01.03.2008

Kosovo: Spielball der Großmächte

Kommentar von Philip Cunliffe

Vergessen Sie die schrillen Behauptungen über die irrationalen ethnischen Bestrebungen in dieser Region, die Serbien und das Kosovo in einen Konflikt treiben. Es ist die Einmischung des Auslands, die die Region entzweit.

Im Dezember 2007 erklärten die USA, Russland und die Europäische Union vor dem UN-Sicherheitsrat die Verhandlungen zwischen Serben und den Kosovo-Albanern über die Zukunft des Kosovo für gescheitert. Im Februar 2008 erklärte die Provinz ihre Unabhängigkeit, die mittlerweile von vielen Staaten anerkannt wurde. Was ist dran an den Gerüchten über einen bevorstehenden Krieg und die ethnische Rivalität vor Ort? Verstehen kann man diesen Konflikt nur, wenn man sich einiger Mythen entledigt, die ihn verschleiern.

Mythos 1: Ethnischer Antagonismus heizt den Konflikt an

In der Regel wird der Kosovo-Konflikt – wie auch die anderen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien – mit dem Verweis auf den Widerwillen der verschiedenen Ethnien, insbesondere der Serben, mit anderen ethnischen Gruppen zusammenzuleben oder voneinander regiert zu werden, erklärt. Tatsächlich aber hat sich die Krise im Kosovo nicht aufgrund ethnischer Konflikte, sondern aufgrund von Entscheidungen in Brüssel, New York, Washington und Moskau zugespitzt. Was diese verfahrene Situation zu einem Brennpunkt internationaler Spannungen macht, ist nicht historisch gewachsene Missgunst, sondern die Einmischung der Großmächte. Nicht ethnische Vorherrschaft, sondern das Prestige der Großmächte steht auf dem Spiel.
Um ihr ramponiertes Image in der Welt aufzupolieren, ist die US-Regierung in die Rolle des großen Onkels aus Übersee geschlüpft, der Freiheit und Demokratie verbreiten und einer kleinen Provinz zur Unabhängigkeit verhelfen wollte. Die EU war interessiert daran, ein Stück vom Friedensmissions- und Protektoratskuchen abzubekommen, den die UN in der Vergangenheit für sich allein beansprucht hatte. Nach der Errichtung eines Protektorats in Bosnien sah sie nun im Kosovo die nächste Chance, ihren Potemkin-Kolonialismus zu praktizieren – durch die Errichtung einer äußerlich intakten politischen Einheit, in deren Innerem sich EU-Bürokraten einnisten und alle Entscheidungsgewalt an sich ziehen. Der russische Präsident Vladimir Putin hatte Serbien mit der Androhung eines russischen Vetos im UN-Sicherheitsrat den Rücken gestärkt, sollte die Unabhängigkeit durch die UN geregelt werden. Nicht wegen slawischer Bruderschaft, sondern vielmehr, um sein eigenes Profil zu schärfen. Die Angelegenheit reicht inzwischen weit über einen regionalen Disput hinaus.

Mythos 2: Die Serben verweigern einen Kompromiss wegen der Bedeutung des Kosovo fin ihrer Geschichte

Nach Ansicht vieler westlicher Kommentatoren war das Kosovo Teil der emotionalen und historischen Integrität der Serben. Immer wieder wurde die serbische Haltung mit der Bindung an den Kosovo als der „Wiege der serbischen Zivilisation“ erklärt. Die Position Serbiens gegenüber dem Kosovo gilt als irrational. Es hieß, die Serben würden überreagieren, wenn sie gegen UN-Sanktionen Einspruch erheben, wenn sie sich der Nato-Bombardierung widersetzen und wenn sie darauf schimpfen, dass ihr Land durch ein internationales Diktat zerrissen werde. Rational wäre es aus dieser Perspektive, das eigene Land selbst zu zerstückeln, um den westlichen Mächten diese Peinlichkeit zu ersparen. Alles andere wäre ein Ausdruck emotionaler Unreife.
In Wahrheit ist die serbische Antwort auf den internationalen Druck in der Kosovo-Frage nicht auf altertümliche Geburtsrechte zurückzuführen, sondern auf etwas viel Tiefgründigeres: nämlich auf den universellen und keineswegs irrationalen Impuls, sich den Angriffen und Einmischungen lästiger Außenseiter zu widersetzen.

