10.12.2011
Therapeutische Erziehung macht krank
Essay von Jennie Bristow
In ihrem neuen Buch The Dangerous Rise of Therapeutic Education zeigen Kathryn Ecclestone und Dennis Hayes, wie die unbedachte Einführung von emotionaler Intelligenz als Schulfach junge Menschen dahingehend erzieht, die eigene Emotionalität einer Kontrolle durch Autoritäten auszuliefern.
„Es hat sich Entscheidendes geändert, wenn junge Menschen mehr über sich selbst als über die Welt wissen wollen.“ (M. Tayler, Geschichtslehrer an einer Schule in London)
Fragt man Erzieher, Eltern und Politiker, was am britischen Erziehungssystem falsch sei, so klagen viele über ein Übermaß an stressigen, demotivierenden Prüfungen, ein irrelevantes, langweiliges Curriculum, die Unausgewogenheit zwischen akademischer und Berufsausbildung, einen Anstieg an Mobbing, einen Rückgang an Engagement unter einer wachsenden Zahl von jungen Menschen sowie einer von sozialer Diskriminierung verursachten Schieflage zwischen Teilhabe und Erfolg. Die Befragten werden auch zahlreichen Berichten zustimmen, wonach die britischen Kinder die unglücklichsten, die am stärksten belasteten und ängstlichsten in Europa sind, die vor allem Möglichen Angst haben: vor einem Mangel an persönlicher Sicherheit, vor der Konsumgesellschaft, vor dem Verlust von Freunden oder der globalen Erwärmung.
Nur wenige unter ihnen werden die Vorstellung infrage stellen, dass wir eine mentale und emotionale Krise unvorhergesehenen Ausmaßes haben, verbunden mit der Unterstellung, dass der Materialismus der westlichen Gesellschaften, schlechte Betreuung durch Eltern und der Druck der Schule sowie das moderne Leben die Kindheit für die Mehrheit der Kinder vergiften. Man mag ja mit Neurologen übereinstimmen, dass schlechte Betreuung durch die Eltern die emotionalen Rezeptoren im Gehirn schädigt und so „nurturing interventions“, unterstützende Maßnahmen zur Förderung der Entwicklung, in Kindergärten und Grundschulen nötig sind. Eine große Mehrheit wird sogar dafür sein, dass Schulen weitaus mehr für die Entwicklung und Förderung des emotionalen Wohlbefindens tun. Diese Anliegen verschleiern jedoch eine tiefe Sinnkrise, die einen Wandel verursacht, der folgenreicher ist als das Angedachte. Es ist der gefährliche Anstieg therapeutischer Erziehung, mit weitreichenden Implikationen hinsichtlich Erziehungszielen und -praktiken und somit der Wege, auf denen Erziehung eine spezielle Vorstellung von Menschsein fördert.
Die Erfolgsgeschichte therapeutischer Erziehung
Von der britischen Regierung mit Enthusiasmus gefördert und von einer überwältigenden professionellen und kommerziellen Industrie begleitet, begutachtet eine Flut von Hilfsprogrammen im gesamten Erziehungssystem die emotionalen Bedürfnisse und die wahrnehmbare emotionale Verletzbarkeit von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen und beansprucht, die emotionale Bildung und das Wohlbefinden dieser Gruppen zu entwickeln. Von drei Jahren aufwärts müssen Kinder im gesamten Erziehungssystem an täglichen Aktivitäten wie circle time (einer Art gruppendynamischer Veranstaltung), Kursen in Philosophie für Kinder, Ernährungskursen, peer mentoring (therapeutische Begleitung von Jüngeren durch Ältere) sowie buddy schemes (Freundschaftszirkeln) teilnehmen. Ab dem zehnten Lebensjahr können sie sich drama workshops zum Thema Traumatisierung durch Schulübertritt anschließen oder Zeit in Staatsbürgerkunde investieren, damit sie empathische Bürger mit emotionaler Intelligenz werden.
