01.05.2008

Deutschlands neue Rolle im Nahostkonflikt

Analyse von Mick Hume

Wie die Bundeskanzlerin das Gedenken an den Holocaust nutzt, den deutschen Einfluss im Nahen Osten zu stärken.

Der Besuch der Bundeskanzlerin Angela Merkel in Israel wurde als bedeutsame Wende im deutsch-israelischen Verhältnis bewertet. 60 Jahre nach Gründung des Staates Israel im Gefolge des nationalsozialistischen Massenmordes an den europäischen Juden wurde Deutschland im März 2008 in Jerusalem als Israels neuer bester Freund begrüßt.

Als die israelische Regierung im Jahre 1952 nach langen und schwierigen Verhandlungen das Reparationsabkommen mit der Adenauer-Regierung unterzeichnete, gab es Tumulte vor der Knesset. Viele Juden lehnten es empört ab, von Deutschen Geld anzunehmen, denn das hieße, ihnen ihre Verbrechen zu verzeihen. Doch als die Kanzlerin vor den gewählten Vertretern im israelischen Parlament jetzt über die „historische Verantwortung“ Deutschlands für Israel sprach und gelobte, die Sicherheit des israelischen Staates sei für sie „nicht verhandelbar“, wurde sie mit stehenden Ovationen gefeiert.

Auch die ausländischen Reaktionen auf Merkels Besuch waren Ausdruck eines historischen Meinungsumschwungs. Früher wäre Merkels proisraelische Haltung als für den Regierungschef eines westlichen Landes absolut normal betrachtet worden. Doch die Kanzlerin wurde in vielen Ländern Europas dafür kritisiert, keine Vertreter der Palästinenser gesprochen zu haben, und sogar der Parteinahme für „Kriegsverbrecher“ bezichtigt.

Die kritischen Reaktionen auf Merkels Rede vor der Knesset sind Ausdruck der gewandelten Haltung Europas und Amerikas gegenüber Israel. Der Kampf für die Gründung des Staates Israel in den 40er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts galt in Großbritannien als Bedrohung für das Empire, doch ab den 60er-Jahren wurde Israel zum engsten Verbündeten der USA und des Westens im Nahen Osten. Der jüdische Staat wurde von Washington aufgerüstet, um als Gendarm gegen den arabischen Nationalismus und gegen sowjetische Einflüsse in der Region zu fungieren – eine Rolle, der Israel mit seinen siegreichen Kriegen von 1967 und 1973 entsprach.

Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 90er-Jahre bestand aus Sicht der westlichen Länder nicht mehr die gleiche strategische Notwendigkeit, Israel zu unterstützen. Und gleichzeitig strebte man an, engere Beziehungen mit den arabischen Ländern aufzubauen. Zeitgleich mit dieser strategischen Neuorientierung im Nahen Osten erfolgte in der durch das Ende der Blockkonfrontation ausgelösten Phase der Ungewissheit ein ausgeprägter Kulturwandel im Westen. Ohne die Sowjetunion als gemeinsamen Feind waren Europa und Amerika unsicher über ihre eigene Rolle in der Welt. Die Israelis, die man zuvor als unbeugsame Verfechter westlicher Werte in einem feindlichen Umfeld geschätzt hatte, galten in einer Zeit, in der wenige noch zu sagen wussten, worin diese Werte bestehen, zunehmend als antiquierter Klotz am Bein. Je mehr der Westen das Vertrauen in sich selbst verlor, desto mehr kehrte man Israel den Rücken zu.

Gleichzeitig nahm die Opferkultur vom geistigen Leben in den desorientierten westlichen Gesellschaften Besitz. Opfer zu sein, galt fortan als hohe Tugend, und wo einst noch die Juden als primäres Opfer der Weltpolitik galten, sah man sie jetzt als Unterdrücker und die Palästinenser dagegen als Opfer par excellence.

In den letzten zehn Jahren hat vor allem die EU mit wiederholten kritischen Stellungnahmen zu Israel und finanzieller wie politischer Unterstützung für die Palästinenser diese neue Haltung gegenüber dem Nahen Osten kultiviert. Die jüngsten Probleme im Umgang mit der Hamas in Gaza haben diesen Trend zwar gebremst, aber nicht beendet. In ihrer Rede vor der Knesset wies Merkel darauf hin, Umfragen zufolge meine eine deutliche Mehrheit der Befragten in Europa, Israel sei eine größere Gefahr für den Weltfrieden als etwa der Iran.

