12.12.2011

Wer hat Ruanda zugrunde gerichtet?

Analyse von Barrie Collins

Politiker und Menschenrechtsorganisationen kritisieren neuerdings den Autoritarismus des ruandischen Präsidenten Paul Kagame. Dabei haben sie ihn jahrelang unterstützt.

Nachdem Paul Kagame als Sieger der Präsidentschaftswahl in Ruanda am 9. August 2010 im Amt bestätigt worden war, geriet er wie nie zuvor in die Kritik der westlichen Medien. Anlass zur Kritik gibt es natürlich genug: Alle Präsidentschaftskandidaten, die sich im Wahlkampf auf Ethnizität bezogen, wurden wegen Beförderung ethnischer Spannungen disqualifiziert. Der prominente Oppositionsführer Victoire Ingabire wurde mit einem gesetzlichen Rundumschlag gegen „Völkermord-Ideologen“ außer Gefecht gesetzt. Im Juni wurde der ehemalige Armeechef Faustin Nyamwasa in Südafrika angeschossen. Fünf Tage darauf wurde der Zeitungsjournalist Jean-Leonard Rugambage in Kigali ermordet, nachdem er in einem Online-Artikel den ruandischen Geheimdienst mit dem Südafrika-Attentat in Verbindung gebracht hatte. Im Juli wurde André Rwisereke, Vizepräsident der „Democratic Green Party“, tot aufgefunden. Bald darauf wurde der tansanische Anwalt Jwani Mwaikusa getötet. Er hatte vor dem Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda einen prominenten Hutu verteidigt.

Das Wahlergebnis zugunsten von Kagame mit 93 Prozent der abgegebenen Stimmen kam nicht überraschend. Und da die Mitglieder der drei sogenannten Oppositionsparteien letztlich aus der Regierungskoalition stammen und diese Parteien lediglich 5, 1 und 0,4 Prozent der abgegebenen Stimmen erhielten, kann man eindeutig nicht von einem demokratischen Mandat für Kagame sprechen.

Aber all das ist nichts Neues. In der Präsidentschaftswahl 2003 konnte Kagame 95 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Bei den Parlamentswahlen im vergangenen September erhielt seine Partei 92 Prozent. Laut „Human Rights Watch“ (HRW) „deutet Beweismaterial, das von der Europäischen Union sowie von ruandischen Beobachtern gesammelt wurde, darauf hin, dass die Regierung den Prozentsatz der Oppositionsstimmen sogar aufgeblasen hat, um den Anschein einer reinen Schauveranstaltung im Stil der Sowjetunion zu vermeiden“.

Neu ist das Ausmaß der Kritik an Kagame vonseiten westlicher Medien und Menschenrechtsorganisationen. Dies zeigt, dass nun endlich mit dem Mythos von Kagame und seiner „Rwandan Patriotic Front“ (RPF) aufgeräumt wird, mit der er in den 90er-Jahren in den Krieg zog und dann die Macht ergriff. Viele ehemalige Befürworter Kagames positionieren sich jetzt als Kritiker.

Der Ruanda-Mythos

Der Mythos besagt, dass der RPF Anfang der 90er-Jahre keine andere Wahl blieb, als in den Krieg zu ziehen, weil sie das in Ruanda herrschende Unterdrückungsregime beenden musste, unter dem die ethnische Gruppe der Tutsi zu leiden hatte. Es heißt, Kagame habe den Tutsi-Flüchtlingen die Rückkehr aus dem Exil sowie die Schaffung einer Regierung ermöglicht, die sich stark für die Überwindung der ethnischen Teilung engagierte. Kagame stellte den etablierten Präsidenten, Juvénal Habyarimana (an der Macht 1973–94) als finstere und machiavellistische Figur dar, der Reformen lediglich zum Gefallen der westlichen Geberländer umsetzte und unter der Hand zugleich die mafiöse Akazu-Organisation betrieb – die hinter den Kulissen eigentlich bestimmende Macht, die korrupte Geschäfte machte und Todesschwadronen organisierte. Einige behaupten aber auch, Habyarimana habe der Akazu unterstanden und sei von ihr manipuliert worden. In den Augen des Westens war die Regierung Habyarimana jedenfalls des Teufels, während Kagame und die RPF das Recht gepachtet hatten.

