27.09.2012

„Wir müssen von einem mündigen Menschen ausgehen, wenn wir die Demokratie ernst nehmen wollen“

Interview mit Juli Zeh

Johannes Richardt im Gespräch mit der Schriftstellerin Juli Zeh über Freiheit und Aufklärung. Und darüber, dass die Politik die Bürger wieder ernst nehmen muss

Johannes Richardt: Der Kampf der Individuen für ein selbst-bestimmtes und selbstverantwortetes Leben ist immer wieder ein zentrales Thema Ihrer schriftstellerischen Arbeit – etwa in Ihrem dystopischen Roman Corpus Delicti, wo Sie die Protagonistin in nicht allzu ferner Zukunft gegen eine wohlmeinende, aber totalitäre Gesundheitsdiktatur ankämpfen lassen. Wo sehen Sie heute, in einem demokratisch verfassten Staat wie der Bundesrepublik, die größten Bedrohungen für unsere Freiheit?

Juli Zeh: Ich glaube, die größte Bedrohung besteht paradoxerweise darin, dass unsere Demokratie bislang so gut funktioniert und wir sie deshalb als etwas Selbstverständliches zu betrachten begonnen haben. Wir glauben, individuelle Freiheit sei eine Art Naturgesetz, was jedem von uns zusteht und was wir nicht weiter erkämpfen und erhalten müssen. Das Bedürfnis nach Freiheit wähnt sich befriedigt und deshalb werden andere Bedürfnisse – vor allem das nach Sicherheit – stärker. Die Menschen stellen fest, dass Freiheit auch anstrengend sein kann: Man muss sich entscheiden, man muss Verantwortung übernehmen und es gibt unheimlich viele Möglichkeiten, zwischen denen man wählen und sortieren muss. Das wird vielleicht als nicht so angenehm empfunden und mag ein Grund dafür sein, dass sich viele Menschen von freiheitlichen Überzeugungen abgewandt haben und nun glauben, ihr eigentliches Anliegen im gesellschaftlichen Miteinander sei es, beschützt zu werden und möglichst wenigen Risiken ausgesetzt zu sein.

Dieses Sicherheitsbedürfnis greift die Politik auf. Wenn ein Politiker um Wählerstimmen wirbt und sich dabei selbst als starken und aktiven Manager der öffentlichen Angelegenheiten präsentieren will, kann er das besonders gut, wenn er den Menschen etwas verspricht, was ihrem Sicherheitsbedürfnis entgegenkommt. Da stoßen dann zwei Anliegen aufeinander: eines von oben und eines von unten. Beide passen sehr, sehr gut zusammen und so kommt es, dass es in den letzten Jahren für die Politik zu einfach geworden ist, den Menschen ihre Freiheit abzukaufen, indem sie ihnen im Grunde etwas Wahnhaftes verspricht, nämlich: Es gebe so etwas wie ein absolut sicheres Leben, das mit bestimmten Gesetzen oder gesellschaftlichen Anstrengungen erreicht werden kann.

Können Sie sich erklären, was noch hinter dieser Obsession des Staates stecken könnte, den Bürgern vorzuschreiben, wie sie sich richtig zu verhalten haben?

Dahinter verbirgt sich ein Phänomen, das ich mit dem Begriff Bürgerverdrossenheit belegen würde. Es wird ja immer wieder gesagt, die Bürger seien politikverdrossen, sie hätten kein Vertrauen mehr in den Staat oder in die Politiker. Viel schlimmer finde ich, dass Politik und Staat bürgerverdrossen geworden sind; d.h. sie haben das Vertrauen in die Mündigkeit der Bürger verloren. In der zunehmenden Durchregulierung des Alltags spiegelt sich das wider. Die Politik behandelt erwachsene Menschen zunehmend so, als befänden sie sich quasi auf dem geistigen Niveau eines vierjährigen Kleinkindes, das nicht weiß, was gut für es ist, dem man vorschreiben muss, was es zu essen und wie es sich zu verhalten hat. Die Politik meint, den Bürger ständig vor Risiken, die ihn umgeben, schützen zu müssen, sein Leben einhegen und in vorgegebene Bahnen lenken zu müssen, weil er angeblich permanent dazu neigt, nicht nur andere, sondern vor allem sich selbst zu verletzen, sei es nun aus purer Dummheit oder aus Unwissen. Auf Grundlage dieses Menschenbildes wird heute Politik gemacht. Und in meinen Augen ist das absolut demokratiefeindlich. Die demokratische Grundidee beruht darauf, dass die Staatsgewalt vom Volke ausgeht. So steht es in unserem Grundgesetz. Die Masse der Individuen ist der Souverän. Wie kann man aber einen Souverän ernst nehmen, wenn man latent glaubt, er sei nicht klüger als ein vierjähriges Kind? Da widerspricht sich etwas. Wir müssen von einem mündigen Menschen ausgehen, wenn wir die Demokratie ernst nehmen wollen, und das ist seit einiger Zeit nicht mehr der Fall.

