24.03.2011
Besserwisser von Beruf
Essay von Joachim Mathieu
Joachim Mathieu wehrt sich gegen die Vorstellung, im Schulbetrieb sei Instruktion „böse“ und Wissenskonstruktion „gut“.
Fast jedes Arbeitsfeld bringt Gefahren und mögliche Berufskrankheiten mit sich. Hochseilartisten haben mit Zuschlägen beim Abschluss einer Risikolebensversicherung zu rechnen, wer in Chemielabors arbeitet, sollte sich vor giftigen Dämpfen hüten, und wer als Lehrer arbeitet, lässt oftmals seine Umwelt über Gebühr darunter leiden, dass er alles besser weiß. Lehrer sind notorische Leserbriefschreiber, haben offenbar die Zeit, sich auch über Kleinigkeiten an allen möglichen und unmöglichen Stellen zu beschweren, und glauben, auch im Alltag einfach alles besser zu wissen.
Gutes und schlechtes Besserwissertum
Ohne Zweifel also stellt das Besserwissertum des Lehrers eine oft unschön verlaufende Berufskrankheit dar. Andererseits ist dieses Besserwissen, solange es nicht als charakterliche Verformung zu gelten hat, sondern eben dort bleibt, wo es hingehört, in der Schule nämlich, keineswegs eine „Krankheit“. Vielmehr ist es schlichtweg Bestandteil des Berufsbildes. Allein dies laut zu sagen, gilt vielleicht als unbescheiden, wahrscheinlich als verwerflich oder möglicherweise sogar als reaktionär.
Ja, auch ich bin Besserwisser. Privat möglicherweise schon viel länger, aber vom Staat werde ich seit nunmehr zehn Jahren dafür bezahlt. Und ganz ehrlich gesagt, ich würde mich auch schämen und denken, meinen Beruf verfehlt zu haben, wenn ich mich nicht als Besserwisser sähe. Was wären wir denn für Lehrer, wenn wir in unserem Fach nicht besser Bescheid wüssten als unsere Schüler? Nieten in Schlabberpullis!
Es mag altmodisch klingen, aber es lässt sich dennoch kaum bestreiten, dass ein guter Lehrer umfangreiches Wissen mitbringen sollte und eben nicht nur die Kompetenz zu wissen, wo man nachschlagen muss (wobei der gute Lehrer auch dies besser wissen sollte als seine Schüler). Denn spätestens seit Google, Bing oder Ecosia hätte sich der Beruf des Lehrers ansonsten überlebt. Besserwisser zu sein, was nach landläufiger Meinung zu Recht ein Charakterfehler ist, sollte für jeden Lehrer, der es ernst meint mit seinem beruflichen Anspruch, das höchste Prädikat sein. Und wir sollten auch den Mut haben, dazu zu stehen.
Gute Konstruktion vs. böse Instruktion
Nach heute gängiger Meinung sollte der Lehrer kein reiner Wissensvermittler mehr sein, ein Vorbild bestenfalls noch in sozialem Verhalten und ein Dozierender schon gleich gar nicht mehr. Die Rolle des Lehrers wird viel eher und benutzerfreundlicher als die eines Moderatoren und Helfers bei eigenen Wissensaneignungsprozessen gesehen. Instruktion ist „out“, ist „böse“, Wissenskonstruktion (so autonom wie möglich, versteht sich) ist „in“, ist „gut“.
Der Lerntheorie des Konstruktivismus zufolge verläuft der Prozess des Wissenserwerbs sehr individuell, was auch in der Tat nachvollziehbar erscheint. Jeder Lerner konstruiert sich quasi sein eigenes Wissen und organisiert dieses auch selbst, es geht also um einen Prozess der Schaffung eines eigenen Weltbildes und nicht um Reproduktion oder auch „Rekonstruktion“ vorhandenen Wissens. In der Unterrichtspraxis bedeutet dies, wo immer möglich, den Einsatz offener Lernformen und keine zu stark lenkenden Vorgaben, die von außen an den Lernenden herangetragen werden, da dessen eigenständige Wissenskonstruktion und der Aufbau des individuellen Weltbildes natürlich möglichst wenig beeinflusst oder gestört werden sollen.