Tatsächlich hatte Habyarimana aber Ende der 80er-Jahre und Anfang der 90er-Jahre bereits Maßnahmen zur ethnischen Aussöhnung und für demokratische Reformen eingeleitet. Durch die im Oktober 1990 von Uganda ausgehende Invasion der RPF in Ruanda wurden die bereits laufenden Vorbereitungen zur Aufnahme zurückkehrender Tutsi-Flüchtlinge im Keim erstickt. Die RPF wollte jedoch erzwingen, dass die Rückkehr der Flüchtlinge unter ihren Bedingungen und unter ihrer Kontrolle erfolgt. Obwohl sich die Sicherheitslage durch den von der RPF betriebenen Krieg drastisch verschlechterte, beförderte Habyarimana weiterhin die Reformen zugunsten von Pressefreiheit und einer demokratischen Verfassung, die im Juni 1992 gesetzlich in Kraft trat. Insbesondere die Diskriminierung aus ethnischen Gründen wurde durch die Verfassung für gesetzeswidrig erklärt.

Man hätte erwarten können, die westlichen Regierungen – insbesondere die USA, die sich zu dieser Zeit als Förderer der Menschenrechte und der Demokratie aufspielten – würden die Maßnahmen von Habyarimana begrüßen und eine realistische Darstellung der RPF liefern: als eine von Uganda unterstützte Armee, die in Ruanda die Macht ergreifen wollte. Als eine fast ausschließlich aus Tutsi bestehende Organisation vertrieb die RPF die Hutu-Mehrheit von ihrem Land und sperrte sie in Flüchtlingslager; über die ethnischen Grenzen hinweg schürte die RPF Angst und Hass – und das gipfelte letztlich in der Katastrophe von 1994, als die Hutus Tausende von Tutsis ermordeten.

Kagame konnte sich ungestraft über die in Arusha laufenden Friedensverhandlungen hinwegsetzen und diesen Krieg anzetteln, weil er sich westlicher Unterstützung sicher sein konnte, insbesondere durch die USA, Belgien und Großbritannien. Auch die Menschenrechtsorganisationen, die Habyarimana mit dem Eifer moderner Kreuzritter dämonisierten, haben zur Legitimierung Kagames beigetragen.

Heute sagt Kenneth Roth von HRW, es sei „eine Ironie, dass der Völkermord der Regierung [von Kagame] die Rechtfertigung für die Unterdrückung geliefert hat“. Eine noch größere Ironie besteht jedoch darin, dass die opportunistische Verwendung des Begriffes Völkermord durch die von Roth vertretene Organisation Kagame geholfen hat, seinen Krieg zu legitimieren und einen Ruanda-Mythos zu kreieren, mit dem seine westlichen Unterstützer seinen Autoritarismus entschuldigen konnten.

Moralische Munition für Kagame

Den größten Beitrag zum Bericht der „International Commission of Inquiry“ (ICI) von 1993 zu Menschenrechtsverletzungen in Ruanda hat die HRW geliefert, die zu dieser Zeit von Alison Des Forges geleitet wurde. In dieser durchweg einseitigen Darstellung wurde die Regierung Habyarimana systematischer Massaker an Tutsis beschuldigt, während man Vorwürfen, auch die RPF von Kagame habe Gräueltaten begangen, nicht nachging. Die RPF-Offensive vom Februar 1993 hatte zu zahlreichen Todesopfern unter der Zivilbevölkerung geführt, aber der Bericht verhinderte, dass dem durch diese Ereignisse verursachten Leid die entsprechende Aufmerksamkeit zuteil wurde.

Es fehlte nicht viel, dass die Regierung Habyarimana in dem Bericht des Völkermordes beschuldigt wurde, aber ganz so weit ging es dann doch nicht. Die Verantwortlichen des Berichts verwendeten den Begriff Völkermord jedoch in ihrer Pressemitteilung und sorgten so für internationalen Wirbel über die angeblich böse Regierung Habyarimana. Damit nahmen sie Kagame in Schutz und lieferten ihm die erforderliche moralische Munition. Daher überrascht es nicht, dass Kagame ungerührt von den Schlachtfeldern zu den wieder aufgenommenen Gesprächen in Arusha zurückkehrte und sich über den „Völkermord“ von Kigali ereiferte, womit er sich die Sympathie der diplomatischen Beobachter Großbritanniens sicherte. [1]

Als der UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte einige Monate später im Jahr 1993 eine Aufklärungsmission unternahm, hätte er Gelegenheit zu einem ausgewogeneren Bericht über die Ermordung von Zivilisten in Ruanda gehabt. Stattdessen übernahm er die Version des ICI-Berichts und ging noch weiter, in dem er offiziell erklärte, die Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung der Tutsi entsprächen den Bedingungen der Paragrafen (a) und (b) des Artikels II der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes. [2]

Im Wissen um die Unterstützung durch westliche Kräfte hatte Kagame das Selbstvertrauen, sein militärisches Vorgehen auch angesichts des für ihn größten Hindernisses fortzusetzen: der Wahlurne. Zwar ging die RPF als „Sieger“ aus dem als Arusha-Akkord bezeichneten Friedensabkommen hervor, zumal ihr die Armee des vereinten Ruanda unterstellt wurde. Aber es war absehbar, dass die nach Arusha in Ruanda anstehenden Wahlen sie zu einer Minderheitenpartei stempeln würden.

