19.08.2010

Nehmen Sie ein Taxi!

Kommentar von Peter Heller

Erfolgreiche Innovationen lösen die Widersprüche in den Nutzerforderungen nach Robustheit, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit kompromisslos auf. Die derzeitige Konzentration staatlicher Fördermittel auf alternative Energien und batteriebetriebene Elektrofahrzeuge berücksichtigt diese Tatsache nicht.

Der Vertreter des Energiekonzerns hatte sich redlich Mühe gegeben, die Zuhörer von den Vorzügen des batteriegespeisten Elektroautos zu überzeugen. Wenn man dann abends nach Hause käme, müsse man das Fahrzeug nur noch an die heimische Ladestation anschließen. Der Konzern, so das Mantra seiner Ausführungen, würde den Ladevorgang automatisch zu den Zeiten mit dem billigsten Stromangebot durchführen. Und als dem Publikum anschließend erlaubt wurde, Fragen zu stellen, traute sich der junge Student drei Plätze neben mir als Erster. „Ich komme also nach Hause“, so seine Frage, „und wenig später muss ich ins Krankenhaus. Die Batterie ist noch nicht aufgeladen, was nun?“ Mühsam um eine Antwort ringend sah sich der Vortragende einem Zwischenruf aus dem Auditorium ausgesetzt: „Dann nehmen Sie ein Taxi!“ Allgemeines Gelächter, und die positive Grundhaltung gegenüber dem Elektroauto schlug rasch in ihr Gegenteil um.

Alles ist möglich?

Der typische Vortrag eines Futurologen heutzutage ist ein Blitzlichtgewitter der Möglichkeiten. Oft 100 Folien oder mehr ergeben einen Film mit stehenden Bildern. Fotos und Zeichnungen mit allerlei Fiktionen, die aus der wahllosen Verknüpfung von denkbaren Fortschritten in Nano-, Bio- und Informationstechnologie bestehen. Dabei entstehen Mythen, die in den Köpfen der Menschen eine eigene Realität schaffen und so den merkwürdigen Status einer Quasi-Existenz einnehmen. Der intelligente Kühlschrank, der mit seinem Inhalt und mit dem Supermarkt kommuniziert, ist so ein Beispiel. Keiner braucht ihn, keiner hat ihn, keiner kann ihn kaufen, aber es gibt kaum ein Symbol für unser Bild der Zukunft, das sich tiefer in die Köpfe der Menschen eingegraben hat. Viele Prognosen aus den 50er-Jahren und davor muten heute seltsam albern an: die Besiedelung der Ozeane und des Weltraums, Fabriken in der Schwerelosigkeit, gigantische Magnetschwebebahnen und gewaltige Überschall-Fluggeräte zur Verbindung der Kontinente.

Spätestens seit Herman Kahn und Anthony Wiener im Jahr 1967 ihr Buch Das Jahr 2000 veröffentlicht hatten, ist diese Art der Prognostik salonfähig. Der ungebremste Fortschrittsoptimismus ist nur scheinbar einem eher skeptischen Blick gewichen. Fragestellungen ökologischer Natur und Ängste vor der Knappheit natürlicher Ressourcen reduzieren die Kreativität der Zukunftsforscher in Wahrheit nicht. Das atomar betriebene Automobil weicht dem mit Windstrom geladenen Batteriefahrzeug. Seine kurvenreiche und schnittige Hollywood-Optik aber bleibt. Das Fusionskraftwerk heißt jetzt Desertec, und der Kernreaktor für jedermann ist nun ein mit Gasmotor betriebenes Kleinkraftwerk für das Einfamilienhaus. 100 konkrete technische Innovationen haben Kahn und Wiener in ihrem Werk vorhergesagt. Und etwa die Hälfte davon wurde tatsächlich realisiert. Ist die Zukunftsforschung bei einer Trefferquote von 50 Prozent nur ein Ratespiel, das jeder Laie mit gleichem Erfolg wie der Fachmann durchführen könnte?