Andere Fächer wie Geschichte, Englisch und Biologie sollen auch für die Schulung in emotionaler Intelligenz instrumentalisiert werden. An den Universitäten und Colleges erhalten die Studenten Einführungskurse mit emotionaler Unterstützung, und Vorlesungen und Selbsteinschätzungsübungen zielen darauf ab, Selbstachtung zu fördern und den Studierenden ein positives Selbstwertgefühl zu vermitteln. Sie können an Gruppensitzungen teilnehmen, die ihr anfängliches Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen bewerten sowie den Fortschritt darin festhalten. Dazu gibt es Tutorials, die ihre emotionale Rückmeldung auf die jeweiligen Kurse aufzeichnen. Am Arbeitsplatz konzentrieren sich Aktivitäten auf den Umgang mit Stress, Nachstellung, Mobbing, persönlicher Wertschätzung sowie Leistungskontrollen und in zunehmendem Maße auf das Feedback zur Arbeit.
Ein wachsendes Heer von Jugendlichen unterstützt professionelle Aktivitäten zur Förderung des emotionalen Wohlbefindens einer wachsenden Anzahl von Heranwachsenden. Sogenannte buddy schemes in weiterführenden Schulen bilden 14-Jährige in Beratungstechniken aus, damit sie als Mentoren für Elfjährige bei deren Übertritt in weiterführende Schulen tätig werden können: Eines dieser Projekte im Südwesten Englands heißt Angels: „A nice guy every time life sucks“ (Dein Engel – ein netter Kerl, wenn’s mal hart wird). Ein anderes Projekt versucht, Schulabgänger als Mentoren in die Schulen zurückzuholen, während Studierende an den Universitäten eine Bewertung ihrer Aktivitäten als Mentoren ihrer Kommilitonen in ihre Abschlussqualifikation einfließen lassen können. Lehrer, Assistenten im Lehrbetrieb, Eltern und Personal im Versorgungsbereich, wie etwa Angestellte in den Kantinen, können Kurse besuchen, die sie als „emotional nurses“ qualifizieren und in denen sie ihre eigene emotionale Intelligenz und ihr Wohlbefinden entwickeln können. Es gibt zudem ein rapide anwachsendes Interesse unter Politikern und den Vertretern der genannten Aktivitäten, den Schwerpunkt von der Entwicklung emotionaler Intelligenz und der Förderung emotionalen Wohlbefindens hin zur Vermittlung des Glücklichseins zu verlagern.
Was ist therapeutische Erziehung?
Aktivitäten dieser Art betten populistische Annahmen in den gesamten Erziehungsprozess ein und deuten damit an, dass emotionales Wohlbefinden, emotionale Intelligenz sowie emotionale Kompetenz die entscheidenden Ziele des Erziehungssystems sind. Jede Aktivität, die aufkommende emotionale Probleme fokussiert und darauf abzielt, Bildungsinhalten und Lernprozessen größere emotionale Relevanz zu verleihen, ist therapeutische Erziehung.
Zugegebenermaßen stimmt die Definition derartiger Aktivitäten, die hier als „therapeutisch“ bezeichnet werden, nicht mit der Definition überein, wie sie unter Spezialisten in verschiedenen Bereichen der Psychoanalyse, der Kinder- und Entwicklungspsychologie sowie in Beratungsstellen üblich ist. Stattdessen beinhaltet diese Verwendung des Begriffes die Verbreitung eines „therapeutischen Ethos“, wie es sich während der letzten 40 Jahre in der anglo-amerikanischen Kultur und Politik herausgebildet hat. Ein Merkmal dieses Ethos ist die exponentielle Ausweitung von Beratung, Psychoanalyse und Psychologie auf immer weitere Bereiche der Politik, des sozialen, persönlichen und Berufslebens. Aber die Bedeutung des therapeutischen Ethos im hier verwendeten Sinne geht viel weiter: Sie bietet eine Art kulturelles Drehbuch an, eine Reihe von Erklärungen und ihnen zugrunde liegende Annahmen über angemessene Gefühle und Reaktionen auf Ereignisse sowie eine Reihe von damit verbundenen Praktiken und Ritualen, durch welche die Menschen sich selbst und anderen Sinn verleihen.