Aus Kagames Sicht mussten die Wahlen um jeden Preis verhindert werden. Das erprobte Mittel lag auf der Hand: die Provokation ethnisch motivierter Tötungen, für die westliche Beobachter die Hutu-Extremisten verantwortlich machen würden; und diese Übergriffe würden dann die Rechtfertigung für die Fortsetzung des Krieges abgeben, angeblich zum Schutz der Zivilbevölkerung vor Extremisten und Völkermord.

Der vom Westen unterstützte Krieg der RPF

Die RPF rüstete militärisch wieder auf und verschleppte die Einsetzung der in Arusha vereinbarten Übergangsregierung. Die politische Isolation Habyarimanas durch den Arusha-Akkord, das durch Parteiinteressen bestimmte Verhalten der damaligen Machthaber, der wirtschaftliche Zusammenbruch und die Eskalation der ethnischen Spannungen führten zum Zusammenbruch der Regierungsautorität und zur Aushöhlung staatlicher Institutionen.

Zu dieser Zeit stieg die Popularität des bedrängten Habyarimana bei der Hutu-Bevölkerung, denn er unterstützte diejenigen, die unter den höllischen Bedingungen der Flüchtlingslager zu leiden hatten. Für die Beobachter bestand kein Zweifel, wer als Sieger aus den bevorstehenden Wahlen hervorgehen würde: Habyarimana, und nicht die RPF. Und es war für alle einschließlich des amerikanischen Geheimdienstes offensichtlich, dass die Sicherheitslage in Ruanda durch die ethnische Polarisierung bedroht war und das Land in die Anarchie abzurutschen drohte. So hieß es in einer CIA-Studie vom Ende Januar 1994, ein Wiederaufflammen der Konflikte in Ruanda würde bis zu einer halben Million Menschenleben fordern. [3]

Das sollte sich bewahrheiten. Am 6. April 1994 wurde das Flugzeug von Präsident Habyarimana mit einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen. Diese Nachricht stieß Ruanda in den Abgrund. Hutu-Banden erklärten die Zivilbevölkerung der Tutsi zum Sündenbock und gingen von Tür zu Tür, um sie zu ermorden. Die führungslose Präsidentengarde verfolgte Politiker, die mit der RPF in Verbindung gebracht wurden. Die RPF ließ sogleich ihre Einheiten aus Mulindi aufbrechen. In Kigali ermordeten RPF-Truppen prominente Regierungsangehörige. Die RPF behauptete, es drohe ein Völkermord, und nahm das als Rechtfertigung zur Fortsetzung ihres Krieges.

Kagames westliche Unterstützer verbreiteten die Darstellung der RPF, das Flugzeug des Präsidenten sei von Hutu-Extremisten abgeschossen worden, als Startsignal der Vernichtung der Tutsi-Bevölkerung in Ruanda. Zweifellos gab es 1994 vor allem unter der Tutsi-Zivilbevölkerung unzählige Opfer. Es ließen sich jedoch keine überzeugenden Beweise für eine Verschwörung sowie dafür finden, Machtfunktionäre hätten die Übergriffe organisiert und kontrolliert. Das „International Criminal Tribunal for Rwanda“ (ICTR) konnte nicht nachweisen, dass es eine organisierte Verschwörung gab. Allgemein wurde Théoniste Bagosora als Verantwortlicher für diese Verschwörung gehandelt, aber in diesem speziellen Anklagepunkt wurde er aus Mangel an Beweisen für nicht schuldig befunden.

Viele andere, zumeist von Des Forges von HRW (in ihrem Buch und in ihren Auftritten als sachverständige Zeugin der ICTR-Anklage) gelieferten Belege für den organisierten Charakter der Übergriffe sind mittlerweile diskreditiert. Dazu zählen die Geschichte von den Macheten-Importen, das sogenannte Völkermord-Fax, demzufolge angeblich alle 20 Minuten Tausend Tutsi umgebracht werden sollten, und der Notizbucheintrag von Bagasora, in dem alle Tutsi zum Feind erklärt wurden.

