12.12.2011
Ein Hoch auf Amerika!
Kommentar von Alan Miller
Battle in Print: Der moderne Antiamerikanismus richtet sich nicht gegen eine Kultur ohne Tiefgang, sondern gegen die Kernidee des „amerikanischen Traums“.
Es ist populär, amerikakritisch zu sein. Von höhnischen Kommentaren über die verfettete Fast-Food-Nation und ihre TV-Trash- und Soap-abhängigen Einwohner bis hin zu hasserfüllten Beschreibungen eines imperialistischen Landes voller Dummköpfe reichen die gängigen Metaphern, mit denen in erster Linie europäische Snobs und sogenannte liberale und kritische Geister die USA charakterisieren. Die Abneigung gegenüber Amerika hat eine lange Tradition, wenngleich sie ursprünglich der Angst vor dem Pöbel entsprang und ihre Wurzeln in der europäischen Reaktion gegen die Amerikanische Revolution des 18. Jahrhunderts hatte. Unsere moderne Welt, die uns dazu ermutigt, Stärke, hohe Erwartungen und die Annahme, wir könnten unser Leben positiv gestalten, kritisch zu sehen, hat auch den Mut und die Zuversicht, die für frühere amerikanische Generationen kennzeichnend waren, in Mitleidenschaft gezogen. Viele Amerikaner teilen heute diese eher pessimistische Weltsicht und betrachten ihr Land mit Scham und Abscheu.
Bedauerlicherweise wird ein Großteil der Kritik am „American way of life“ nicht von einem ernsthaften Wunsch nach kultureller Weiterentwicklung getrieben. Vielmehr reflektieren sich hier intellektuelle Ermüdungserscheinungen und ein wachsender Zynismus gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen. Sowohl viele Kommentatoren als auch Teile der Öffentlichkeit beschränken sich darauf, auf eine sehr kindische Art die Amerikaner ob ihrer vermeintlich extrem inhaltsleeren und oberflächlichen Kultur zu diffamieren. Es scheint, als ob die einst durchaus konstruktive Kritik an der US-amerikanischen Außen- und Innenpolitik immer mehr zu einer oberflächlichen Haltung degeneriert, auf deren Basis man sich auf die „dummen Amis“, die die Welt verblöden, einschießt. Selbstverständlich liegt es in einer Zeit, in der „small is beautiful“ zu einem dominierenden gesellschaftlichen Gefühl aufgestiegen ist und wir darauf bedacht sind, generell möglichst wenige Spuren zu hinterlassen, überaus nahe, das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“, der großen Konzerne und des Massenkonsums ob seiner Maßlosigkeit zu geißeln. Das Traurige hieran ist, dass so einige der größten menschlichen Errungenschaften kurzerhand zu Bedrohungen umgedeutet werden. Ein gutes Beispiel dafür ist der viel gescholtene Burger, der Inbegriff des Überflusses, der aber eigentlich Symbol einer beispiellosen Erfolgsgeschichte ist: der Überwindung objektiver Lebensmittelknappheit. Gelänge es uns, diesen Fortschritt zu globalisieren, könnten wir der fortdauernden Hungerkatastrophe in vielen Teilen der Welt ein Ende setzen und wöchentlich Zehntausende Menschenleben retten.
Charakteristisch für den modernen Antiamerikanismus ist die kulturelle Sprache, in der er verfasst ist. „Kultur“ wird zunehmend für Entwicklungen zur Verantwortung gezogen, auf die sei keinen Einfluss hat. Während also einerseits Loblieder auf sie gesungen werden, die sie nicht verdient, wird an anderer Stelle Kritik nicht geäußert, die sie verdient hätte. Wenn heute von der amerikanischen Kultur die Rede ist, so werden ganz verschiedene Dinge gemeint. Die prominenten amerikanische „bad guys“ sind Wal Mart, Starbucks, McDonald’s, die Pharmaindustrie und multinationale Konzerne. Die ihnen gemeinsame, als abscheulich und verwerflich empfundene Eigenschaft besteht darin, expandieren und ihre Produkte möglichst vielen Menschen offerieren zu wollen. Es ist ihre schiere Größe und Reichweite, die ihre Kritiker auf die Palme bringt – sowie natürlich die Naivität und Charakterlosigkeit all der Menschen, die den „bad guys“ auf den Leim gehen. In den wenigsten Fällen wird diese Kritik als eine auf die tatsächlichen Produkte gezielte ästhetische Kulturkritik geäußert, stattdessen richtet sie sich sehr häufig gegen die Menschheit an sich. Amerika gilt hier als der Höhepunkt dessen, zu was Menschen und Gesellschaften in der Lage sind. Viele dieser Errungenschaften und Erfolge geraten jedoch aus dem Blickfeld, denn eine weit verbreitete Desillusionierung und die immer wiederkehrende Frage, ob wir als Menschen womöglich zu weit gegangen seien, trüben und verengen den Blick.
