01.07.2010
Demokratie-Aushöhlung statt Demokratie-Export
Kommentar von Kai Rogusch
Um eine brüchige „Ruhe an der Heimatfront“ zu sichern, wird die Deformation demokratischer Rechtsprinzipien billigend in Kauf genommen.
Die Vorgänge um das Bombardement in Kundus, das Oberst Georg Klein am 4. September 2009 anordnete, offenbaren folgenreiche Entwicklungen. Einerseits ist mit der Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Klein der Weg hin zu einer Art Kriegsgerichtsbarkeit vorgezeichnet. Indem die Bundesanwaltschaft mit eher fragwürdigen Begründungen für „Ruhe an der Heimatfront“ sorgte, verschaffte sie dem Militär einen juristisch gesicherten Status der Unangreifbarkeit. Bemerkenswerter ist jedoch die Tatsache, dass eine derartige Erosion des Rechtsstaates primär auf politische Führungslosigkeit zurückzuführen ist.
Es war politische Kopflosigkeit, die Deutschland Hals über Kopf in das Abenteuer Afghanistan führte, ohne dass die absehbaren Verstrickungen und Konsequenzen solcher Einsätze hinreichend bedacht wurden. Es ist der Mangel an Strategie, der dafür sorgt, dass westliche Interventionsressourcen im afghanischen Sumpf versickern. Und es ist politischer Prinzipienlosigkeit anzulasten, dass statt eines westlichen Demokratieexportes nunmehr die Deformation unseres eigenen Rechtsverständnisses ins Haus steht. Während Bundesverteidigungsminister zu Guttenberg mit seinen Zweifeln über das Vorgehen Kleins die Unsicherheit angesichts des immer fragwürdiger erscheinenden Afghanistaneinsatzes weiter nährt, versucht man, die teils erschreckenden Folgen auszublenden, die sich aus der Eskalationslogik eines Krieges nun einmal ergeben.
Unterdessen prägen die innerafghanischen Ereignisse eine zunehmende Pervertierung unserer Rechtsauffassungen. Ein vager „täterfreundlicher“ Straftatbestand, der laut Bundesanwaltschaft die Angelegenheit im Fall Klein abschließend regelt, dazu obskure Ermittlungen, die zu einem Geheimverfahren tendieren, überdies eine „täterfreundliche“ Besetzung sowohl von Anklage als auch zuständigem Gericht: Das alles trägt zu einer Verselbstständigung des Militärs bei. Doch es war die schwache Legitimationsbasis des Engagements am Hindukusch, die nun auf die innerdeutsche juristische Praxis durchschlägt. Denn schon von Anfang an war offensichtlich, wie sich die deutsche Sicherheitspolitik von den Ereignissen treiben ließ und ihr Ad-hoc-Agieren nachträglich mit eher hanebüchenen Konstruktionen zu legitimieren versuchte. Diese Unklarheit war es schließlich auch, die Bundespräsident Horst Köhler zu seinen offensichtlich nicht abgestimmten Äußerungen und in der Folge zum Rücktritt bewog.
Die Bestrebungen, Rechtslage und juristische Argumentation an den fragwürdigen Charakter des ganzen Unternehmens anzupassen, wurden von Anfang an deutlich. Die zweifelhafte völkerrechtliche Fundierung des Afghanistankrieges setzte sich fort, als einflussreiche afghanische Kriegsherren, vor allem der „Nordallianz“, aus dem US-Budget finanziert wurden, die das Taliban-Regime dann gewaltsam stürzten. (1) Dabei begingen sie ungehindert „Menschenrechtsverletzungen“, die denen der Taliban in nichts nachstanden. Hinzu kommt das weltweite Vorgehen der „Operation Enduring Freedom“ (OEF), das rechtlich kaum eingehegt und keineswegs durch geltendes Völkerrecht legitimiert ist.