Mittlerweile ist auch bekannt, dass UN-Ermittler auf Hinweise stießen, denen zufolge das Attentat auf das Flugzeug Habyarimanas möglicherweise von der RPF und nicht von Hutu-Extremisten verübt worden ist. Die Untersuchungen wurden sofort eingestellt. Das ICTR erklärte das Thema zum Tabu und handelte damit seinem Mandat zuwider. Als die Chefanklägerin Carla Del Ponte sich auf die RPF konzentrieren wollte, wurde sie aus dem Amt entfernt. Statt die Wahrheit über den Krieg und die Massaker von 1994 zu ermitteln, ließ das Tribunal Kagame und die RPF straffrei ausgehen.

Beschönigung der RPF-Massaker

Während des von ihm angezettelten Krieges tat Kagame alles, um Wahlen zu verhindern und die Macht an sich zu reißen. Natürlich waren er und die RPF nicht für die Aktionen der Hutu-Miliz von 1994 verantwortlich, aber sie sind sehr wohl die Hauptverantwortlichen dafür, die Bedingungen geschaffen zu haben, die den Massenmord ermöglicht haben. Die Machtergreifung der RPF hat den Ermordungen von Tutsi durch die Hutu-Miliz ein Ende gesetzt, aber keineswegs die selbst veranlassten Ermordungen beendet.

Das nunmehr von Kagame befehligte ruandische Militär umstellte am 15. April 1995 das interne Flüchtlingslager Kibeho, in dem sich Hutu-Flüchtlinge aufhielten. Berater warnten die US-Botschaft, es drohe unmittelbar ein fürchterliches Massaker durch das Militär. Tom Odom, Militärattaché der Botschaft, sagte, niemand könne „das Kommende abwenden“. [4] Es kam zum bis dato schlimmsten Massaker in Ruanda. Bei strömendem Regen nahm man die entwurzelte Bevölkerung für 48 Stunden unter Beschuss. Die Zahl der Todesopfer ging in die Tausende. Odom hat folgende Konversation mit dem US-Botschafter David Rawson aufgezeichnet, der seine Bestürzung über die Ereignisse, deren Zeuge er geworden war, mit folgenden Worten ausdrückte: „‚[D]as sind Killer! Die haben diese Leute in die Verzweiflung getrieben‘, sagte er, aber ich unterbrach ihn: ‚Nein, David! Diese Leute sind schon verzweifelt in das Lager gekommen. Viele waren tief in den Völkermord verstrickt. Das war unvermeidlich. Wir müssen nur die Ergebnisse bereinigen.‘“ [5]

Als klar wurde, dass die USA zur „Bereinigung“ der „Ergebnisse“ zu einer Gräueltat dieses Ausmaßes bereit waren, zögerte Kagame nicht, bezüglich der verbleibenden Flüchtlinge in Zaire auf die gleiche Weise zu verfahren. Es kam zu schrecklichen Massakern in den Flüchtlingslagern Mugunga und Tingi-Tingi. Kagame spielte weiterhin eine wesentliche Rolle in den beiden Kriegen auf dem Gebiet der jetzigen Demokratischen Republik Kongo. Die Zahl der unter seinem Kommando zu beklagenden Todesopfer überstieg die der durch Hutu-Milizen ermordeten Tutsi-Zivilisten erheblich.

Außerdem wurde praktisch jeder gesunde Hutu-Mann, der als Überlebender in die Flüchtlingslager nach Ruanda zurückkehrte, als des Völkermordes verdächtig ins Gefängnis gesteckt. Carina Tertsakian, die für Amnesty International über die Ereignisse in Ruanda berichtet und derzeit Repräsentantin von HRW in Ruanda ist, hat ein bemerkenswertes Buch über das Gefängnisleben in Ruanda geschrieben. Die Gefangenen wurden gezwungen, stundenlang in überfüllten und dreckigen Zellen zu stehen. Vielen wurden infolge von Wundbrand die Füße amputiert. Häftlinge, die zu schwach oder zu krank waren, um sich zu bewegen, starben dort, wo sie gerade lagen. Tertsakian zufolge starben zwischen September 1994 und Mai 1995 etwa 13 Prozent der Gefängnisinsassen infolge von Überfüllung; diese Situation sei weltweit einmalig. [6]