Populistische Darstellungen von emotionalen Problemen und damit verbundene Ansprüche werden in Erziehungsprogramme und -praktiken eingebettet. Die therapeutische Kultur ist zu einem ernsthaften kulturellen Faktor geworden. Das zugrunde liegende therapeutische Ethos kann nur offengelegt werden, wenn man politische Programme und Praktiken, wie sie sich in Schulen, an Colleges, Universitäten und am Arbeitsplatz kundtun, damit in Verbindung bringt.
Die Popularisierung therapeutischer Dogmen
Das Vokabular, die geistige Ausrichtung sowie die Annahmen populärer Therapie durchdringen einen weiten Bereich von Lebensstilen: von religiös gefärbten und Reality-TV-Programmen, den umfangreichen Bereich literarischer Biografien und Autobiografien, die in den Buchläden als „tragische Lebensgeschichten“ betitelt sind, über Frauen- und Männermagazine, Wochenendbeilagen bis hin zu einer stets wachsenden Selbsthilfe-Industrie. Dazu kommt eine steigende Anzahl von Büchern zum Thema geistige Gesundheit. Man könnte eine unendlich große Zahl von populären Therapien und allgegenwärtiger Dauerbeschäftigung mit emotionaler Verletzlichkeit aufführen. Therapeutisches Vokabular findet sich jedoch nicht nur in Erziehungsprogrammen, sondern auch in unserem privaten Leben und am Arbeitsplatz.
Dies alles sind nicht banale, willkürliche und irrelevante Anekdoten, sondern sie zeigen die wachsende Bedeutung therapeutischer Dogmen. Diese Dogmen durchdringen das Alltagsleben und haben einen mächtigen Einfluss auf unser Selbstbild und unser Bild vom Mitmenschen. Man braucht sich nur einmal vor Augen zu halten, wie oft die Rede davon ist, dass Erlebnisse der Vergangenheit negative Langzeitwirkungen im Leben von Menschen haben, übrigens einen ganz besonders vernichtenden Einfluss auf eine wachsende Minderheit. Der Grundton dieser Botschaft ist, dass jeder von uns, mehr oder weniger, hinter seiner offensichtlich optimistischen Fassade eine emotionale Verletzlichkeit aufweist, die nur darauf wartet, Unterstützung zu erhalten. Eine entsprechendes Dogma besagt, dass wir, sollten wir dies nicht sehen oder sehen wollen, in einer Verneinungshaltung verharren oder unsere wahren Gefühle unterdrücken.
Die Definition des „unmündigen Selbst“
Populistische Dogmen verstärken das Konzept eines „unmündigen Selbst“, denn die Manifestationen einer therapeutischen Kultur im gesamten Erziehungssystem verinnerlichen eine bestimmte kulturelle Sicht des Selbst. Dies betrifft die meisten Formen menschlicher Erfahrung als Ursprung emotionalen Unbehagens, wo immer Menschen charakteristischerweise an einem „emotionalen Defizit leiden und ein ständiges Bewusstsein ihrer Verletzlichkeit“ haben. Das entmündigte menschliche Subjekt ist einer ständigen Unsicherheit und Feindseligkeit ausgeliefert, gepaart mit Enttäuschung, Verzweiflung und Konflikten, die gleichzeitig eine Bedrohung der „Integrität des Selbst“ und dessen Einengung bedeuten. Eine derartig reduzierte Wahrnehmung des menschlichen Potenzials verneint dessen intellektuelle, privilegiert aber dessen emotionale Seite.
Solche Vorstellungen von Studierenden und Schülern sind weit verbreitet im gesamten Erziehungs- und Ausbildungssystem, was sich in Begriffen wie „verletzbare Lernende“, „Lernende im Risiko“, Studenten mit „fragilen Identitäten“, Menschen mit „beschädigten und fragmentierten Biografien“ und „Menschen mit geringem Selbstbewusstsein“, Lernende mit „komplexen Bedürfnissen“ widerspiegelt. Manchmal sind es ganze Gruppen, wie Asylbewerber, Jungen aus der Arbeiterschicht oder 14-Jährige ohne Schulausbildung , die dazu verdammt werden, unter „zu geringem Selbstbewusstsein“ oder ihrer „emotionalen Fragilität“ zu leiden. Ein geringes Selbstbewusstsein wird häufig als die Ursache sozialer Probleme und Schwierigkeiten bei der Erziehung angesehen. Schon Kinder internalisieren derartige Konzepte: Sie fühlen sich „gestresst“, „hinausgedrängt“, „belästigt“, sie haben einen „schrecklichen Vormittag“ hinter sich – all dies sind gängige Ausdrücke bereits unter Achtjährigen. Studenten an den Hochschulen, einschließlich Erwachsenen in der Berufsausbildung, behaupten vermehrt von sich, an „geringem Selbstbewusstsein“ zu leiden.
