01.05.2008

Wird Kenia zu einem zweiten Ruanda?

Kommentar von Barbara Off

Massenvertreibungen, ethnische Säuberung, Völkermord? Kenia ist kein zweites Ruanda.

Am 30. Dezember 2007 wurde der regierende Präsident Mwai Kibaki zum Sieger der Wahlen in Kenia erklärt. Internationale Wahlbeobachter zweifelten die Wahlergebnisse an. Sein Herausforderer Raila Odinga bezichtigte Kibaki des zivilen Putsches und rief zu Protesten auf. Die landesweite Anspannung entlud sich in gewalttätigen Ausschreitungen zwischen Anhängern Kibakis und Odingas. Der Volksgruppe der Kikuyu, der Kibaki angehört, schlug der Hass der Luo, der Volksgruppe Odingas, entgegen. Insgesamt mussten an die 1000 Menschen ihr Leben lassen, 300.000 wurden vertrieben.

Die Weltöffentlichkeit war konsterniert. Kenia wurde seit Jahren für seine stabile Demokratie und sein vorbildliches Wirtschaftswachstum gelobt. In der Entwicklungsszene galt es als eines der Vorzeigeländer Afrikas. Die ethnische Gewalt kam für viele aus heiterem Himmel. In der internationalen Presse wurde dennoch schnell von ethnischen Säuberungen berichtet. Von einem neuen Völkermord war andernorts die Rede. Bei Spiegel-Online hieß es: „Es sind Szenen, die das Schlimmste befürchten lassen und an den Völkermord in Ruanda erinnern, wo innerhalb weniger Wochen Hunderttausende von Menschen massakriert worden waren. Damals war es der Krieg der Hutu gegen die Tutsi. Auch die Toten von Nairobi scheinen auf Stammesauseinandersetzungen zurückzugehen.“1

Kibaki brachte nach dem Ausbruch der Gewalt als Erster den Begriff Genozid ins Spiel. Frank Furedi, Professor für Soziologie an der Universität Kent, macht in diesem Zusammenhang auf die Wechselwirkung zwischen den Ereignissen in Kenia und dem Westen aufmerksam: „Viele afrikanische Politiker haben gelernt, die Sprache der westlichen Medien und Nicht-Regierungsorganisationen zu sprechen, und versuchen jetzt, diese Sprache zu ihrem Vorteil in Konfliktsituationen zu nutzen.“2 Kibakis Wahlkampfteam wurde von dem PR-Strategen Marcus Courage beraten, der 2005 Bob Geldofs „Live 8 Kampagne“ gegen Armut unterstützte.

Die internationalen Medien zeigten indes kaum Interesse, die Hintergründe der Geschehnisse zu beleuchten. In den Boulevardzeitungen wurden stattdessen Stereotypen aufgefahren: gefälschte Wahlen, Volksgruppenhass, Nachrichtensperre, Macheten, Straßensperren und brennende Häuser. Doch ereignete sich wirklich ein Völkermord? Ein solches Schubladendenken ist nicht nur falsch, sondern auch unverantwortlich, weil so Konflikte weiter angestachelt werden.

Gewalttätige Ausschreitungen im Zusammenhang mit Wahlen in Kenia sind bedauerlich, aber im Grunde nichts Neues. Bereits 1992, 1997, 2002 und beim Verfassungsreferendum 2005 kam es zu Übergriffen. Zwischen 1992 und 1997 kamen mehr als 2000 Kenianer ums Leben, über 300.000 wurden vertrieben. Die Politisierung ethnischer Identität prägt Kenia bereits seit der Erlangung der Unabhängigkeit im Jahre 1963. Nach dem Ende der britischen Kolonialherrschaft herrschte eine landesweite Aufbruchstimmung. Jomo Kenyatta, Unabhängigkeitskämpfer und noch heute verehrter Gründungsvater und erster Präsident Kenias, rief zu einer gemeinsamen Anstrengung für kenianische Autarkie und Entwicklung auf. Seine Politik der Versöhnung zwischen Afrikanern und weißen Siedlern spaltete jedoch die politische Elite. Radikale, u.a. auch Oginga Odinga, der Vater Raila Odingas und damals Vizepräsident, wollten eine sozialistischere Staatsstruktur. Die Spannungen zwischen Kenyatta, einem Kikuyu, und Odinga, einem Luo, führten schließlich zum Rückzug Odingas in die Opposition. Die Entwicklungen in Kenia wurden deutlich geprägt von den internationalen Rivalitäten des Kalten Krieges.