Selbst die USA, die Israel zwar nach wie vor am stärksten verbunden sind, distanzieren sich zusehends vom jüdischen Staat. Viele Anhänger der Palästinenser behaupten gerne, George W. Bush sei der israelfreundlichste Präsident überhaupt. Das ist ein Irrtum, denn Bush ist der erste US-Präsident, der sich uneingeschränkt für die Gründung eines palästinensischen Staates ausgesprochen hat und Israel bedrängt, den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten einzustellen.

Die geschilderten Umbrüche der westlichen Nahostpolitik in den vergangenen 60 Jahren wurden nicht durch die Wünsche oder Interessen der Menschen im Nahen Osten bestimmt, sondern durch die strategischen Anliegen westlicher Regierungen. Zwar scheint sich die Haltung Merkels aktuell von der Position anderer europäischer Regierungschefs deutlich abzuheben. Doch letztlich tut sie genau das Gleiche: Ihre proisraelische Politik gilt zurzeit als die beste Möglichkeit, den deutschen Einfluss im Nahen Osten zu stärken und Berlin auf der internationalen Bühne eine moralische Mission zu geben. Indem es die durch die Erbschaft des Holocaust bedingten Barrieren im deutsch-israelischen Verhältnis überwindet, macht Deutschland einen weiteren Schritt in der „Normalisierung“ seiner Weltpolitik.

Aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit war das deutsche Verhältnis zu Israel bislang eher von sensibler Zurückhaltung geprägt. Merkel ging in ihrer Rede sehr viel weiter als ihre Amtsvorgänger, indem sie die Verteidigung der Sicherheit des israelischen Staates zur besonderen Verpflichtung Deutschlands und einer Art Wiedergutmachung für den Holocaust erklärte. „Die Schoa erfüllt uns Deutsche mit Scham“, erklärte sie vor der Knesset. „Ich verneige mich vor den Opfern. Ich verneige mich vor den Überlebenden.“

Während sie sich in Scham verneigte, baute Merkel aber gleichzeitig eine Plattform für Deutschland im Nahen Osten. Seit Jahrzehnten galt die Erbschaft des Nationalsozialismus und der Ermordung der europäischen Juden als moralisches Hindernis für eine aktivere deutsche Weltpolitik. Merkel hat den Holocaust nun als moralische Verpflichtung interpretiert, die Deutschland gebiete, Israel zu verteidigen – und das insbesondere gegen den Iran. Merkel ist auch die erste deutsche Kanzlerin, unter deren Regierung deutsches Militär im Nahen Osten stationiert wurde: Seit Oktober 2006 fahren deutsche Marineeinheiten gemeinsam mit UN-Verbänden Patrouille vor der libanesischen Küste. Für die Zukunft ist mehr Engagement dieser Art zu erwarten.

Doch der Bundeskanzlerin geht es dabei primär um die Förderung deutscher Interessen. Sie ist nicht gegen die Palästinenser. Obgleich sie während ihres Staatsbesuchs in Israel keine Gespräche mit palästinensischen Führern führte, machte sie ihre Unterstützung für eine Zweistaatenlösung deutlich und wird demnächst eine große Friedenskonferenz in Deutschland veranstalten, um die Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates voranzubringen. Durch ein engeres Verhältnis zu Israel soll Deutschland in die Lage versetzt werden, stärkeren Einfluss auf diese Entwicklungen zu nehmen – insbesondere, da die USA durch das Debakel im Irakkrieg ihren Einfluss im Nahen Osten weitgehend eingebüßt haben.

Auf diesem Hintergrund erscheint es wenig sinnvoll, Merkel vorzuhalten, sie sei zu pro-israelisch und solle den Anliegen der Palästinenser mehr Gewicht geben, wie es viele ihrer Kritiker tun. Das Problem ist ein anderes. Ob Deutschland, Amerika, Großbritannien, Frankreich oder sonst eine internationale Macht im Nahen Osten aufseiten der Palästinenser oder der Israelis eingreifen, das Ergebnis ist letztlich gleich: Jede Einmischung von außen macht die Lage schlimmer als sie schon ist. Jede externe Intervention verstetigt und internationalisiert die bestehenden Spannungen, und sie entzieht den Völkern der Region die Möglichkeit, ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. So schwierig die Lage auch ist, die Israelis, Palästinenser und ihre Nachbarn sind die Einzigen, die eine Lösung ihrer Konflikte finden werden und müssen.

Ob die Einflussnahme im Namen Israels oder Palästinas oder beider stattfindet, macht keinen Unterschied. Sie verschlechtert die Chancen für Frieden in der Region und vergrößert die Ohnmacht der Menschen vor Ort. Das ist die Lehre, nicht nur der 60 Jahre seit der Gründung Israels, sondern der gesamten bald 200 Jahre westlicher politischer, wirtschaftlicher und militärischer Einmischung im Nahen Osten. Deutschlands moralische Mission wird da keine Ausnahme machen.

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