoch, mein Freund war unsicher und auch ein wenig ängstlich.

Jemanden im „realen“ Leben zu treffen, hat im Zeitalter von Online-Singlebörsen und unzähligen Chaträumen eine völlig neue Bedeutung erlangt. Aber im Gegensatz zu normalen Prozessen sozialer Interaktion findet nunmehr ein persönliches Treffen erst statt, nachdem man sich zu kennen glaubt. Aber kann man den anderen wirklich kennen, ohne ihn getroffen zu haben? Viele Unsicherheiten und Ängste haben hier ihren Ursprung. Doch dieses Problem lässt sich online nicht lösen. Da mag der Chat noch so authentisch gewirkt haben: Kommunikation über das Internet ist für die wichtigsten Aspekte des Kennenlernens blind und taub. Instant Messages oder Blogs erlauben uns weder, den Autor zu sehen noch ihn zu hören.

Einer von Dr. Davic Holmes von der Manchester Metropolitan University durchgeführten Studie zufolge sind bis zu 40 Prozent der Informationen, die etwa über die Website MySpace verbreitet werden, künstlich, vorgefertigt und ohne jeden Wahrheitsgehalt. Und natürlich ist unklar, auf welche 40 Prozent dies zutrifft. Holmes ist der Ansicht, dass viele Menschen sehr darunter leiden, wenn plötzlich die Internet-Bekanntschaft, der man tags zuvor noch das Herz ausgeschüttet hatte, sich plötzlich als „Fake“ entpuppt oder völlig von der Bildfläche verschwindet – oder sogar niemals wirklich existierte. Holmes glaubt, dass viele der sogenannten Online-Stalker, die immer wieder durch die Medien geistern, eben gerade aufgrund solcher Erfahrungen erst zu Stalkern geworden sind. Skeptiker würden ihm entgegnen, dass selbst bei Rangeleien auf dem Kinderspielplatz immer einige Kinder Verletzungen davontragen. Aber wirklich in dieser Häufigkeit?

Die meisten Menschen sind mit der wahllosen Gleichgültigkeit des Internets vertraut. Worte sind hier mehr Schall und Rauch als anderswo, und Fehlkommunikation ist an der Tagesordnung. Fast jeder von uns hat schon mal eine nicht an ihn gerichtete beleidigende E-Mail erhalten (oder verschickt). Und angesichts der Tatsache, dass heutzutage sogar Kündigungen, persönliche Absagen – aus Effizienzgründen – nicht mehr persönlich ausgesprochen, sondern per E-Mail mitgeteilt werden, sollten wir nicht verwundert sein, wenn unser aller Leben ein bisschen weniger menschlich wird.

Schlimmer wird das Ganze nicht zuletzt auch dadurch, dass es immer schwieriger wird, den Absender von E-Mails zu identifizieren. Horden von Hackern durchstreifen die Social-Networking-Seiten, um Daten auszuspähen, zu sammeln, um dann E-Mails mit Viren zu verschicken, die die heimischen Computer vollends zu Objekten der Ausspähung machen.

Ein viel grundlegenderes Problem ist aber die Veränderung dessen, was im Allgemeinen unter „Freundschaft“ verstanden wird. Diese Entwicklung hängt tatsächlich unmittelbar mit dem Medium Internet zusammen. Gestatten Sie mir hierzu folgenden Exkurs: Zu Beginn des 16. Jahrhunderts, mithin am Vorabend der Moderne, zeigte Kopernikus einigen seiner Freunde ein kleines Notizbuch. In diesem hatte er seine Erklärungen dafür, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums sei, sondern vielmehr um die Sonne kreise, niedergeschrieben. Das sich aus diesen Überlegungen ergebende heliozentrische Weltbild löste eine Revolution des Denkens aus – für die dann später Galilei bekanntermaßen einen hohen Preis zahlen musste. Heute gelten solche Veränderungen im Denken als Symbole des wissenschaftlichen Fortschritts. Zu Recht. Aber das Ganze hat auch noch eine andere Seite. Nach Kopernikus hatte unser Heimatplanet seine bedeutende Position im Universum endgültig eingebüßt und wanderte scheinbar ziellos durch das All. Diese Freiheit der Erde, sich im Raum zu bewegen, kann als Modell unserer eigenen Befreiung verstanden werden. Denn das Gebundensein an ein und denselben Ort erzeugt Unfreiheit, und das Verfolgenmüssen eines vorgezeichneten Lebensweges ist zutiefst undemokratisch. Die Fähigkeit, sich verändern zu können, gilt als Synonym von Freiheit und die Möglichkeit, freie Entscheidungen zu treffen, als essenziell menschlich.

Nun aber zurück zum Internet: In der Unendlichkeit des virtuellen Raums werden kontinuierlich neue Dinge als „befreiend“ zelebriert – unabhängig davon, dass wir den Gehalt der meisten dieser Informationen nicht eindeutig bestimmen können. Das moderne Zelebrieren der Dezentriertheit ist letztendlich eine post-kopernikanische Reaktion. Sie wäre vor der Revolution des Denkens undenkbar gewesen.

Was das alles mit Online-Freundschaften zu tun hat? Nun, es ist in diesem Zusammenhang auffällig, wie große moderne Schriftsteller sich dem Thema Freundschaft annahmen und ihre engsten Freunde beschrieben. Typischerweise galt ihnen Freundschaft als Zuflucht vor der allgegenwärtigen Entfremdung. Freundschaft wurde zum Trost, zur Rettung vor der Isolation. „Wenn befreundete Wege zusammenlaufen, da sieht die ganze Welt für eine Stunde wie Heimat aus“, schrieb einst Hermann Hesse, und Albert Camus bewertete es als falsch, alleine glücklich sein zu wollen. „Ich hasse die Zweckentfremdung und Prostitution des Begriffs ,Freundschaft‘, mit der modische und weltläufige Allianzen suggeriert werden“, kritisierte der US-amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson die Oberflächlichkeit des reinen Networkings.

