01.03.2008
Die Boulevardisierung der Wissenschaftsberichterstattung
Kommentar von Joe Kaplinsky
Politiker betrachten die „Wissenschaft“ oft als Abkürzung bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme. Dies sollte uns skeptisch stimmen. Von Joe Kaplinsky
Falls Sie in der nächsten Zeit einen Artikel lesen sollten, der mit den Worten „In einer heute veröffentlichten Studie …“ beginnt, ohne dann aber Kontext und Hintergrund dieser Studie genau zu beschreiben, können Sie den darauf folgenden Inhalt getrost ignorieren. Häufig handeln so beginnende Artikel von den neuesten Erkenntnissen der Krebs- oder Klimaforschung, oder aber auch von jedem anderen erdenklichen Thema wie etwa der Unwirksamkeit jährlicher Grippeimpfungen für ältere Menschen oder dem Unvermögen von Unternehmensvorständen, den Wert ihrer IT-Ausstattungen und Software zu würdigen. Auch die Annahme, dass Frauen „kooperativer“ seien als Männer, gehört zum schier unerschöpflichen Repertoire „kürzlich veröffentlichter Studien“.
So charmant dieses Genre aus der bunten Welt der wissenschaftlichen Neuigkeiten auch sein mag: Die uns ständig als topaktuell und revolutionär angepriesene Wissensflut trägt eher dazu bei, unser Verständnis der Welt zu vernebeln. Dies nicht nur wegen der so offensichtlichen wie ärgerlichen Oberflächlichkeit der Medien. Schwerer wiegt das Problem, dass unsere Kultur – und vor allem unsere Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft – die „Wissenschaft“ immer häufiger als ein Orakel betrachten: Es soll uns mit solchen „Wahrheiten“ versorgen, die sich sofort in Lösungen der Probleme unserer gesellschaftlichen Praxis überführen lassen müssen.
Ergebnisse wissenschaftlicher Bemühungen mutieren in diesem Kontext zu frei verfügbaren Wahrheitshäppchen. Ihre Kontextualisierung und Einordnung in größere Zusammenhänge bleibt aus. Daher ist es für gewöhnlich schwer zu beurteilen, ob es sich um eine bahnbrechende Neuentdeckung oder nur um eine aufgebauschte PR-Kampagne handelt. Der Ausgangspunkt solcher Geschichten ist häufig die Veröffentlichung eines Aufsatzes in einem Journal, das bei der Auswahl von Beiträgen nach der bekannten „Peer-Review“ verfährt. So legten kürzlich Zeitungsberichte ihren Lesern nahe, dass Frauen ihr Risiko, an Brustkrebs zu erkranken, verringern können, indem sie ihr Körpergewicht durch körperliche Ertüchtigung reduzieren. Dass dieser Zusammenhang in der den Artikeln zugrunde liegenden Studie gar nicht verifiziert wurde, blieb genauso unerwähnt wie die Art der Ursprungstextes: Es handelte sich lediglich um ein Papier, das auf einer Krebsforschungskonferenz kursierte.
Reporter bedienen sich heute nur allzu gerne am Vorrat „kürzlich veröffentlichter Studien“. Deshalb geben Forschungseinrichtungen bereitwillig derartige Pressemeldungen heraus. Sie kommen damit der Bequemlichkeit der Journalisten entgegen, ohne jedoch die wissenschaftliche Bedeutsamkeit einer Studie damit zu belegen. Denn wissenschaftliche Erkenntnisse stehen erst am Ende einer langen Entwicklung. Dieser Prozess umfasst Gegenrecherchen und weitere Tests. Dabei werden Ideen und Hypothesen entwickelt, die einer eingehenden Debatte standhalten müssen. Eine Studie, die eine wissenschaftliche „Revolution“ behauptet, mag zwar leichter in die Schlagzeilen kommen. Doch genau hier ist es von größter Wichtigkeit, ihren Kontext zu berücksichtigen. Einige der „Revolutionen“ werden sich als solche erweisen; doch die meisten eben nicht. Auch wenn Forscher die größte Sorgfalt an den Tag legen, ist es ihnen unmöglich, wissenschaftliche Verirrungen zu vermeiden, von denen es mehr gibt als die selten beschrittenen Königswege. Peer-Review-Journale werden immer wieder kompetente Arbeiten veröffentlichen, die sich letztlich auf einem Holzweg befinden.