Das Konzept der Mündigkeit hat seinen Ursprung im Menschenbild und dem Freiheitsbegriff der Aufklärung, beruht also auf der Vorstellung des Menschen als einem vernunft- und willensbegabten, mit Autonomie und Urteilskraft ausgestatteten, handlungsfähigen Subjekt. Was ist in den letzten Jahren in unserer Gesellschaft passiert, dass diese aufklärerischen Ideen aktuell so einen schweren Stand haben?

Zum einen ist die aufklärerische Idee, oder sagen wir vielleicht besser die aufklärerische Methode, nie richtig zu Ende gedacht worden. Wir befinden uns einfach noch nicht am Abschlusspunkt des Prozesses. Wir denken, wir hätten die Aufklärung zu einem glücklichen Ende geführt, aber das ist nicht der Fall. Dabei war die Aufklärung so lange attraktiv und leicht begründbar, wie es darum ging, offensichtliche Zwänge, die die Freiheit des Menschen einschränkten, abzubauen. Es ist immer leichter, wenn man sich gegen klare Feindbilder richten kann; wenn man sagen kann: Hier fehlt es an Gleichberechtigung, hier gibt es staatliche Zensur, die abgebaut werden muss, damit wir Meinungsfreiheit haben, dort gibt es die Religion, die die Menschen in Unmündigkeit versklavt usw.Solange es darum ging, solche Mauern einzureißen, war es für viele Menschen plausibel und angenehm, sich in den Dienst der Aufklärung zu stellen. Wenn man aber auf diesem Weg relativ weit gekommen ist – und ich glaube, dass wir das sind, spätestens seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert, nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation – ist es nicht mehr ganz so einfach, an den alten Idealen festzuhalten.

Trotz aller historisch einmaligen Zugewinne an Sicherheit, Wohlstand und Freiheit kam es hier in Europa zu diesem paradoxen Phänomen, dass die Menschen anfingen sich zu fragen, wie sie ihre Freiheit eigentlich nutzen wollen. Was ist Freiheit, die nicht mehr nur Zielpunkt oder Fluchtpunkt eines Kampfes ist, sondern gelebte individuelle Realität? Und auf einmal hat man innerhalb ganz kurzer Zeit festgestellt, dass wir als Gesellschaft keine Antwort auf diese Fragen wissen. Das war eine Sache von ganz wenigen Jahren. Eigentlich wurde sofort mit der Jahrtausendwende eine Art Kipp-Punkt überschritten.

Heute reden wir nicht mehr über Freiheit, Hoffnung und Fortschrittsdrang, sondern über ganz andere Themen: “die Menschen sind orientierungslos”, “sind überfordert von den Möglichkeiten”, “die Welt ist zu komplex”, “es gibt zu viele Informationen” usw. In dieser Art und Weise, die Welt zu beschreiben, sieht man, was sich geändert hat: Freiheit schien erreicht – und reagiert wurde darauf mit Angst. Das ist vergleichbar mit einem in Gefangenschaft aufgewachsenen Tier, das man in den Wald bringt und dem man sagt: “Jetzt bist du frei, freu dich, mach was draus.” Aber das Tier rennt nicht weg, sondern bittet darum, in den Käfig zurückgehen zu dürfen, weil es mit dieser Freiheit gar nichts anfangen kann.