Anstatt den Weg, den die Menschheit bereits zurückgelegt hat, mit Stolz und Ehrfurcht zu betrachten, werden wir permanent dazu angehalten, Fortschritte ängstlich zu beäugen und unsere Erwartungen an die Zukunft herunterzuschrauben. Die Vorstellung, wir Menschen seien eine zerstörerische, größenwahnsinnige und gefährliche Spezies, die die Welt an die Wand gefahren habe, ist prägend für unsere Geisteshaltung. In den Einstellungen und Argumenten der Umweltbewegung äußert sich dieses Menschenbild in einer besonders reinen und ungefilterten Art und Weise. Die USA und ihre Menschen, einst gepriesen und bewundert für ihren Mut und ihre Fähigkeit, wilde und karge Steppen in kurzer Zeit zu fruchtbarem Ackerland umzugestalten, gelten heute als Inbegriff für all das, was in unserer Welt schiefläuft.
Dennoch: Wenn wir ernsthaft über Kultur sprechen, ganz gleich welcher Art und Komplexität, so kommen wir nicht umhin zu konstatieren, dass die USA die Welt in den letzten 100 Jahren stärker geprägt haben als jede andere Nation. Sei es in der Literatur, mit ihren historischen Größen wie Hemingway, Faulkner, Steinbeck, Melville, Dreiser, Styron oder in jüngerer Zeit Cormack McCarthy, Philip Roth, Tom Wolfe und Jonathan Safran Foer oder mit ihren Dramatikern wie Eugene O’Neill, Arthur Miller, Tennessee Williams und David Mamet – die US-amerikanische Sonderstellung ist offensichtlich. Einzigartig ist auch der Kanon amerikanischer Kulturmagazine: New Yorker, Paris Review, National Journal, Poets and Writers, Weekly Standard, The American Prospect und Humanities stellen hier nur die Spitze eines Eisbergs dar. Ähnlich gestaltet sich der amerikanische Beitrag zur globalen Kultur des Films: Koryphäen wie Francis Ford Coppola, Martin Scorsese, Steven Spielberg, Stanley Kubrick, Spike Lee, Christopher Nolan, Darren Aronofsky und eine Armada weiterer hochrangiger Regisseure produzieren hochkarätige Filme am laufenden Band. Manche erklären dies damit, dass jenseits des Atlantiks schlicht und ergreifend mehr Geld in die Kultur gepumpt werde. Fakt ist aber: Die US-Kulturindustrie investiert intensiv in die Produktion von Kulturgütern – und dies ist eine Möglichkeit, um den Standard kultureller Exzellenz zu erreichen und weiter anzuheben.
Im Bereich der Musik ist es geradezu beschämend, überhaupt an die Sonderstellung der USA erinnern zu müssen: Von Blues und Bluegrass über Jazz bis hin zum Musical – Amerika hat der Welt unvergessene, großartige Kunst geschenkt, die noch heute jeden Qualitätscheck mühelos meistert. Der globale Einfluss amerikanischer Künstler wie George Gershwin, Aaron Copland, Dizzie Gillespie, Fats Domino, Jimi Hendrix, Bob Dylan und Michael Jackson kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es ist nicht nur die amerikanische Popmusik, die sich weltweiter Popularität erfreut, auch die Welt der klassischen Musik blickt gebannt auf Amerika: nicht nur auf die Kulturinstitutionen von Weltrang wie das Lincoln Center, das New York Symphony Orchestra, die Metropolitan Opera, das New York Ballet, die New York City Opera und die Carnegie Hall, sondern auch auf die Opernhäuser in Boston, Chicago, Philadelphia, St. Louis und Los Angeles. Zudem haben sich in den meisten amerikanischen Städten lebendige selbstfinanzierte Kulturgemeinschaften entwickelt. Beeindruckend ist auch der Einfluss von George Balanchine auf die Kultur des Tanzes oder der von Martha Graham, Alvin Ailey, Mark Morrison und anderer junger Künstler und junger Unternehmen, ganz zu schweigen von den unzähligen Theatergruppen und Tanzensembles jenseits des Broadway, die im ganzen Land die Häuser füllen.
