02.09.2010

1000 Euro auf David

Essay von Sophie Linnenbaum

Schinken vs. E-Book. Woher dieses endgültige „Entweder – Oder“? Und wovor haben wir eigentlich Angst? Von Sophie Linnenbaum

Das Stadion tobt. Die eine Seite schmeißt wüste Beschimpfungen auf kleinen Zetteln in die gegnerischen Reihen, auf der anderen hackt man Beleidigungen in die Tastaturen, die Sekunden später über riesige Displays rollen. Ein Tor schwingt auf – und da ist es, den Schnitt golden poliert, das seidene Lesebändchen schwungvoll um den Bauch geschlungen, Ladies und Gentlemen: daaas Buuuch!

Ein bisschen altersmüde sieht es aus, doch ihm steht ein harter Kampf bevor. Es ist ein Kampf um die Vorherrschaft auf dem Weltmarkt, um Verkaufszahlen, um Leserschaft. Es ist ein Kampf gegen – ja, gegen was eigentlich? Der Gegner kommt in Bits und Bytes. Stark! Schnell! Federleicht! Sein Name ist Book, E-Book. Das Buch klappert drohend mit den Deckeln. Das E-Book blinkt gefährlich. Sie laufen aufeinander zu. Die Menge johlt, die Show beginnt! Traditionelles Buch gegen E-Book. Ein Kampf David gegen Goliath. Nur: Wer ist David, wer Goliath?

Seit Anfang 1999 die E-Books mit ihrem Marsch durch die Institutionen begonnen haben, zieht frischer Wind durch die staubige Luft der Bücherwelt. Während bei den einen Spannung und Vorfreude herrschen, malt man – pardon, projektiert man – andernorts den Teufel an die Wand. Dieser Teufel hat wahrhaftig Superkräfte. Ohne mit der Wimper zu zucken, schrumpft das E-Book den Inhalt eines Buches zu seinem digitalen Schatten zusammen. Und macht es so an jedem Bildschirm lesbar. Am heimischen Computer, im Freien am kabellosen Laptop, oder – Obacht – am speziell dafür entworfenen Lesegerät, dem Reader.

Und dabei ist so ein Reader nicht bescheiden. Im Schokoladentafelformat tummeln sich in seinem Inneren salmonellenartig mehrere Hundert Bücher. Mit bis zu 300 Gramm ist er ein Leichtgewicht – und gemeinsam mit den E-Books unübersehbar auf dem Vormarsch. So gelang es Amazon 2009 zum ersten Mal, mehr E-Books als gedruckte Bücher unter den Weihnachtsbaum zu bringen. Wem ein Reader zu sperrig ist, dem bleibt immer noch der Jugend liebstes Kind: das Handy. Ob klassische Texte oder spezielle Handyromane – bei Anruf lesen, lautet das Motto der Mobilebooks. Die Plots sind schnell, knapp, punktgenau und in 3-bis-4-Minuten-Häppchen unterteilt. Reader oder Handy – Wände voller Staubfänger, Bücherschleppen und die Suche nach dem richtigen Buch sind damit jedenfalls Vergangenheit.

Ja, die besonderen Vorteile des E-Books liegen auf der Hand. Die Zeiten der Papierknappheit, in denen man Mumien das Leinen vom Leib klauen musste, sind vorbei. Rohstoffmangel und Greenpeace’ mahnender Zeigefinger sind es nicht. Das elektronische Papier des E-Books-Konzepts, nie beschrieben und immer lesbar, schlägt das herkömmliche Buch in diesem Punkt. 1:0 fürs E-Book. Der Tintentod scheint besiegelt. Und kulturell? Der beschleunigte Produktionsprozess und die entschlackten Kosten könnten Nischentiteln und aufblühenden Nachwuchsautoren den Weg in die Bücherwelt ebnen – für mehr Farbe und Vielfalt in unserer Leselandschaft.

Das E-Book, omnipotentes Wunderkind und Heiliger des Buchbusiness also? Wir ziehen die zerfledderte Ausgabe der Unendlichen Geschichte von 1979 aus unserem Regal. Seht her, sagt das Buch, ich wurde gelesen – und geliebt. Denn, so sinnvoll das E-Book auf der einen Seite scheinen mag, so sinnlos ist es doch auf der anderen. Keine Seiten, in die man gefühlvoll fassen kann, kein Buchdeckel, um ihn geräuschvoll fallen zu lassen, kein Duft nach Druckerschwärze, keine Eselsohren, keine Prämierung zum „schönsten deutschen Buch“. Das Buch ist mehr als eine gebundene Ausgabe Nostalgie. Es ist Statussymbol und Lebensbegleiter im einem, und außerdem: Das Einzige, was man mit mehreren Hundert Büchern nicht tun kann, ist, sie auf einen Schlag zu verlieren.

So werden eifrig Pros und Kontras in die Waagschalen geworfen. Und doch bewegt sich nichts. Wie zwei verwirrte Kampfhähne stehen sich David und Goliath gegenüber. Warum sollen sie kämpfen? Woher dieses endgültige „Entweder – Oder“? Und wovor haben wir eigentlich Angst?

Die Unendliche Geschichte gibt es mittlerweile als Hörspiel, Hörbuch, Ballett, Oper, Musical, Theater und Computerspiel. Für das Buch ist trotzdem kein Ende in Sicht. Koexistenz statt Konkurrenz ist gefragt. Von dem japanischen Handybuch-Hit Deep Love wurden bereits 2,7 Millionen gedruckte Exemplare verkauft. Fachliteratur kann in digitaler Form immer brandaktuell und auf dem Laufenden bleiben. Und reduziert auf ein paar Klicks, durchbricht der Weg zum Buch die Mauern von Bibliotheken und Buchläden – ob als Paket oder E-Mail.

Während wir also in den eigenen Reihen ein heißblütiges Gefecht gegen Windmühlen führen, tobt an der Front ein viel härterer Krieg. Einen Verlust von mehr als vier Millionen Mann hat das Heer der Deutschen Leserschaft im Kampf gegen den Analphabetismus derzeit zu verzeichnen. Und die Zahl der Deserteure ist überwältigend. Nur 22 Prozent der Deutschen geben an, in ihrer Freizeit intensiv zu lesen, indes fast vier Mal so viele den Fernseher ihren regelmäßigen Begleiter nennen. Seien wir ehrlich: Hat nicht sogar der Teletext die Fernsehzeitschrift längst abgelöst? Wen kümmert es da noch, ob die Deutschen zu E-Book oder Buch greifen?

Aber es hilft alles nichts. Debatten und Diskussionen wollen kein Ende finden. Die Volksseele ist nicht zu beruhigen. Seit am 15. Juni 1993 das erste PDF die Welt erblickte, ist die Bücherwelt in heller Aufregung. Von Untergang und Ende ist die Rede, statt von Entwicklung und Fortschritt. Dass es Zeiten gab, in denen auch Papyrusrollen und Pergament dem papierenen Fortschritt zum Opfer fielen, ist vergessen. Das gute alte Buch droht, vom Markt verdrängt zu werden. Hinterrücks gemeuchelt quasi. Die Zuschauer stürmen die Arena. Ja, jetzt ist man mittendrin im Getümmel.

Und David und Goliath? Die sitzen gemütlich am Rande des Schlachtfeldes, weitab und unberührt vom Wortgefecht. Goliath wickelt seine Butterstulle aus einer alten Zeitung und beißt herzhaft hinein. Davids Handy piepst leise: „Um acht gibt’s Essen. Mama. PS: Du sollst nicht töten.“ Amen.

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