Dazu kommt, dass wir diese Entwicklungen nicht mehr diskursiv begleiten. Wir haben aufgehört, öffentlich über solche Fragen zu reden. Wir reden die ganze Zeit übers Gegenteil. Wir reden die ganze Zeit über Katastrophen, Krisen, den Untergang, aber wir reden nicht mehr über das positive Menschheitsprojekt. Wir reden nicht mehr über die Möglichkeit einer besseren Zukunft, so als könnte es ab jetzt nur noch abwärts gehen. Weil wir sozusagen Ende des 20. Jahrhunderts bereits alles erreicht haben, müsste es ab jetzt nur noch schlechter werden. Das ist die innere Gestimmtheit, mit der wir momentan in die Zukunft schauen.

Was wäre denn ein Ausweg aus dem von ihnen beschriebenen Zukunftsblues und dieser Krise der Freiheit?

Wir befinden uns momentan gesellschaftlich an einem Punkt, wo das wichtigste politische Projekt darin besteht, und vielleicht zum Teil auch darin bestehen muss, Besitzstände zu verteidigen. Es geht heute nicht darum zu sagen, wir sind Freiheitskämpfer, die gegen ein Höchstmaß an Unterdrückung anrennen können. Sich dazu zu stilisieren wäre einfach vermessen, fast schon pathologisch. Wir müssen wirklich darauf stolz sein und einfach freudig anerkennen, dass in den letzten 250 Jahren viel erreicht wurde. Es ist aber ebenso klar, dass wir noch nicht am Endpunkt der Entwicklung stehen. Wir müssen lernen, unser politisches Engagement und die große gemeinsame politische Idee umzuwidmen und neu zu definieren.

Wir können heute nicht mehr, wie es bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts der Fall war, sagen, dass wir uns für eine ganz bestimmte Form der Freiheit einsetzen, indem wir uns von freiheitsfeindlichen Systemen, wie etwa dem Stalinismus, absetzen. Nun scheint auch das überwunden, angeblich hat man da alles erreicht, die freiheitliche Idee hat auch im Osten Europas gesiegt oder ist zumindest auf dem Vormarsch. Wir müssen heute im Grunde mit etwas bescheidenerem, aber nicht weniger leidenschaftlichem Anspruch die gleichen Ideen verteidigen. Und das, glaube ich, ist sehr schwer geworde+n, davon wenden sich Menschen ab, weil gewissermaßen die werbliche Attraktivität fehlt. Wie kann man den Leuten sagen, sie sollen für etwas kämpfen, was sie schon haben? Diese auf den ersten Blick paradoxe Situation aufzulösen, ist momentan unsere Aufgabe. Und die haben wir noch nicht mal angefangen zu bewältigen.

Trotz aller unbestrittener Zugewinne an Freiheit hier in Europa innerhalb der letzten Jahrzehnte erleben wir spätestens seit der Finanzkrise 2009 und der darauf folgenden Eurokrise durchaus bedrohliche Entwicklungen. Sehen Sie in der gegenwärtigen Krise akute Gefahren für unsere Demokratie?

Es sieht, Gott sei Dank, nicht so aus, als würden wir die Demokratie gerade abschaffen oder als wäre sie gerade unmittelbar bedroht, aber es ist natürlich so, dass wir in den letzten Jahrzehnten mit der europäischen Integration ein Problem aufgebaut haben, das bis zum heutigen Tag ungelöst ist. Es geht vor allem um das Problem der Legitimation von Entscheidungen auf europäischer Ebene. Legitimation heißt ja nichts anderes, als dass eben der Volkssouverän in irgendeiner Weise an dem beteiligt sein muss – nicht nur soll, sondern muss! – was in Europa getan wird, weil wir sonst nicht mehr von funktionierender Demokratie sprechen können. Selbst wenn in langen Ableitungsketten die Entscheidungen immer an irgendein Parlament rückgebunden werden können, ist keine echte Legitimation mehr vorhanden, wenn diese Ketten so lang werden, dass sie für den Bürger nicht mehr nachvollziehbar sind.