Warum wurde Kagame so lange von der westlichen Führung hofiert? Tony Blair nannte ihn einen „visionären Führer“. Noch im vergangenen Jahr erhielt er von Bill Clinton einen Global Citizenship Award, weil er „das Denken der Menschen befreit hat“. Barack Obamas stellvertretender Botschafter in Ruanda sagte: „Die Bevölkerung Ruandas kann sich glücklich schätzen, in Präsident Kagame einen visionären Anführer mit bewundernswerten Ideen zu haben.“

Klartext über Washingtons „neue Ordnung für Afrika“

Zunächst unterstützten die USA die RPF bei der Festigung der Rolle von Präsident Yoweri Museveni in Uganda, bei dessen Militärputsch die RPF eine zentrale Rolle gespielt hat. Ende der 80er-Jahre und Anfang der 90er-Jahre ersetzte Washington seine ehemaligen Klienten aus dem Kalten Krieg in Afrika durch die von ihnen so genannte „neue Generation afrikanischer Führer“. Nachdem Museveni in Uganda und Meles Zenawi in Äthiopien an die Macht gekommen waren, gesellte sich auch Kagame dazu. Die drei Führer haben sich ihren Weg an die Macht mit US-amerikanischer Unterstützung freigeschossen und profitierten von einer verzerrten Menschenrechtsberichterstattung, die zur Legitimierung ihrer Rolle beigetragen hat. Erst hat Washington den Menschenrechtsdiskurs für die Stabilisierung dieser Regimes instrumentalisiert und die Rolle der Menschenrechte anschließend heruntergespielt, denn vom dem Autoritarismus dieser neuen Führer wollte man nichts wissen.

In einer Rede an die „African Union“ in Addis Abeba pries die damalige US-Außenministerin Madeleine Albright 1997 die „neue Generation afrikanischer Führer“. Sie „haben manchmal zu Taktiken gegriffen, die Amerikaner vielleicht missbilligen, aber aufgrund ihrer Situation hatten sie kaum eine andere Wahl“, sagte sie. Laut ihrem Biografen Thomas Lippman sei Albright zu dem Schluss gekommen, dass die neuen Führer „nicht daran interessiert sind, von Washington Vorlesungen über Menschenrechte zu hören“. Sie hat sich „bemüht, sie als gleichauf zu behandeln, und tolerierte oder unterstützte gar bestimmte Taktiken zur Aufstandsbekämpfung oder zur Kontrolle von Menschenmengen, die Menschenrechtsaktivisten zur Weißglut getrieben hätten; und sie hat auf Führer wie Museveni und Meles Zenawi in Äthiopien keinerlei Druck ausgeübt, damit sie Wahlen abhalten und die politische Offenheit sichern“. [7]

Außerdem hat die Bereitschaft Washingtons zur Unterstützung von Kagames Offensiven in Ruanda als Mittel zur „Beendigung des Völkermordes in Kigali“ weltweite Resonanz in intellektuellen Kreisen gefunden – und diese Strömungen entwickelten ein Eigenleben. Die Instrumentalisierung des Völkermordes als Mittel zur Legitimierung der neuen Anführer half Washington und seinen westlichen Verbündeten, in Afrika eine neue, scheinbar „ethische“ Ordnung zu schaffen, im Gegensatz zur Unterstützung afrikanischer Diktatoren während des Kalten Krieges. Aber dies hat sich als Falle herausgestellt: Die offizielle Version des Völkermordes in Ruanda wurde zum Dogma, und dank der Bemühungen des ICTR kommt ihr nunmehr auch die Autorität des internationalen Rechts zu. Da jedoch der Autoritarismus Kagames immer mehr Leute seines eigenen Kreises entfremdet und sie zu Dissidenten stempelt, werden weitere Details zur Geschichte des Völkermordes in Ruanda an die Öffentlichkeit drängen.

Der Untergang der „Moral-Parabel“ über den Völkermord in Ruanda könnte sich für die US-Außenpolitik als Desaster erweisen. Die Obama-Administration hat sich vielleicht ausgerechnet, unpassende Wahrheiten über Ruanda weiterhin unterdrücken und Kagame zugleich über Demokratie unterrichten zu müssen. Die USA haben ihm zu seinem Sieg am 9. August nicht gratuliert. Menschenrechtsagenturen, die auch einen großen Teil zur Legitimierung der Kriegstreiberei und des antidemokratischen Autoritarismus Kagames beigetragen haben, haben vielleicht weniger Schwierigkeiten, das Kapitel hinter sich zu lassen und bezüglich der Haltung zu Afrika einen neuen Kurs einzuschlagen. Was auch immer als Nächstes passiert: Die offizielle Version des Völkermordes in Ruanda wird auch künftig infrage gestellt, und westliche Verantwortliche werden sich erklären müssen.

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