Das britische Erziehungssystem war immer schon anfällig für Termini, die sich in der in Verruf geratenen psychometrischen Begriffswelt der Intelligenzbeschreibung bewegen, wie etwa „schwerfällig“,„dumm“, „begabt“ oder „unbegabt“. Termini, die die emotionalen Ursachen von Problemen mit „Einstellung“, „Verhalten“ oder „Erfolg“ beschreiben, sind zwar noch jüngeren Datums, werden aber immer häufiger gebraucht. Sie sind das vorhersagbare Ergebnis von Aktivitäten, die beanspruchen, eine reduzierte Wahrnehmung anzusprechen und ihre Teilnehmer zu stärken, aber in Wirklichkeit darauf hinauslaufen, Menschen zu ermutigen, emotional auf die täglichen Herausforderungen zu reagieren. Dieser Zirkelschluss ist das Ergebnis einer veränderten kulturellen Sicht des Selbst und seines Potenzials.
Politische Programme, die Kindergärten, Spielgruppen, Schulen und Universitäten dazu auffordern, emotionale Probleme anzusprechen und emotionales Wohlbefinden zu fördern, integrieren eine spezielle Sicht von „sozialer Gerechtigkeit“ in Erziehungsprogramme und deren Umsetzung. Psychologen, Therapeuten, Ratgeber und Psychiater hatten nie einen größeren Einfluss als heute und haben konsequenterweise eine blühende, gewinnbringende Industrie ins Leben gerufen. In Großbritannien gibt es mittlerweile 70 Organisationen, die das Feld der therapeutischen Erziehung bearbeiten, von spezialisierten Ratgebern für Gemeinschaftsaktivitäten, emotionale Bildung, mentale Gesundheit und Kinderorganisationen bis hin zu Lobbyisten und sonstigen Interessenvertretungen. Einige Universitäten, einschließlich Cambridge, haben sogar Forschungszentren für emotionales Wohlbefinden ins Leben gerufen, die auf den Disziplinen Psychiatrie und Positive Psychologie aufbauen.
Ein schnell wachsendes Beratungsgeschäft mit akademischem Personal, Psychologen, Psychotherapeuten und Wohltätigkeitseinrichtungen für mentale Gesundheit, wie das Oxford Parent Infant Project (eine psychotherapeutische Hilfe für Eltern und Kleinstkinder), bietet teure Kurse an, mit Bezeichnungen wie „Lernen lernen“, „Glücklich sein“, „Fühl dich wohl“ oder „Emotionale Kompetenz“. Man veranstaltet emotionale Evaluationen in Schulen und am Arbeitsplatz, beurteilt die emotionale Kompetenz des gehobenen Managements und veröffentlicht zu diesem Thema Bücher und Materialien für Lehrer und Eltern.
Was ist von der Zunahme therapeutischer Erziehung zu halten?
Die staatliche Förderung therapeutischer Erziehung sollte eingestellt werden. Nur wenn man diesen therapeutischen Trend in eine umfassendere kulturelle und politische Analyse einbezieht, ist es möglich zu beschreiben, wie politische Maßnahmen zur Förderung emotionalen Wohlbefindens sowie die damit einhergehende Industrie so breite Zustimmung in der Öffentlichkeit und bei den Erziehern gefunden haben. Politische Unterstützung wird dadurch glaubhaft, dass sie die Sprache, die Voraussetzungen und Aktivitäten der populären Therapie verwendet, wie sich dies in den Texten und Kursen im Bereich der therapeutischen Erziehung niederschlägt.