Jetzt, in der Krise, sieht man das einfach überdeutlich, weil gerade Krisen es mit sich bringen, dass schnell entschieden werden muss – oder zumindest wird das von der Politik so suggeriert. Dabei hat die Politik immer auch ein Interesse daran, möglichst viel Macht zu konzentrieren. Und gerade in Krisenzeiten ist sie besonders leicht dazu in der Lage, weil sie immer mit der Argumentation kommen kann, dass jetzt alles ganz schnell gehen muss. Wir sehen das nicht zuletzt in der Rhetorik unserer Kanzlerin. Wir hören permanent, bestimmte Entscheidungen seien “alternativlos”, es sei keine Zeit für parlamentarische Beteiligung, bestimmte Unterlagen seien geheim. Das ist die Rhetorik einer Politik, die an den Parlamenten und am Volkssouverän vorbei operieren will und die die Krise als Begründung dafür nimmt. Wer sich jetzt hinstellt und sagt: “Wir brauchen parlamentarisch legitimierte Beschlüsse und wenn das länger dauert, dann ist das eben so in einer Demokratie” – dem wird jetzt vorgeworfen, er verkenne den Ernst der Lage, er würde riskieren, dass spätestens übermorgen der Euro zusammenbricht und sich 14 Tage später die ganze EU auflöst.

Da greifen wieder diese Katastrophenstimmung und das apokalyptische Denken, dem wir spätestens seit der Jahrtausendwende ohnehin unterliegen. Die schwarzmalerische Rhetorik dient immer auch dazu, den Bürgern zu signalisieren: Seid still, bleibt in euren Häusern, duckt euch, seid froh, dass es Leute wie uns gibt, die diese Probleme lösen können, ihr könnt das ja gar nicht, ihr seid keine Experten. Das ist die Art und Weise, wie Politik sich heute verkauft, und das kulminiert jetzt aufgrund der Eurokrise. Das kann auf Dauer nicht unser Bild von Politik sein, weil wir sie dann tatsächlich nicht mehr demokratisch nennen können.

Wieso haben demokratische Politik und Rhetorik heute eigentlich solch eine für viele Menschen abstoßende technokratische Form angenommen?

Da sind genau zwei Phänomene am Werk. Das eine ist, dass wir angefangen haben, Politik generell als eine Art Problemlösungsapparat zu verstehen. Wir sehen demokratische Politik nicht mehr als einen Weg, einen Interessenausgleich herzustellen und Kompromisse zu finden. Die Leute glauben, Demokratie sei ein Verfahren, um die “beste” Lösung für ein Problem zu ermitteln. Das ist falsch. Demokratie soll Gerechtigkeit herstellen. Keine finanzielle, sondern Teilhabegerechtigkeit. Die Frage, was dabei hinten rauskommt, wie praktikabel das am Ende ist, gemessen am Zwang der Märkte oder was auch immer man da als Richtgröße nimmt, ist gar nicht so relevant. Das haben wir vergessen. Wir haben heute ein ganz anderes Bild von Politik: Es geht heute um das Managen von Problemen, die die Realität aufwirft. Dabei neigen wir dazu, unser gesamtes Leben durch eine völlig durchökonomisierte Brille zu betrachten. Realität ist fast nur noch ein Synonym für wirtschaftliche Realität. Da werden Fragen aufgeworfen, sei es jetzt durch die Eurokrise, sei es durch soziale Verwerfungen oder was auch immer, denen die Politik gegenübersteht wie so eine Art Serviceeinheit, die man gerufen hat, um das Problem zu lösen. Die Beliebtheit oder der Erfolg eines Politikers werden jetzt daran gemessen, wie gut oder schlecht er das geschafft hat. Diese Sicht ist ungeheuer weit verbreitet, hat aber in Wahrheit mit Demokratie nur noch ganz wenig zu tun.

Das Zweite – und da sind Politik und Parteien eigentlich schuldlos – ist die radikale Veränderung in den Kommunikationsmedien. Fragt man Politiker, die schon vor 40 Jahren im Geschäft waren, wie sie damals kommuniziert haben und wie die Kommunikation mit dem Bürger heute funktioniert, stellt man fest, dass eines erst mal gar nicht so wesentlich anders ist: Damals wie heute nutzen Politiker die Medien. Ein Politiker kann ja nicht zu jedem Einzelnen nach Hause kommen und ihm etwas erklären, also spricht er durch das Fernsehen oder Zeitungen und heutzutage vielleicht auch durchs Internet. Was sich dabei aber in den letzten Jahren immer wesentlicher herauskristallisiert hat, ist das Gefühl, keine Zeit zu haben.

