01.05.2008

„Gegen die Erosion der Grundrechte muss Widerstand geleistet werden“

Interview mit Gerhart Baum

Der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum kritisiert die heutige Antiterrorpolitik dafür, dass sie Schritt für Schritt rechtsstaatliche Prinzipien untergräbt.

Herr Baum, Sie sagten einmal, die Sicherheitspolitik in der RAF-Ära sei „bis an die Grenzen des Rechtsstaats“ gegangen, habe aber die freiheitliche Substanz unserer Gesellschaft nicht angetastet. Was ist der Unterschied zur aktuellen Antiterrorpolitik?

Zwischen der damaligen Reaktion des Staats auf den Terror der RAF und der heutigen Sicherheitspolitik gibt es Parallelen. Damals wie heute bestimmt ein mentaler Ausnahmezustand die öffentliche Politik. Bereits in der RAF-Ära war dieses Denken in den Kategorien des „Notstandes“ sehr ausgeprägt. Das führte dazu, dass der Staat auf die terroristische Bedrohung nicht nur mit notwendigen Maßnahmen antwortete, sondern übermäßig reagierte. Heute deutet eine nicht abbrechende Serie von Urteilen des Bundesverfassungsgerichts darauf hin, dass es der Gesetzgeber systematisch darauf anlegt, tragende Grundsätze unserer Verfassung zu verletzen. Am Beispiel der Urteile zur Rasterfahndung, zu polizeirechtlichen Landesgesetzen, die auch die präventive Überwachung der Telekommunikation erlaubten, zum großen Lauschangriff, zum Luftsicherheitsgesetz und zu anderen Gesetzen sieht man, dass sich das Bundesverfassungsgericht regelrecht genötigt sieht, einer maßlosen Sicherheitspolitik immer wieder die Grenzen der Verfassung aufzuzeigen. Das soeben ergangene Urteil zur Online-Durchsuchung schließt mit einem neuen Grundrecht zum Schutz der Informationssysteme Lücken, die der Gesetzgeber nicht beachtet hat.

Sie haben moniert, dass Bundesinnenminister Schäuble die Einführung eines Kriegsrechts vorantreibe, das sich an den Kategorien der „Feindbekämpfung“ orientiert. Bildet sich ein „Feindrecht“ heraus?
Die aktuelle Debatte ist bestimmt von der falschen Vorstellung, wir befänden uns im Krieg. Das ist der amerikanische Weg, vor dem eindrücklich zu warnen ist. Die amerikanische Antiterrorpolitik wähnt sich im „Krieg gegen den Terrorismus“. Dagegen hält das Bundesverfassungsgericht daran fest, dass es sich auch beim Terrorismus um eine kriminelle Bedrohung handelt, der mit den vorhandenen Mitteln des Rechtsstaats begegnet werden kann. Andere meinen, man müsse, soweit man sich der Bekämpfung des terroristischen Feindes widme, die rechtsstaatlichen Fesseln abwerfen. Mit der Vorstellung, Not kenne kein Gebot, ordnet sich ein beträchtlicher Teil der gegenwärtigen Sicherheitspolitik einer gedanklichen Linie unter, nach welcher der Ausnahmezustand das Recht partiell außer Kraft setzt. Damit nähert man sich aber wieder Positionen an, die Carl Schmitt in den 30er-Jahren in die Politik eingebracht hat.

Schäuble hat das Buch Selbstbehauptung des Rechtsstaats gelobt. Der Staatsrechtler Otto Depenheuer nimmt darin explizit Bezug auf Carl Schmitt. Wird reaktionäres Gedankengut wieder salonfähig?
Es gibt heute jedenfalls Versuche, wichtige Grundsätze unserer freiheitlichen Verfassung zu umgehen. Das sieht man z.B. in der Debatte um den nominierten Verfassungsgerichtspräsidenten Dreier. Die Diskussion über die Legalisierung der Folter tastet die Vorstellung an, nach der die Menschenwürde als ein überragender Grundsatz unserer Verfassung keiner Abschwächung oder Relativierung unterliegen darf. Depenheuer und andere sind offen für relativierende Abwägungen der Menschenwürde, etwa bei der „Rettungsfolter“, oder dem „Rettungstotschlag“ beim Abschuss eines Passagierflugzeugs. Es ist also eine sehr bedeutsame Grundsatzdiskussion im Gange, und sie wird die zukünftige Entwicklung des Rechtsstaats entscheidend prägen.

Es heißt aber, der Terrorismus sprenge gewohnte Grenzen, weshalb es gerechtfertigt sei, Verfassungsgrundsätze zur Disposition zu stellen.
Dieser Meinung bin ich nicht. Jedenfalls würde die Einführung eines Feindrechts in unserem Land die Aufgabe des Rechtsstaats bedeuten. Diese Erkenntnis hat auch Bundesverfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier nachdrücklich betont. Wir dürfen nicht zulassen, dass wir unsere rechtsstaatlichen Prinzipien für bestimmte Personengruppen auf einmal nicht mehr gelten lassen. Und wir müssen uns überhaupt wehren gegen die zunehmenden Elemente des Überwachungsstaats. Noch nie haben staatliche Behörden über uns so viel gewusst wie heute. Indem man zudem auch das Trennungsgebot zwischen den Behörden aufweicht, tauschen diese personenbezogene Daten in einem Ausmaß aus, das ohne Beispiel ist. Das läuft auf die Herstellung von Persönlichkeitsprofilen hinaus, und dabei wird, ohne dass es dafür Sicherheitsnotwendigkeiten gibt, die Privatsphäre vielfach durchbrochen.

