28.09.2012

Was auch gesagt werden muss

Kommentar von Sabine Reul

Im Sekundentakt fabrizierte die Grass-Debatte argumentativ dürftige Positionen: wenig Sachlichkeit, umso mehr intellektuelle Anspruchslosigkeit. Was sagt das über den geistigen Status quo unserer Gesellschaft?

Die Debatte über Günther Grass hinterlässt das ungute Gefühl, dass unsere intellektuellen Ressourcen zusehends verkarsten. Ob es Altersstarrsinn, mangelnder historisch-politischer Verstand oder narzisstischer Überschwang war, die den 84-jährigen Nobelkreisträger zu seiner – weniger lyrisch als pathetisch zu nennenden – Stellungnahme zum Nahostkonflikt trieben, sei dahingestellt. Fakt ist, dass er mehrere Dinge miteinander vermengt hat, die man vernünftig so nicht vermengen sollte: die tragische und schwer auflösbare Konfliktkonstellation zwischen Israel und seinen Nachbarn, die sich nun im Szenario eines möglichen Krieges zwischen Israel und Iran niederschlägt; die Sorgen, die das fern vom nahöstlichen Schauplatz auch hierzulande auslöst; und die Vorstellung, es sei eben darum an der Zeit, als Deutscher den Schatten des Holocaust abzuschütteln und gegen ein Tabu anzurennen, das uns bislang angeblich kritische Äußerungen zur Politik des Staates Israel untersagt habe.

Nach Erscheinen seines im Gestus des „J’accuse“ gehaltenen Pamphlets, das aber eher als unverdient anmaßende Anlehnung an Zolas großartige Anklage gegen den französischen Antisemitismus der Jahrhundertwende daherkommt, regnete es knapp zwei Wochen Stellungnahmen pro und contra. Grass sei Antisemit, nein er sei keiner. Doch er sei einer, denn er war ja auch Mitglied der Waffen-SS. Er habe einen großartigen Roman geschrieben, nun sei er halt alt. Grass sei dasselbe in Grün wie Sarrazin. Grass wolle bloß sich selbst und Deutschland von Schuld entlasten.  Er habe das Recht, zu schreiben, was er wolle. Das habe er ja schon, aber so nicht, da es ja die Massen auf falsche Ideen bringen könne. Israels Reaktion auf seine Stellungnahme sei verständlich. Nein, sie sei hysterisch. Grass befinde sich im Bett mit der NPD. Nein, er sage nur, was viele denken. Und so weiter, und so fort. Man fragt sich, was das alles mit dem aktuellen Geschehen im Nahen Osten und seiner Geschichte zu tun haben soll. Und wie solche hektischen Reaktionen sich zu einer vernünftigen Interpretation der Ereignisse fügen sollen, die geistige Orientierung bieten könnte. Keine der vielen in Grass‘ sehr dichtem Statement angesprochenen Einzelfragen wird sachlich geprüft. Noch wird seine Gesamtschau, die sie in einen sehr angreifbaren Argumentationszusammenhang stellt, ernstlich in den Blick genommen.

Die Stellungnahmen sind ja nicht durchweg falsch. Das Problem ist, dass hier im Sekundentakt intellektuell schwache und nicht von der Sache selbst, sondern von den Subtexten unserer öffentlichen Meinung geprägte Positionen fabriziert werden. Und das ist offenbar unser geistiger Status quo: eine regressive Kombination intellektueller Anspruchslosigkeit, hechelnder Trittbrettfahrerei und emotional aufgeplusterter Posen. So replizieren die Kommentare zu Grass letztlich nur die Wirrheit seines Pamphlets.

Dass Günther Grass schreiben darf, was er möchte, bedarf keiner Affirmation. Dass darüber überhaupt diskutiert wird, ist symptomatisch für das Misstrauen gegenüber dem freien Wort, das sich in unseren meinungsprägenden Kreisen eingenistet hat. Angst vor menschlichen Äußerungen und Handlungen treibt unsere von Untergangsängsten geplagten Mittelschichten um. Und die Intellektuellen, die dazu da wären, dieses Klima aufzubrechen, degradieren sich zu seinem Sprachrohr. Das gilt für Grass, an dessen Pamphlet das eigentlich Anstößige darin besteht, dass es ebenfalls narzisstische Ängstlichkeit auf die große Welt projiziert. Und seine Gegner wie Befürwortern eifern ihm darin nur nach. Die Obsession mit den Gefahren des freien Worts, das das fragile Boot zum Kentern bringen könnte, nimmt nun so großen Raum ein, dass die tatsächlich relevante Frage, ob jemand – sei es Grass oder ein anderer – Unsinn fabriziert oder nicht, gar nicht mehr bearbeitet wird. A la mode ist die redundante Nachäffung vorgegebener Reaktionsmuster – nicht deren Hinterfragung. Da muss man Grass insofern Recht geben, als sein missglückter Aufschrei sich natürlich auch gegen dieses Klima selbsttätig vernichteter Äußerungsfreiheit richtet. Nur wirr und völlig am falschen Thema vorbei.

Alle drei von Grass aufgeworfenen Fragen – die Situation in Nahost, die Kriegsangst in Europa und die Zusammenhänge zwischen der deutschen und der jüdisch-israelischen Geschichte – sind nicht ganz einfache. Sie bedürfen recht konzentrierter geistiger Zuwendung, wenn wir politische Alternativen zu sich abzeichnenden Katastrophenszenarien finden wollen. Doch die Sensibilität für die geistigen Herausforderungen des aktuellen Geschehens scheint zu erlöschen. Wie das inzwischen die Politik ansteckt, hat vor allem die SPD mit der emphatischen Unterstützung ihres Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel für Grass‘ Statement zur Schau gestellt. Umnachteter als die Nahostpolitik einer SPD-geführten Bundesregierung an dessen Pamphlet ausrichten zu wollen, das man offenbar nicht einmal recht zu deuten versteht, geht es nicht.

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