Die Medien zwängen die Politiker in immer engere Zeitfenster, wenn es darum geht, etwas zu erklären. Wenn ein Politiker heute etwas sagen will, wird er oft mit nur einem einzigen Satz zitiert. Ein Politiker-Satz, das sind 10 Wörter, und in diesen 10 Wörtern soll er erklären, was sein Konzept zur Rettung des Euro ist, was er zur Klimaerwärmung denkt oder wie er die soziale Frage in den Griff kriegen will – in 10 Wörtern! Und darauf werden Politiker gedrillt wie kleine Zirkuspferdchen – die mediale Realität drillt sie einfach darauf. Sie werden gezwungen, in Formeln zu sprechen, weil man in 10 Wörtern einfach nichts erklären kann. Irgendwann infiziert diese Art des Sprechen-Müssens auch die Art zu denken und damit auch die Art und Weise des Handelns. Das halte ich für ein ganz zentrales Problem. Wenn wir unsere Realität in solche 30-Sekunden-Zeitfenster zerhacken, dann müssen wir uns am Ende nicht wundern, wenn sie technokratisch und managerseminarmäßig daher kommt. Demokratie braucht vor allem Zeit. Das ist wirklich ein ganz langsames Geschäft, da muss ganz viel geredet werden und man kann nicht einfach sagen “Diese blöde Gequatsche! Wir müssen endlich mal handeln und wir brauchen endlich den starken Mann!” Es geht gerade um das Reden, um das ausführliche lange Reden und das ist Politikern im Grunde gar nicht mehr erlaubt, das können sie gar nicht mehr.

Wo sehen Sie die Grenze zwischen Privatheit und individueller Freiheit?

Es gibt ja den berühmten Satz, dass die Freiheit eines Menschen da aufhört, wo die des anderen beginnt. Das ist nach wie vor eine ganz taugliche Formel. Da wir diese Grenze ja nicht absolut ziehen können – wir können nicht sagen, der Mensch darf Auto fahren, aber er darf nicht rauchen, und so soll das sein bis in alle Ewigkeit – geht es da immer um Abwägungsprozesse und um den Versuch, ein Gleichgewicht herzustellen zwischen verschiedenen Bedürfnissen verschiedener Menschen. Da taugt diese Formel als eine Art Anleitung zur Findung von Balance. So alt sie ist, so sinnvoll ist sie nach wie vor. Was aktuell jedoch passiert, und zwar in den letzten Jahren immer schneller, rasanter und weitgehender, ist, dass über diese Formel nicht mehr nachgedacht wird.

Jetzt soll die Freiheit nicht mehr nur dann eingeschränkt werden, um den Einen vor der Freiheit des Anderen zu schützen, sondern es geht nun auch darum, den Einzelnen vor seiner eigenen Freiheit zu schützen. Es soll nicht nur verhindert werden, dass Nachbar X durch die Freiheit von Nachbar Y irgendwie beeinträchtigt wird, jetzt soll Y davor geschützt werden, selbst Fehler zu machen, die ihn vielleicht selbst gefährden. Da verläuft eine Grenze, die unbedingt verteidigt werden muss. Wir müssen dem Menschen immer das Recht zugestehen, sich selbst zu verletzen, Fehler zu machen, seinen eigenen Interessen zuwiderzuhandeln, weil niemand außer dem Einzelnen selbst sein eigenes Interesse definieren kann. Und selbst wenn von außen betrachtet dessen Verhalten noch so unlogisch und bescheuert aussehen mag, dann können wir uns als Allgemeinheit trotzdem nicht hinstellen und sagen, dass wir besser wissen, was gut für einen ist. Es geht z.B. nicht, Rauchern zu sagen: Wir sagen dir, dass es für dich nicht gut ist, an Lungenkrebs zu sterben, und deshalb darfst du nicht rauchen. Das verbietet die Freiheitsidee und muss deswegen bekämpft werden. Vor allem müssen wir rhetorische Umkehrungen erkennen. Heute heißt es dann gern: Weil wir z.B. ein solidarisches Krankensystem haben, verletzt dein Lungenkrebs die Freiheit desjenigen, der dafür aufkommen muss. Immer häufiger wird versucht, die Einschränkung persönlicher Freiheit zu rechtfertigen, indem man sagt, das schadet jetzt aber der Gemeinschaft, das kostet ja Geld. Über das finanzielle Argument kann man alles verbieten, weil jede Form von Risiko, sobald etwas schiefgeht, immer irgendwo Kosten und Aufwand erzeugt und immer irgendwo jemand davon in Mitleidenschaft gezogen wird. Wenn so argumentiert wird, muss man immer sehr genau hinschauen, ob das nicht Versuche sind, die Grundformel individueller Freiheit zu umgehen, die dem Menschen zumindest das erlaubt, was nur ihm selbst schadet.