Dementsprechend hat der Lehrer eben nicht mehr der Besserwisser zu sein, der die Antworten schon kennt, sondern er hat den Schülern helfend zur Seite zu stehen, wenn der Schüler und die Schülerin die stets eigenem, wachem Interesse entspringenden richtigen Fragen stellen. Richtig und falsch sind ohnehin längst überkommene, schlimmstenfalls faschistoide Kategorien, im etwas besseren Fall entspringen sie vielleicht noch religiösem Dogmatismus.
In Sachen Wissenskonstruktion ist man der Ansicht, alle Wege führten irgendwie nach Rom (wohl das weise, antike und nicht so sehr die katholisch-christliche Metropole, die sich genaugenommen ohnehin in Vatikanstadt befindet). Irgendwie, wenn auch auf Umwegen, wird der Schüler dann schon am Quell der Weisheit ankommen und so sein Wissen konstruiert haben, wie es für ihn ganz individuell von Nutzen sein wird.
Es ist natürlich zu hoffen, dass die hier umrissene halbwegs radikale Auffassung des Konstruktivismus, der fast völlig eigenständigen Wissenskonstruktion durch den Lernenden, bei der die Lehrkraft fast schon überflüssig ist, von niemandem für wirklich bare Münze genommen wird. Betrachtet man fachdidaktische Literatur und allgemeine Bildungstrends, so ist aber erschreckend, wie weit das Credo der guten Konstruktion und der üblen Instruktion verbreitet ist und wie wenig es akzeptabel oder gar modern scheint, dieses zu hinterfragen.
Selbstverständlich wollen wir keine Pauker der „alten Schule“ mehr sein, die alles besser wissen und die Schüler nur bevormunden und meinen, gar selbst etwas Besseres zu sein. Jeder einzelne Schüler (und seien die Klassen auch noch so groß) sollte tatsächlich mit all seinen individuellen Problemen und Vorzügen wahrgenommen werden. Den Jugendlichen wissensmäßig etwas „aufs Auge drücken“ zu wollen, ist natürlich keineswegs unsere Absicht.
Nur reizvolle Umwege?
Es fragt sich nur, inwieweit wir es unter solchen Rahmenbedingungen schon bald mit teils heillos überforderten Schülern zu tun haben und mit Lehrern, die mit dieser Berufsbezeichnung kaum mehr etwas zu tun haben (wollen). Achtung, jetzt möchte ich vom intellektuellen Anspruch her einmal in eine der unteren Schubladen greifen, denn ist es nicht die offensichtlichste Definition des Lehrerberufs, dass der Lehrer schlichtweg lehrt, unterrichtet, Wissen vermittelt? Sollte sich der Lehrer wirklich nur vornehm im Hintergrund halten und zusehen, wie sich Schüler immer und überall mühevoll ihr Wissen selbst erarbeiten und dabei auch viele oftmals unnötige Umwege gehen? Es versteht sich von selbst, dass Umwege auch in dieser Hinsicht sehr reizvoll sein können und man dabei viel Neues und Interessantes entdeckt. Gehe ich jedoch ganz ungalant von mir selbst aus, so hatte ich persönlich in manch naturwissenschaftlichem Fach nicht unbedingt das Interesse, mir auf vielen Umwegen Erkenntnisse in Sachen Biologie und Physik selbst zu erarbeiten. Vielmehr war ich stets froh, kompetente Lehrkräfte vor mir zu haben, die bereit waren, mir ihr Wissen zu vermitteln, weiterzugeben und mich im besten Sinne zu belehren. Schließlich war mir stets klar, dass deren Wissen meinem – logischerweise – bei Weitem überlegen war.