Mythos 3: Der Kosovo sucht Selbstbestimmung

Viele Menschen begrüßen die Unabhängigkeit des Kosovo. Aber die Bemühungen, sich von Serbien zu trennen, liefen nicht auf eine Unabhängigkeit hinaus, die diese Bezeichnung verdient. Hashim Thaci, Kosovos Premierminister und früherer Führer der kosovarischen Befreiungsarmee UCK, hatte bereits zuvor angekündigt, dass eine Unabhängigkeitserklärung in enger Abstimmung mit Washington und Brüssel erfolgen werde. Wirkliche Unabhängigkeit kann jedoch niemals von außen diktiert werden. Von Anfang an war klar, dass die EU eine Mission mit weitreichenden Überwachungsbefugnissen aufstellen werde. Die EU hat das letzte Wort, während die kosovarische Regierung die Verantwortung trägt. Das Kosovo ist somit der erste neu gegründete Staat seit 1945, dem bereits bei Geburt Hände und Füße gebunden sind.
Laut Simon Jenkins strebt Thaci die „luxuriöse Abhängigkeit der Post-Intervention“ an, die schon Bosnien-Herzegowina, Sierra Leone sowie die umkämpften Regime in Bagdad und Kabul genießen. Wäre diese wirklich luxuriös, wäre das vielleicht gar nicht so schlecht. Betrachtet man aber die Realität der von der UN kultivierten Abhängigkeit in diesen Staaten, so ist nicht davon auszugehen, dass ausgerechnet im Kosovo eine eigenständige Entwicklung einsetzen wird. Im Gegenteil: Obwohl die UN über Milliarden Dollar an Hilfsgeldern und eine Unmenge an diktatorischen und neokolonialen Befugnissen verfügt, hat sie es in den vergangenen Jahren nicht vermocht, die Integration im Kosovo zu fördern, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, Sicherheit zu gewährleisten und funktionierende Regierungsinstitutionen aufzubauen. Die letzten Wahlen im Kosovo verzeichneten die geringste Beteiligung seit 1999 – dies ist keineswegs ein Indiz für das Freiheitsstreben eines Volkes. Es scheint, als ob die Menschen sich mit ihrer Entmündigung abgefunden haben.
In Wahrheit hat die Führung des Kosovo seine Selbstbestimmung bereits im Jahr 1999 verkauft, als die UCK die NATO in den Konflikt mit Belgrad involvierte. Nachdem sie sich als schwach und machtlos dargestellt und um Hilfe gebettelt hatte, war klar, dass die internationale Gemeinschaft sie auch weiterhin so behandeln würde.

Mythos 4: Die Integration in die EU bietet die Lösung für die regionalen Probleme

Weit verbreitet ist nicht zuletzt die Meinung, die EU-Mitgliedschaft sei sowohl für Kosovo-Albaner als auch die Serben die beste Antwort. Beide Länder streben eifrig danach, Teil der kosmopolitischen Glückseligkeit der Europäischen Unionzu werden. Doch die Zuwendungen des himmlischen Europas lassen auf sich warten – auf Kosten des Lebens im Hier und Jetzt. Seit die Staaten des ehemaligen Jugoslawien den langwierigen EU-Beitrittsprozess begonnen haben, müssen sie den verschiedensten Richtlinien und Verordnungen aus Brüssel entsprechen, ohne dass ein konkreter Zeitplan oder ein definitiver Zeitpunkt für die Mitgliedschaft festgelegt worden wäre. Serbien erträgt also bereits all die Entbehrungen und Verpflichtungen einer EU-Mitgliedschaft, ohne in den Genuss der vermeintlichen Vorteile zu kommen. Wird das Kosovo zu einem EU-Protektorat, ist die Provinz automatisch Teil der EU: nicht als Mitglied, sondern als Brüssels Schützling, eigentlich unabhängig, aber zu unreif, um alleine existieren zu können. Dadurch, dass dem EU-Beitritt so große Bedeutung beigemessen wird, haben sich die politischen Führer sowohl des Kosovo als auch Serbiens einem Prozess ausgeliefert, der außerhalb ihrer Kontrolle liegt, dessen Vorankommen abhängig ist von allen möglichen unwägbaren internationalen Spannungen und von den Launen westlicher Politiker.

Das führt zu einer einzigen Schlussfolgerung: Das Problem sind nicht ethnische Gruppen, die für Unabhängigkeit kämpfen, sondern die fortgesetzte Abhängigkeit der Region; nicht zu viel Selbstbestimmung, sondern zu wenig. Als Spielzeug der Großmächte werden die Menschen im ehemaligen Jugoslawien niemals Unabhängigkeit und Selbstbestimmung erreichen können.

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