Dem Trugschluss, dass die bloße Berichterstattung über Studienergebnisse wirkliches Wissen erzeugt, erliegen aber nicht nur die Medien. Wissenschaftliche Resultate werden darüber hinaus als einfache Botschaften im politischen Prozess missbraucht. Indem der Entwicklungspfad, der zu diesen Ergebnissen führt, häufig unter den Tisch fällt, entledigt man sich den Schwierigkeiten der politischen Argumentation und ersetzt diese durch eine technokratische, „faktenbasierte“ Politik: Diese verlangt von der Wissenschaft klare Antworten auf die Frage, was denn nun zu tun sei. Ein gutes Beispiel hierfür ist ein viel zitierter Essay der Wissenschaftshistorikerin Naomi Oreskes, die den wissenschaftlichen Konsens über den vom Menschen verursachten Klimawandel beurteilen sollte. Bei der Eingabe entsprechender Schlüsselbegriffe in eine Datenbank fand Oreskes heraus, dass keiner der 928 gelisteten „Abstracts“, die den Suchergebnissen vorangestellt waren, dem Klimakonsens widersprach. Eine oberflächlichere Herangehensweise lässt sich schwerlich vorstellen. Um den Beitrag eines Aufsatzes wirklich beurteilen zu können, muss er eingehend gelesen und mit Expertenwissen gewogen werden. Möglich ist, dass sogar nur eine einzelne ausführlich gelesene Studie den Schlüssel zum Verständnis einer Materie gibt, wenn sie im Lichte einer umfassenden Gesamtbetrachtung gesehenwird. In anderen Fällen zeigen zwar viele Studien in eine bestimmte Richtung, und doch verhindern unbeantwortete Fragen ein abschließendes Ergebnis.
Oreskes zog die Kritik vieler Klimaskeptiker auf sich. Diese griffen zwar die These vom „Klimakonsens“ an, stützten ihre Ergebnisse aber auf derselben Methodologie. Die Tatsache, dass nur wenige Kritiker Oreskes, wenn überhaupt, die absurde Oberflächlichkeit der Studie in den Blick nahmen, bestätigt, wie häufig heute wissenschaftliche Studien nur noch als symbolische Waffen im politischen Meinungskampf benutzt werden. Doch um wirklich zu validen Schlussfolgerungen zu gelangen, bedarf es einer ausgiebigen Lektüre und nicht nur der oft praktizierten Kaffeesatzleserei – auch wenn diese Schlussfolgerungen nicht immer in die Schablonen des gegenwärtigen Diskurses passen und uns nicht immer mit vorgefertigten Handlungsanweisungen versorgen.
Heute gibt es viele ausgezeichnete Wissenschaftsjournalisten, und der populärwissenschaftliche Essay, oft als eine Reflexion über einen weiter entwickelten Wissenschaftszweig, hat ebenfalls seinen Wert bewiesen. Es gibt überdies viele gute Popularisierungen praktizierender Wissenschaftler. Zu der produktiven Disziplin des Wissenschaftsjournalismus gesellt sich obendrein eine Reihe interessanter Wissenschaftsblogs. Und wenn in seriösen Fachmagazinen wie Nature auf „kürzlich veröffentlichte Studien“ verwiesen wird, so ist in der Regel davon auszugehen, dass derlei Beiträge auf wichtige wissenschaftliche Publikationen referieren und zudem von Experten verfasst wurden, die sich in der Materie auskennen und sie entsprechend analysieren können. Sollte es wissenschaftliche Einsichten geben, welche die Welt tatsächlich bereichern und verändern, werden wir sie schon früher oder später erkennen. Die „kürzlich veröffentlichten Studien“ der Tageszeitungen werden allerdings mit Sicherheit nicht dazugehören.