Indes pflegte Kenyatta einen zusehends autoritären Regierungsstil: Wichtige Positionen in Regierung und Wirtschaft besetzte er im Laufe seiner Regierungszeit mit loyalen Anhängern seiner Volksgruppe. Das Land der weißen Siedler im Rift Valley, dem „Brotkorb“ Kenias und ursprünglich Stammesgebiet der Luo, wurde zu großen Teilen an die Kikuyu verteilt. Kenyattas Nachfolger, Daniel Arap Moi, führte das nepotistische Herrschaftsprinzip zum Vorteil der Kikuyu weiter. 2002 sollte der Wandel stattfinden: Im Rahmen der Rainbow Coalition – eines ethnienübergreifenden Zusammenschlusses von Oppositionsparteien – schafften es Mwai Kibaki und Raila Odinga, Arap Moi abzulösen. Doch bald waren Koalitionsvereinbarungen und eine Machtbeteiligung Odingas vergessen. Kibaki besetzte Schlüsselstellen für seinen Machterhalt mit Anhängern seiner Volksgruppe. Die Einschätzung, dass Luo und andere Volksgruppen über Jahre hinweg von den Kikuyu systematisch von der Macht ferngehalten wurden, ist nahe liegend.

Im Wahlkampf 2007 rief Odinga mit den Schlagworten „Wandel“ und „soziale Gerechtigkeit“ zum Widerstand auf. Damit sprach er all diejenigen an, die nicht von Kenias Wirtschaftswachstum profitierten. Gut geht es in Kenia vor allem einer kleinen, wohlhabenden Mittelschicht, hauptsächlich Kikuyu. Auf der anderen Seite stehen die Verlierer: ethnisch betrachtet die Volksgruppe der Luo, strukturell gesehen vor allem eine große Gruppe arbeitsloser junger Menschen. Die Gewalt, die sich nach den Wahlen hauptsächlich in den Slums von Nairobi und im Rift Valley entlud, war demnach nur vordergründig ethnisch bedingt. Im Grunde genommen geht es um Ressourcen und Land, um einen lang schwelenden Verteilungskampf, um soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit. Somit ist die ethnische Polarisierung der kenianischen Gesellschaft ein Symptom sozioökonomischer Ungerechtigkeit entlang ethnischer Linien.

Kibaki und Odinga trieben die Politisierung ethnischer Identität auf die Spitze. Sie instrumentalisierten ihre jeweiligen Bevölkerungsgruppen für ihr machtpolitisches Streben. Die offensichtliche Manipulation der Wahlergebnisse hat das Volk zutiefst getroffen, was zu spontanen und lokalen Gewaltausbrüchen führte. Zum Großteil war die Gewalt jedoch von den politischen Führern hemmungslos orchestriert worden. Vor den Wahlen war Ethnizität ein Thema. Seit den Wahlen ist es ein Problem. Wie der frühere Beauftragte der kenianischen Regierung für Korruptionsbekämpfung, John Githongo, in einem Interview mit der BBC sagte: „Politik verursachte die Gewalt, und Gewalt hat die politisierte Ethnizität verstärkt – aber die Politik kam zuerst.“3 Kenia muss sich nun diesem Problem stellen. Der kenianische Anwalt und politische Kommentator Waiganjo Kamotho meint dazu: „Die Krise kann eine Chance sein, weil sie uns als Land zwingt, Probleme zu lösen, die wir und unsere Regierung nicht als Prioritäten ansehen wollten.“4 Vor diesem Hintergrund hilft es wenig, wenn Vergleiche mit Ruanda kolportiert werden. Seit dem Ende des Kalten Krieges tendiert die westliche Welt dazu, Konflikte ausschließlich im Rahmen einer Politik der Identität zu interpretieren, dabei die tiefer liegenden soziostrukturellen, wirtschaftlichen und machtpolitischen Ursachen zu ignorieren und die eigene Mitwirkung gänzlich auszublenden. Assoziationen zu Ruanda und den Balkankriegen werden bemüht. Begriffe wie Genozid und ethnische Säuberung sind zu Standard-Erklärungsmustern von Konflikten geworden.

Die vereinfachte und zugleich überzeichnete Berichterstattung der Ereignisse in Kenia ist nicht nur ein weiteres Beispiel für die unfundierte und übertriebene Schwarzmalerei. Sie stellt auch ein ernst zu nehmendes Hemmnis für die Überwindung der Krise dar. Folgt man den Erklärungen der westlichen Presse, dann sind die gewalttätigen Auseinandersetzungen ausschließlich auf ethnisch motivierten Hass zurückzuführen. Unter solchen Bedingungen sind Annäherung, Kompromiss, ganz zu schweigen von Zusammenarbeit, weitgehend ausgeschlossen. Im Fall Kenia liegt jedoch ein politisches Problem, eine strukturelle Ungerechtigkeit vor. Reformen der Landverteilung und der Verfassung könnten in Angriff genommen werden. Eine Lösung des Konflikts steht somit in Aussicht.

In jeglicher Hinsicht ist es für die Zukunft Kenias entscheidend, die politische Situation und die Ursachen der Gewalt zu analysieren und zu verstehen – oder, wie es Julie Hearn, Dozentin für Politik und Entwicklung an der Universität Lancaster, ausdrückt, den „rassistischen Diskurs der ‚Afrikanischen Gewalt‘, der sich hinter der sensationalistischen Berichterstattung vieler Medien versteckt, infrage zu stellen“.5

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