Aber wofür ist es gut?

Die Antwort auf diese Frage liegt in den Prognosen Kahns und Wieners, die sich als zutreffend erwiesen haben. Denn es hat sich fast alles aus dem Bereich der Informations- und Kommunikationstechnik bewahrheitet. Man hat 1967 nicht nur den PC und seine Bedeutung für Büro und Freizeit korrekt vorhergesagt, sondern auch den Videorekorder, Satellitenfernsehen, Homebanking, Industrieroboter, Verkehrsmanagementsysteme und das Handy. Aus den Bereichen Energie, Mobilität und Gesundheit dagegen ist kaum eine der Prophezeiungen wahr geworden. Von programmierten Träumen über artifizielle Monde zur nächtlichen Beleuchtung großer Flächen bis hin zu U-Booten für den Frachttransport reichen die Bilder, über die man heute schmunzeln kann. Ach ja, das batteriebetriebene Elektrofahrzeug sollte nach Kahn und Wiener ebenfalls bis zum Jahr 2000 den PKW-Markt dominieren.

Technische Trends sind die eine Seite der Medaille, und natürlich konnten kluge Menschen bereits 1967 die Leistungsexplosion in der elektronischen Datenverarbeitung durch die Miniaturisierung der Schaltkreise vorhersehen. Aber auch Materialwissenschaften, Bio- und Gentechnologie, die Kognitionswissenschaften und selbst so profane Dinge wie die Effizienz von Verbrennungskraftmaschinen haben eine enorme Entwicklung genommen. Warum also hat der integrierte Schaltkreis eine solche Bandbreite an neuen Möglichkeiten, an erfolgreichen Produkten nach sich gezogen; Leichtbaumaterialien, Nanostrukturen und die Erkenntnisse über Aufbau und Funktion der DNA aber bisher nicht oder nur sehr eingeschränkt? Weil Kahn und Wiener ebenso wie fast alle Zukunftsforscher den Nutzer vergessen haben, den Kunden. Den, der am Ende mit seinem Geldbeutel über den Markterfolg einer Innovation entscheidet und sich daher fernab jeglicher Träumereien immer sehr rational die Frage stellen muss: Aber wofür ist es gut?

Nutzeransprüche an den technischen Fortschritt

Jede technische Innovation zeichnet sich durch eine spezielle Nutzfunktion aus, die sie für den Anwender attraktiv macht. Und er bewertet diese Nutzfunktion nach drei Kriterien:

  • Robustheit: Der Nutzen muss verlässlich und verfügbar sein.
  • Sicherheit: Die Anwendung des Produktes darf keine Gefährdung beinhalten.
  • Wirtschaftlichkeit: Der Wert, den der Nutzen für den Kunden annimmt, muss die Kosten für Anschaffung und Betrieb übersteigen.

Jede Innovation wird vor diesem Hintergrund mit den bereits vorhandenen Möglichkeiten verglichen. Und wenn sie schlechter abschneidet, setzt sie sich nicht durch. Die selbstreinigende Oberfläche ist daher trotz einiger Nischenanwendungen bislang nicht über den Status einer technischen Spielerei hinausgekommen. Denn eine robuste Beschichtung, die dauerhaft mechanischen Einwirkungen standhält, konnte bislang nicht realisiert werden. Das dreidimensionale Drucken ist keinesfalls, so wie Kahn und Wiener es vermuteten, in Privathaushalten verbreitet. Denn es bietet nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten bei erheblichen Kosten. Die Menschen erkennen keinen Vorteil darin, einfache Produkte wie Zahnbürsten, Teller oder Bestecke individualisiert selbst zu erzeugen, solange die herkömmliche Massenproduktion diese in breiter Gestaltungsvielfalt zu konkurrenzlos günstigen Preisen anbietet.