Konstruktivismus mag auf den ersten Blick aufgrund seiner Menschenfreundlichkeit, Experimentierfreudigkeit und des ihm innewohnenden demokratischen Prinzips höchst attraktiv erscheinen. Allerdings deckt ein naheliegender Vergleich die Schwächen auch sehr schnell auf. Man setze für Wissenskonstruktion die Konstruktion eines realen Gebäudes. Anstelle des Lehrers stelle man sich den Bauingenieur vor, der hoffentlich sein Fach versteht. Anstatt nun den Konstruktionsprozess zu steuern und zu leiten und vor allem einzugreifen, wenn die Konstruktion droht danebenzugehen (Einsturzgefahr!), steht der Ingenieur und Bauleiter nun nur am Rande, ist natürlich jederzeit bereit, Ratschläge zu geben, sofern er gefragt wird, hält sich ansonsten aber zurück. Die am Bau beteiligten werden bestimmt viel lernen und auch nicht mehr vergessen, wie das Gebäude möglicherweise mehrfach in sich zusammenstürzte, und spätestens beim dritten Mal haben sie dann auch den Grund dafür erkannt und werden künftig den Fehler nie mehr machen. Effizientes Arbeiten jedoch sieht anders aus, auch in der Schule.
Möglicherweise überschätzter Wissensdurst
Kommen wir also zu den teils überforderten Schülern – sicherlich nicht alle, denn es gibt ja durchaus sehr interessierte und begabte Schüler. Gerade diese, aber auch ihre eher durchschnittlichen Altersgenossen, könnten sicherlich vieles erreichen im Sinne der Wissenskonstruktion, wenn sie dies wirklich wollten. Die Frage ist jedoch, ob sie auch immer und überall wollen müssen. Wie bereits angedeutet, sind eben nicht nur die Geschmäcker, sondern auch die Interessen verschieden, und als Lehrer kann ich doch nicht allen Ernstes erwarten, dass jeder meiner Schüler meine Begeisterung für genau mein Fach teilt. Schließlich will auch ich sie alle als Individuen wahrnehmen mit durchaus unterschiedlichen Vorlieben und Interessen, die ihnen ja aus vollem Herzen zugestanden seien. Insofern ist kaum nachvollziehbar, dass man in seinem pädagogischen oder auch „nur“ methodisch-didaktischen Konzept davon ausgeht, dass jeder Schüler in jedem seiner meist ein Dutzend Schulfächer den inneren Antrieb hat, selbst entdecken und konstruieren zu wollen. Auch wenn wir davon ausgehen, dass die Schüler die Einsicht haben, dass sie aus verschiedensten Wissensbereichen etwas mitnehmen sollen, so kann doch nicht ernsthaft erwartet werden, dass ein normal begabter Schüler von seinem Wissensdrang in alle Richtungen zugleich gedrängt wird.
Insofern sollte der wirklich gute Lehrer sich auch immer wieder auf seine Aufgabe als Dienstleister besinnen, der im Vorfeld eine kluge und auch interessante Auswahl aus dem ihm hoffentlich bestens bekannten Wissensgebiet trifft und damit vorhandenes Wissen weiter fördert und dadurch möglicherweise erst zu eigener Wissenskonstruktion anregt. Man stelle sich also nur einen dem Konstruktivismus zutiefst verpflichteten Chemielehrer vor, der beispielsweise seinen Schülern den Hinweis gibt, dass es ja heute einen unheimlichen Schatz an Wissen über Chemie im Internet zu finden gibt. Nobelpreisträger lassen teilhaben an ihren Erkenntnissen, aber sicherlich auch fürs Einsteigerniveau (so kann innerhalb der Klasse zudem noch sehr gut differenziert werden) lässt sich herrlichstes Material finden. Bevormundet soll natürlich niemand werden, darum wird nun fröhlich im Internet gesurft und unglaubliches Wissen angehäuft. Der Lehrer selbst steht nur noch als Laborassistent zur Verfügung, der dann den Schülern alle verlangten Chemikalien aushändigt, damit sie dann alle munter vor sich hin experimentieren können. Die eine oder andere Explosion muss in Kauf genommen werden, aber am Ende sind alle unendlich viel schlauer.