Die Kritik bezieht sich auf einige Kernthesen. Erstens ist die therapeutische Erziehung nicht fortschrittlich und zum Wohl der Betroffenen. Stattdessen liegen hinter der Rhetorik der Stärkung von Autonomie und positiver Psychologie ausgeprägte Überzeugungen hinsichtlich der Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit des Menschen. Therapeutische Erziehung lebt von der Obsession mit einer emotionalen Verletzlichkeit des Individuums und eines damit verbundenen „reduzierten Selbst“, was eine tief sitzende kulturelle Desillusionierung mit dem Potenzial, der Widerstandsfähigkeit und der Autonomie des Menschen beinhaltet. Zweitens ist therapeutische Erziehung im Innersten gegen das Wesen der Erziehung gerichtet. Mögen auch noch so gute Absichten dahinter liegen, die Wirkung besteht in der Verabschiedung von dem Konzept einer Erziehung, die frei macht. Therapeutische Erziehung schafft ein ich-bezogenes Curriculum, das erzieherische und soziale Ambitionen zugunsten einer am eigenen Ich ausgerichteten, vereinnahmenden Persönlichkeitsgestaltung reduziert.
Dieser Anti-Erziehungstrend hat zweierlei Wirkungen: Zum einen begünstigt ein derartiges Curriculum, im Namen von Toleranz und Empathie, Aktivitäten, die Menschen dazu ermutigen, ihr verletzliches Ich einer wachsenden Zahl von Experten, Lebensberatern, Psychologen und Therapeuten auszuliefern, die sich als „therapeutische Helfer“ gerieren. Ohne auch nur im Geringsten den Betroffenen zu mehr Eigenständigkeit zu verhelfen, verführt es sie dazu, ihre Erwartungen an sich selbst und an andere herunterzuschrauben und stattdessen darauf zu achten, ob andere, ähnlich wie sie selbst, ebenfalls verletzt und verletzlich sind. Zudem fördern diese Aktivitäten und ihre unterstellten Annahmen einen Nachhilfeunterricht in Sachen „gesunde“ Emotionen als Teil eines Entwicklungsprogramms für mehr „wellbeing“ und „happiness“. Drittens ist therapeutische Erziehung äußerst gefährlich, da ein reduziertes Bild des menschlichen Potenzials die Emotionen der Menschen einer staatlichen Kontrolle übergibt und die Abhängigkeit von ritualisierten Formen emotionaler Förderung durch staatliche Einrichtungen fördert. Therapeutische Erziehung ersetzt genuine Erziehung durch die politische Steuerung sogenannter emotional kompetenter Bürger, die zudem in der Erfahrung emotionalen Wohlbefindens geschult werden sollen.
Welche politische Alternative zu einer solchen Erziehung bietet sich an?
Die unbedachte Etikettierung mit althergebrachten Begriffen wie links, rechts oder liberal und der Begriff der sozialen Gerechtigkeit – all dies sind Mantras ohne bleibende Gültigkeit hinsichtlich erzieherischer und politischer Ideale. Dies zeigt sich besonders darin, dass man Infragestellungen der therapeutischen Erziehung stets mit Vorwürfen wie ultrakonservativ, elitär, gefühllos oder altmodisch zurückweist und darin nur die Verdrängung der eigenen Gefühle sieht. Diese emotionsbeladene und unpräzise Kritik erschwert die Definition einer revidierten, klaren erzieherischen Position. Wenn es richtig ist, dass die therapeutische Erziehung einen einflussreichen und bisher einmaligen Wechsel widerspiegelt, der die meisten historischen Formen politischer Manipulation übersteigt, dann ist dies dennoch ein sich entfaltender Prozess mit Implikationen, die noch lange nicht klar definiert sind. Eltern, Lehrer, Politiker, Ratgeber, Studenten und alle Befürworter therapeutischer Erziehung sollten sich die Konsequenzen dieses Wandels in der Erziehung vor Augen führen. Insbesondere Eltern sind dazu eingeladen, den Eingriff im Namen emotionalen Wohlbefindens, wie er gegenwärtig auf ihre Kinder ausgeübt wird, infrage zu stellen. Wer immer sich den angesprochenen Anliegen gegenüber verpflichtet fühlt, möge sich den gegebenen Trends widersetzen. Es geht um nichts weniger als um die Frage, wie Erziehung im 21. Jahrhundert aussehen soll.