Und außerdem stehen diese drei zentralen Nutzeransprüche an Technik oft in Widersprüchen zueinander. Für eine höhere Sicherheit müssen mitunter Abstriche bei der Verfügbarkeit hingenommen werden. Die Reise mit dem PKW, die nicht auf definierten und überwachten Infrastrukturen mit professionellen Fahrzeugführern stattfindet, beinhaltet ein deutlich höheres Risiko zu verunfallen als eine mit Eisenbahn oder Flugzeug. Letztere allerdings erfordern den Verzicht auf individuelle Planung und die Anpassung an Fahrpläne. Sicherheit und Wirtschaftlichkeit sind ebenfalls oft Antipoden. Sicherheitssysteme verursachen Kosten und steigern eher nicht die Effizienz eines technischen Systems. Der Konflikt zwischen Wirtschaftlichkeit und Verlässlichkeit wurde in Großbritannien im Dezember 2009 besonders deutlich, als erstmals seit 50 Jahren wieder eine Dampflokomotive im Linienverkehr eingesetzt wurde. Die extreme Kälte führte zum Stillstand der elektrischen Triebwagen. Dampfmaschinen verbrauchen viel Energie, sie haben einen geringen Wirkungsgrad, sind dafür aber wetterfest.

Letztendlich ist die Anwendung jedes technischen Systems aus Nutzersicht mit einem Kompromiss verbunden. Und – so lehrt der Blick auf die erfolgreichen Vorhersagen der Vergangenheit – es setzen sich genau die technischen Innovationen am Markt durch, die das Ausmaß dieses Kompromisses verringern. Die also den Gegensatz zwischen den drei zentralen Ansprüchen der Anwender an eine Nutzfunktion widerspruchslos auflösen.

Das Handy ermöglicht das Telefonieren jederzeit und überall und bietet darüber hinaus noch zahlreiche nützliche Zusatzfunktionen. Seine Wirtschaftlichkeit ermöglicht vielen Menschen mittlerweile den Verzicht auf einen Festnetzanschluss. Das batteriebetriebene Elektrofahrzeug hingegen weist bis heute eine Reihe an Defiziten auf. Es ist in der Anschaffung deutlich teurer als ein herkömmlicher PKW, hat eine geringere Reichweite und steht während des Ladevorgangs für längere Zeit nicht zur Verfügung. Viele Sicherheitsaspekte, von der Brandgefahr der Akkumulatoren bis hin zu einer möglichen Spannungsübertragung auf die Karosserie bei Unfällen, sind noch immer nicht geklärt. Natürlich, darauf weisen ja viele Zukunftsforscher immer hin, etwa 85 Prozent aller unserer Mobilitätswünsche kann ein Elektromobil erfüllen. Aber wer gibt 40.000 Euro für ein Fahrzeug aus, wenn er auch eines für 30.000 haben kann, das den Ansprüchen zu 100 Prozent nachkommt?

Es liegt im Wesen des Menschen, nicht nur in den realisierten, sondern auch in einen potenziellen Nutzen zu investieren. Wenn PKWs die meiste Zeit des Tages unbenutzt herumstehen, sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie genau deswegen angeschafft wurden. Damit sie bereit sind, falls man sie braucht. Es ist das unvorhersehbare, das unplanbare Mobilitätsbedürfnis, für das ein Auto gekauft wird. Ebenso wie man eben nicht den ganzen Tag telefoniert, das Handy aber trotzdem ein ständiger Begleiter ist. Neben Mobilität und Kommunikation ist der Zugang zu Energie, zu Wärme, Treibstoffen und vor allem zu Elektrizität ein weiteres zentrales Grundbedürfnis. Es wird erwartet, immer genug Strom beziehen zu können, ganz gleich, welche Verbraucher im Haushalt wann eingeschaltet werden. Und das gegenwärtige Stromnetz erfüllt diesen Anspruch in idealer Weise. Es ist auf eine Steuerung ausgelegt, die das Angebot nach dem Bedarf regelt. Stromkunden zahlen auch für das Versprechen einer Bedarfserfüllung zu jeder Zeit zu jedem Zweck. So, wie ein PKW potenzielle Mobilität und ein Handy potenzielle Kommunikation ermöglicht, ist die Stromversorgung auf potenziellen Bedarf ausgerichtet.