In der Realität wird dies vermutlich nicht immer so und schon gar nicht so erfolgreich ablaufen, da der Schüler ja per Definition nicht die nötigen Vorkenntnisse hat, um das wirklich Spannende zu finden. Gerade hier bedarf es wohl des altmodischen Lehrers, der bereits eine geschickte Vorauswahl getroffen hat. Logischerweise muss das Wissen nicht immer im Frontalunterricht vermittelt werden, und gerade in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit dem vorhandenen Wissensschatz können oftmals bestimmt sehr tief greifende Erkenntnisse gesammelt werden, aber der Lehrer muss eben auch lehren. Eine Binsenweisheit, die aber heute leider oft vergessen wird über lauter Gruppenarbeit und selbstbestimmtem Lernen.
Mut zum Besserwissen
Selbstverständlich soll hier keine Rückkehr zu überkommenen Paukmethoden propagiert werden, aber etwas mehr Mut zum Besserwissen und zur unbescheidenen Vermittlung des besser Gewussten wäre durchaus oftmals wünschenswert. Der Ansatz sollte also nicht lauten, Konstruktion statt Instruktion, sondern zunächst geschickte, keineswegs menschenverachtende Instruktion. Auf deren gesicherter Basis kann es dann erst zur Konstruktion kommen. Oftmals wird dieser Schritt wohl an der Schule noch nicht zu erreichen sein, sehr wohl aber an der Universität. Und da wären wir abschließend wohl auch schon bei der Erklärung, wie die Vorstellung des Konstruktivismus – nach meiner bescheidenen Meinung: fälschlicherweise – an die Schulen geraten ist, und zwar durch Didaktiker, die sich per Definition an den Universitäten befinden und dort selbst ganz hervorragende Erfahrungen mit ihrer eigenen Wissenskonstruktion und der ihrer Studierenden gemacht haben.
Dass jedoch die pauschale Übertragung des Konzeptes auf allgemeinbildende Schulen fehlgeleitet ist, scheint recht offensichtlich. In den Schulen haben wir es ja eben nicht mit Studierenden zu tun, die sich freiwillig und sinnvoll auf wenige Wissensgebiete beschränkt haben und mit bestimmten Inhalten befassen. Vielmehr geht es um Schüler, die nolens volens einfach als Grundlage manches vermittelt bekommen müssen. Dass die Schüler nun nicht immer mit gleichem Elan und „Konstruktionseifer“ in jedem Fach zu Werke gehen (können), sollte jedem vernünftigen Lehrer einleuchten.
Der entscheidende Unterschied
Didaktik für Schule und Universität sollten also zwei grundlegend verschiedene Dinge sein, nur dass eben in diesem Fall unglücklicherweise die Didaktik für die Schule aus der Universität kommt. Dass der Erwerb der Muttersprache und einer Fremdsprache grundsätzlich verschiedene Dinge sind, wird wohl jeder schnell erkennen und einsehen, dass aber der Wissenserwerb in der Schule oftmals wenig mit autonomem Wissenserwerb im Erwachsenenalter zu tun hat, diese Erkenntnis muss in manchen (durchaus erwachsenen) Köpfen wohl erst noch reifen.
Fazit: Lehrer sind also in der Tat Besserwisser, sollten dies aber – sofern sie sich manierlich benehmen wollen – primär in der Schule sein. Das hoffentlich fundierte Besserwissertum hatte in der Schule schon immer seinen Platz, wird aber heute oftmals verschämt hinter „modernen“ Unterrichtsformen versteckt, in denen den Lernenden gar zu viel Autonomie aufgebürdet wird und es somit zu einer Überforderung kommt. Lehrer sollten also einfach wieder aus ganzem Herzen Dinge besser wissen dürfen und, anstatt umständliche Wissenskonstruktion zu moderieren, schlichtweg das tun dürfen, was in ihrer Berufsbezeichnung steckt: lehren.