Welche Rolle hat der Staat Ihrer Vorstellung nach zu spielen?

Ich finde es schön, den Staat als eine Art Ermöglicher zu denken. Der Staat darf dem einzelnen Menschen Angebote machen, die er annehmen kann und die das Individuum dazu befähigen, die eigene Freiheit zu vergrößern. Ich denke hier vor allem an Bildung. Das ist ein alter aufklärerischer Gedanke. Bildung ist ein ganz wichtiges Kriterium, um dem Einzelnen Freiheit zu ermöglichen, vor allem auf der zweiten Ebene, wenn es darum geht, mit Freiheit etwas Sinnvolles anfangen zu können. Hier sehe ich ganz klar den Staat gefordert. Da müssen mehr Angebote gemacht werden. Alles, was wir Daseinsvorsorge nennen, muss und darf vom Staat angeboten werden. Aber das darf eben nicht hin zu der Idee kippen, der Staat müsse den Bürger zu seinem Glück zwingen, weil die Experten besser wissen, was Glück bedeutet. Ein gut funktionierender Staat ist einer, der Chancen gewährt und Chancenausgleich schafft, wo diese Chancen nicht gleich verteilt sind. Aber das kann eben nicht ein Staat sein, der ein optimales Menschenbild definiert und dann Kriterien festlegt, die für alle gelten sollen und denen sich der Einzelne unter Androhung von Strafe anpassen muss. Das kann nicht die Idee von Staat sein, das wäre eine totalitäre Idee.

Wir haben viel über Einschränkungen der Freiheit gesprochen. Wo sehen Sie heute die verteidigenswerten Freiräume?

Ich finde grundsätzlich, dass jede Art des Übergriffs auf die private Freiheit sofort Verteidigung provozieren sollte. Wir haben aktuell – und das dürfen wir wirklich nicht vergessen – ungeheuer große Freiräume. Deshalb wäre es auch falsch in so eine Art apokalyptischen Duktus zu verfallen. Wir müssen lernen, die vorhandenen Freiräume zu fühlen, wir müssen spüren, dass sie da sind. Dass wir ein solches Gespräch führen können, dass das hinterher sogar gedruckt und öffentlich gemacht wird, dass andere die Möglichkeit haben, so etwas zu lesen – also das, was wir Meinungs- und Pressefreiheit nennen – ist im ganz hohen Maße vorhanden und wird von uns allen genossen. Wir haben mit dem Internet sogar die Möglichkeit bekommen, dass buchstäblich jeder Einzelne von uns seine Meinung kundtun und sich mit anderen austauschen kann. Und das ist nur ein Beispiel für das Maß an Freiheit, das wir in diesem Land tatsächlich genießen. Unsere Freiräume und die Möglichkeiten, sich ins Private zurückzuziehen, sind groß. Es geht jetzt darum, sie nicht aufs Spiel zu setzen oder sich von Menschen abkaufen zu lassen, die uns suggerieren, das sei gar keine Freiheit, das sei Risiko und das sei etwas Negatives. Immer, wenn jemand sagt, er wisse besser als wir selbst, was gut für uns ist – sei es nun von Seiten der Politik, der Wirtschaft oder nur von irgendjemanden an der Supermarktkasse, der uns unsere Daten abkaufen will, völlig egal –, immer wenn jemand sagt: “Ich hab ein tolles Angebot für dich, das ist super für dich, da weiß ich ganz genau, dass dir das gut tut.” – immer dann müsste der aufgeklärte Bürger hellhörig werden und sagen: “Moment mal! Der einzige, der weiß, was gut für mich ist, das bin immer noch ich. Und jetzt prüfe ich ganz genau, wer mir da was zu welchem Preis verkaufen will.” Das müsste eigentlich ein natürlicher Reflex sein. Dieser scheint mir momentan allerdings ein bisschen eingeschläfert.

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