Denkfehler der staatlichen Innovationsförderung

Die bunten Bilder der möglichen technischen Systeme, die die Zukunftsforscher entwerfen, sind nicht ohne Einfluss auf das politische Handeln. Denn man kann aus dem Strauß der Möglichkeiten nur zu leicht diejenigen auswählen, die scheinbar eine Lösung für ausgedachte oder reale Probleme beinhalten.

Kahn und Wiener haben eben nicht nur Farmen am Grund des Ozeans, die Wetterkontrolle und interplanetare bemannte Raumfahrt vorhergesagt, sondern auch die Umstellung auf alternative Energien und Elektrofahrzeuge. Und das alles bis zum Jahr 2000. Über die Jahrzehnte des zunehmenden ökologistischen Einflusses auf die Wirtschafts- und Innovationsförderung hinweg haben sich diese Vorstellungen weiter verfestigt. Elektromobilität und „smarte Stromnetze“ sind in der Parallelwelt katastrophaler Klimaveränderungen und nicht minder schrecklicher Ressourcenverknappungen ebenso quasi-existent wie der intelligente Kühlschrank.

In den staatlichen Subventionen und vom Bürger zwangsweise abgeforderten Zahlungen für alternative, stark in ihrer Leistung schwankende Energieformen wie Windkraft oder Photovoltaik, hinter „smarten Netzen“ und „intelligenten Stromzählern“ tritt letztendlich auch der Denkfehler der Zukunftsforschung offen zutage. Der gewünschte Umbau der Stromversorgung ist zwingend auf eine Änderung des Nutzerverhaltens ausgerichtet. Man soll, so die Kernidee, in Zukunft seinen Bedarf am Angebot ausrichten. Und eben dann waschen, kühlen und sein Auto aufladen, wenn es Wind, Sonne und Netzbetreiber erlauben. Im Idealfall, so auch die Vorstellung des Konzernvertreters vom Anfang, bestimmt der Stromversorger automatisch, wann dies geschieht. So wird nicht nur die Fahrbereitschaft des Elektromobils ferngesteuert wiederhergestellt, auch die Waschmaschine und andere Haushaltsgeräte unterliegen äußeren Zwängen.

Und wenn man doch zwischendurch ein wichtiges Kleidungsstück reinigen will, bleibt nur die gute alte Handwäsche. Denn die Fahrt zur Reinigung ist leider auch nicht mehr möglich, das Elektroauto steht in der Garage und wartet auf Strom. „Dann nehmen Sie ein Taxi“, hier kann man den oben zitierten Zwischenrufer wieder aufgreifen.

Eine Zukunft voller Taxis?

Politik, Wirtschaft und Wissenschaft täten besser daran, sich an den Empfehlungen der Zukunftsforschung auszurichten, die die Wünsche des Nutzers berücksichtigen. Die Bedarfe des Kunden entscheiden über Erfolg und Misserfolg einer technischen Innovation. Und der Anwender bevorzugt die Innovationen, die seinen Bedürfnissen nach Energie, Kommunikation und Mobilität optimaler nachkommen als bisherige Möglichkeiten. Weil sie Widersprüche zwischen Robustheit, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit kompromisslos auflösen.

Die derzeit mit erheblichem Mitteleinsatz propagierte Verquickung von Wind- und Sonnenergie, von auf Angebotsdefizite ausgerichteten Stromnetzen und batteriebetriebenen Elektrofahrzeugen ist in keiner Hinsicht eine solche ideale Verbesserung. Und damit keine potenziell erfolgreiche Innovation. Denn wenn das Endspiel stattfindet und kein Strom verfügbar ist? Dann braucht man den Dieselgenerator aus dem nächstgelegenen Baumarkt. Sofern man rechtzeitig ein Taxi findet.

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