Selbstverständlich haben die USA auch jede Menge Schrott und überflüssigen Klamauk produziert, wie alle Nationen dieser Welt, die Gefahr laufen, ihre kulturelle Orientierung zu verlieren und davor zurückschrecken, in ihre Kunst zu investieren und ihre Künstler zu entwickeln. Doch die Vorstellung, man begegnete, sobald man New York in Richtung Westen verlasse, vorrangig dumpfen und engstirnigen Bauern und Proleten, ist so falsch wie typisch für die modernen Ausprägungen reiner Menschenverachtung. Ein Besuch in einem der großen Museen und in einer der Kunstgalerien öffnet einem die Augen: In großer Zahl drängen interessierte Menschen durch die Gänge und Räume, um die Erzeugnisse großartiger Kultur zu bestaunen und sich von ihnen inspirieren zu lassen.
Schon eine Fahrt in der U-Bahn offenbart die Absurdität antiamerikanischer Vorurteile. Jenseits der viel beschworenen Geistlosigkeit werden dort die New York Times, das Wall Street Journal, The Economist, The Nation sowie eine Vielzahl von Büchern verschiedenster Genres verschlungen. Und obwohl auch die amerikanische Zeitungslandschaft krisenbedingt von Kahlschlag bedroht ist, verfügen die USA noch immer über eine stattliche Anzahl beeindruckender Print-Publikationen. Zugleich sind sie führend in modernen Kommunikationsformen und Technologien: Die besten Online-Nachrichtenportale, Blogs und Netzwerke sind amerikanischen Ursprungs, gar nicht zu reden von Zukunftstechnologien wie der Biotechnologie und anderen Wissenschaften. Nicht zuletzt ist auch der Sport Ausdruck und Bestandteil einer zivilisierten Hochkultur. Natürlich gibt es auch Trash-TV, unsägliche Motels, unansehnliche Architektur und überflüssige Literatur – dies sollte uns jedoch eher dazu motivieren, mehr Entwicklung und Fortschritt zu wollen, und nicht weniger.
All diese offenkundigen kulturellen und sozialen Bereicherungen, die uns Amerika bietet, verschwinden in der Wahrnehmung des modernen Antiamerikanismus. Stattdessen werden McDonald’s und Coca-Cola, die in jedem noch so armen Land der Erde Fuß gefasst haben, zu Insignien des globalen Verfalls „made in America“ erhoben. Wir sollten uns der Einseitigkeit dieses Denkens bewusst sein: Was sich als Diskussion über kulturelle Niveaulosigkeit gebärdet, ist in Wirklichkeit nichts anderes als ein Generalangriff auf die globale menschliche Zivilisation und die Vorstellung, dass Menschen ihre Welt selbst gestalten können und sollen. Das Beste am „amerikanischen Traum“ – und zugleich das, wogegen der moderne Zeitgeist am stärksten rebelliert – liegt in der Überzeugung, dass wir Kontrolle über unser Leben haben und es autonom gestalten können. Wer sich über schlechte Fernsehprogramme ärgert, der sollte genau diese Idee vehement verbreiten und sie über die gegenwärtigen Vorstellungsgrenzen hinaus weiterentwickeln.
Zudem ist es nützlich, sich daran zu erinnern, dass Amerika wie keine andere eine im eigentlichen Sinne globale Nation darstellt. Die Marke Levis entstand ursprünglich aus der Zusammenarbeit zweier europäischer Einwanderer, die Stoffe, welche sie von italienischen Hafenarbeitern bekamen, mit Hosen aus Deutschland zusammenfügten und so die „typisch amerikanische“ Jeans entwickelten. Genau das ist es, was Amerika am besten kann: Altes zusammenfügen, verbinden und so Neues schaffen. Ähnliches lässt sich heute in China, Indien und Brasilien beobachten. Schon in naher Zukunft wird es in China mehr Kinos geben als in den USA. Wir sind Zeugen der Verschmelzung von Technologie und Kunst, die einer Kultur in völlig neuer Qualität den Boden bereitet. Doch während dies bereits geschieht, überschattet fortschrittsfeindliches und wachstumskritisches Denken die öffentliche Wahrnehmung dieser großartigen Entwicklung. Es ist an der Zeit, den Antiamerikanismus als das bloßzustellen, was er ist: ein erbärmlicher Angriff auf das menschliche Streben nach Fortschritt und einer besseren Zukunft, spärlich maskiert als pseudo-intellektuelle Kulturkritik. Gelingt dies, wird sich unser kulturelles Kapital und Potenzial sprunghaft vergrößern.