Sie sagen, die Experten hätten sich schon in der RAF-Ära ihre Politik vom Terrorismus diktieren lassen. Misst man dem aktuellen Terrorismus eine zu große Bedeutung zu?
Ja, eigentlich sollten wir aus den Erfahrungen der RAF-Zeit gelernt haben, dass es besser ist, den Terrorismus nicht zum Gesetzgeber aufzuwerten. Dadurch schwächen wir die Qualität unseres Rechtsstaats. Man sollte immer überlegen: Ist der Sicherheitsgewinn einer Maßnahme wirklich vorhanden? Steht er in einem angemessenen Verhältnis zu den damit verbundenen Freiheitsverlusten? Nur so lässt sich die verhängnisvolle Wirkung des Terrorismus begrenzen. Darüber sollte es eine gesellschaftliche Grundsatzdiskussion geben. Wir müssen Widerstand leisten gegen die permanente Erosion der Grundrechte. Einzelne sicherheitspolitische Maßnahmen mögen – für sich betrachtet – harmlos sein. Doch in Verbindung mit anderen Maßnahmen kommt es zu einer kontinuierlichen Einschränkung der Freiheitsräume des Bürgers, und die Zonen, in denen man sich unbeobachtet wähnen kann, werden immer kleiner.

Urteile des Bundesverfassungsgerichts stehen unter Beschuss vonseiten des Innenministers. Bahnt sich ein in der Bundesrepublik bislang ungekannter Konflikt zwischen Politik und Verfassungsgericht an?
Das Bedenkliche ist, dass der Innenminister die Urteile aus dem Blickwinkel heraus kritisiert, wonach sie ihm keine „freie Bahn“ bei der Bekämpfung der Kriminalität und des Terrors gewähren. Den gleichen Vorwurf hört man in der Diskussion über das Luftsicherheitsgesetz. Schäuble und Jung beschwören einen Quasi-Verteidigungsfall; sie wollen auf diese Weise den Abschuss von Passagierflugzeugen doch noch ermöglichen. Das läuft auf den Versuch hinaus, die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu umgehen. Wir haben es also mit einer ernsthaften Krise zwischen den Verfassungsorganen zu tun: Bundesregierung und Parlament scheinen in einem ständigen Konflikt mit dem Verfassungsgericht zu stehen. Zumindest handelt es sich um eine Krise zwischen Innenminister Schäuble, der ja auch Verfassungsminister ist, und dem Bundesverfassungsgericht.
Mit seinem von mir miterstrittenen Urteil zur Online-Durchsuchung und der Etablierung eines neuen Grundrechts zum „Computer-Schutz“ oder „IT-Schutz“ hat das Gericht Rechtsgeschichte geschrieben. Es fordert vom Gesetzgeber, Schutzlücken zu schließen. Das Urteil geht weit über den Sicherheitsbereich hinaus. Es betrifft ganz generell die persönlichen Daten in IT-Systemen, z.B. bei privaten System- und Softwareproduzenten.

Bisher war das Bundesverfassungsgericht die Institution, die auch in der Bevölkerung am höchsten angesehen war.
Das ist immer noch so.

Man fragt sich allerdings, ob es nicht doch einen Trend hin zur Aufweichung seiner die Freiheit der Bürger sichernden Autorität gibt. Diesen Eindruck gewinnt man auch angesichts der Interventionen von Juristen wie Otto Depenheuer, Josef Isensee oder Michael Pawlik. Sie laufen darauf hinaus, das Verfassungsgericht als „wirklichkeitsfremd“ anzuzweifeln.
Derartige Versuche, die tragenden Elemente unserer Verfassung zu relativieren, gibt es zwar, doch war ihnen bisher kein Erfolg beschieden. Man wird sich immer wieder mit Diskussionen auseinandersetzen müssen, die z.B. die Legitimierung der sogenannten „Rettungsfolter“ zum Gegenstand haben. Solchen Debatten wird unsere Verfassung aber standhalten. Das tragende Prinzip unseres Grundgesetzes, die Menschenwürde, das bewusst nach den fürchterlichen Erlebnissen des Krieges in unsere Verfassung eingeführt wurde, wird sich als sturmfest erweisen. Aufgrund unserer besonderen Erfahrungen mit einer schrecklichen Diktatur sind wir stärker als andere Völker auf unsere verfassungsrechtlichen Bindungen ausgerichtet. Allerdings müssen wir unsere Verfassung dadurch schützen, dass wir sie auch bewusst leben und verteidigen.

Unsere Verfassung wird ein „Fels in der Brandung“ bleiben?
Ich sehe keine Anhaltspunkte, hieran zu zweifeln, wenn wir bereit sind, uns dafür einzusetzen. Gegen die drohende Erosion der Grundrechte muss Widerstand geleistet werden.

Vielen Dank für das Gespräch.

jetzt nicht

Novo ist kostenlos. Unsere Arbeit kostet jedoch nicht nur Zeit, sondern auch Geld. Unterstützen Sie uns jetzt dauerhaft als Förderer oder mit einer Spende!