Das ist es, was die heutige vernetzte Generation meiner Meinung nach wieder ganz neu lernen muss – und höchstwahrscheinlich auch wieder lernen wird. Wenn wir im virtuellen Universum nicht so verloren gehen wollen wie Major Tom, dann müssen wir verstehen, dass echte Freundschaft nicht innerhalb, sondern ausschließlich außerhalb dieses unendlichen und formlosen Mediums entstehen kann – in der engen Intimität des unmittelbaren zwischenmenschlichen Austauschs. Wir können natürlich freundlich sein – auch im Internet. Wie der nette Smalltalk im Laden um die Ecke oder das Lächeln im Bus macht Höflichkeit reale und virtuelle Welten zu weitaus angenehmeren Orten. Dennoch: Es gibt einen großen Unterschied zwischen Freundlichkeit und Freundschaft, genauso wie es einen großen Unterschied zwischen Kooperativität und Zuneigung gibt. Zu häufig wird dieser Unterschied vergessen – zu unser aller Nachteil.

Empirische Fakten bestätigen, dass diese Gedanken alles andere als übertrieben sind. So wies kürzlich das britische Forschungsinstitut YouGov in einem Bericht darauf hin, dass wir heute Freunde schneller verlören als jemals zuvor. In London, so die Studie, ließe sich beobachten, dass bei mehr als zwei Fünfteln der Menschen der Kontakt zu den engsten Freunden immer sporadischer werde. Zwar trägt der urbane Lebens- und Arbeitsstil sicherlich dazu bei, dass Menschen sich große Bekanntenkreise erschließen. Doch diese Bekanntschaften sind eher flüchtiger Natur; wenn es hart auf hart kommt und persönlich wird, ist von solchen „Bindungen“ eher wenig zu erwarten.

Auch jenseits des Atlantiks werden ähnliche Phänomene beobachtet. So ergab eine Untersuchung der American Sociological Review, dass der Durchschnittsamerikaner heutzutage nicht mehr als zwei enge Freunde habe; ein Viertel von ihnen hätte sogar überhaupt keine.1 Die Anzahl derer, die von sich sagen, sie hätten niemanden, mit dem sie über wichtige Themen sprechen könnten, hat sich seit der Jahrtausendwende deutlich erhöht – mithin genau in dem Zeitraum, in dem sich das Internet als elementarer Bestandteil des normalen Lebens etabliert hat. In dieselbe Richtung gehen die von zahlreichen Kinderschutzorganisationen gehegten Befürchtungen, dass jungen Leuten immer mehr die Fähigkeit abhanden käme, soziale Bindungen einzugehen. Die Soziologin Sheery Turkle vertritt in ihrem Buch The Second Self: Computers and the Human Spirit die Ansicht, dass das Leben im Cyberspace die menschliche Psyche beeinflusse und dazu beitrage, soziale Fähigkeiten zu verlernen.2 Wir sind immer weniger gut in der Lage, allein zu sein oder mit unseren Gefühlen angemessen umzugehen. Stattdessen, so argumentiert sie, entwickeln wir Intimitäten über Maschinen und geraten so in neue Abhängigkeiten. Das persönliche Gespräch wird immer mehr zum Austausch von Klatschgeschichten, Fotografien und Profilen; der Austausch über persönliche Einstellungen und gesellschaftliche Engagements verliert beständig an Bedeutung.

Obwohl uns das Internet zahlreiche Informationskanäle erschließt, zeigt es uns nicht, wie wir diese Informationen mit Sinn erfüllen und mit der Komplexität des Lebens umzugehen haben – wir wissen nicht einmal, die Informationen selbst zu bewerten. All dies hält uns davon ab, über die Welt sowie über uns selbst zu reflektieren und überlegt auf unsere Umwelt zu reagieren. Meiner Meinung nach liegt das Hauptproblem darin, dass wir, anstatt und unseren eigenen Reim auf Dinge zu machen und eigene autonome Gedanken zu entwickeln, uns viel zu häufig im Internet auf die Suche nach Informationen und nach Bedeutung machen.

Selbstverständlich möchte ich nicht das Internet abschaffen: es gehört heute zu unserem Privatleben genauso dazu wie das Telefon oder ein Glas Bier. Die Gefahren, die vom Cyberspace ausgehen, sollten uns aber bewusst sein und uns dazu bringen, ein wenig bedachter und reflektierter mit Freundschaften umzugehen. Für mich bedeutet Freundschaft, den anderen kennen zu und von diesem gekannt werden zu wollen. Deshalb ist für Freundschaft der direkte persönliche Kontakt unabdingbar. Sie schließt auch Loyalität, gegenseitiges Vertrauen und die Bereitschaft, sich für den anderen einzusetzen und Zeit zu nehmen, ein. In einer solchen Freundschaft kann das Internet eine unterstützende Funktion spielen. Es hingegen als Medium zu verstehen, um solche Freundschaften aufzubauen und zu entwickeln, führt in den allermeisten Fällen zu Frustration und Isolation.

Mit Sicherheit haben wir es dem Internet zu verdanken, dass wir alle heute über größere Netzwerke verfügen. Dennoch sollten wir eines nicht vergessen: Nichts ist für menschliche Beziehungen schädlicher, als wenn wir sie für etwas halten, was sie nicht sind. Für Freundschaften mag dies insbesondere gelten, da wir selten abstrakt über sie nachdenken. Aber wie sagte schon Aristoteles: „Der Wunsch nach Freundschaft entsteht rasch, die Freundschaft aber nicht.“

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