Doch auch der „Demokratisierungsprozess“ in Afghanistan wirft viele Fragen auf. Schon das Petersburger Abkommen, dessen Umsetzung die ISAF-Einsätze fördern sollten, ist in seiner demokratischen und völkerrechtlichen Legitimation zweifelhaft. Präsent auf der Konferenz waren hauptsächlich die USA, die „Nordallianz“ sowie ausgewählte Exil-Afghanen. Unter den internationalen Beobachtern auf dem Petersberg waren allein die USA mit 20 entsandten Personen vertreten. Die handverlesenen afghanischen Teilnehmer wurden als „Verwalter“ der afghanischen Souveränität dargestellt und als berechtigt ausgegeben, das „Petersberger Abkommen“ als völkerrechtliches Dokument zu unterschreiben und außerdem eine Übergangsregierung zu schaffen, obwohl sie hierzu von der afghanischen Bevölkerung nicht ermächtigt worden waren. Hamid Karsai, ein ehemaliger Mudschaheddin und Feudalherr, unter dessen Führung die Interimsregierung seither steht, ist bis heute auf den Schutz der USA angewiesen. Auch die „Verfassungs-Loya-Dschirga“ steht auf einem brüchigen Fundament, denn ein Großteil der Delegierten waren ehemalige Mudschaheddin, die bei der Mandatserringung auf militärische Gewalt und große Geldmittel, nicht zuletzt aus dem Drogenhandel, zurückgreifen konnten. Ein beträchtlicher Anteil der finanziellen Hilfsmittel und Waffen, die westliche Staaten Afghanistan zum Zwecke seiner demokratischen „Staatswerdung“ bereitstellen, versickert unterdessen innerhalb der unterschiedlichen Clans und Interessengruppen.
Die Verstrickung der Bundeswehr in einen politisch schwer zu vermittelnden „Demokratisierungsprozess“ erweist sich für die innerdeutsche Rechtslage als Bumerang. Die Etablierung einer Art „Kriegsgerichtsbarkeit“ steht auf der Tagesordnung. (2) Was vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte eigentlich ausgeschlossen sein sollte, wird vom Bundeswehrverband und zahlreichen Politikern gefordert. Solange man über die Tötung von Zivilisten in den Medien nicht ausgiebig berichtete, war das Bedürfnis nach einem rechtsfreien Raum für Soldaten und Offiziere noch nicht vorhanden. Doch nun sieht auch der gegenwärtige Koalitionsvertrag die Einrichtung einer „zentralen Zuständigkeit der Justiz“ für Bundeswehrstrafsachen vor. Dies führt eine Tendenz fort, die schon in der gegenwärtigen Rechtslage angelegt ist.
Schon heute ist die Bundesanwaltschaft mit vom Bundesjustizministerium ernannten Juristen besetzt. Auch die Wehrdienstsenate des Bundesverwaltungsgerichtes betonen nicht gerade die richterliche Unabhängigkeit. Das Präsidium des Bundesverwaltungsgerichtes darf die Wehrdienstsenate nur mit Richtern besetzen, die das Bundesjustizministerium bestimmt hat. Sogar das Bundesverteidigungsministerium – eine Prozesspartei – hat das Recht, die Richter auszusuchen. Kaum war die Möglichkeit eines Disziplinarverfahrens gegen Oberst Klein gegeben, lehnte der damalige Bundesverteidigungsminister Jung einen Richter ab, der bereits vom Präsidium des Bundesverwaltungsgerichtes in den zuständigen Senat gewählt worden war.
Die Entscheidung der Bundesanwaltschaft, das Ermittlungsverfahren gegen Klein einzustellen, ist auch vor dem Hintergrund des Straftatbestandes § 11 Abs. 1 Nr. 3 des Völkerstrafgesetzbuches, der für die Tötung von Zivilisten einschlägig ist, zu verstehen. Damit wird grünes Licht gegeben für ein militärisches Vorgehen, das sich an die Eskalationslogik des Afghanistankrieges anpasst. Das vielerorts gelobte Völkerstrafgesetzbuch von 2002 lässt es nämlich nicht genügen, dass „der Angriff die Tötung oder Verletzung von Zivilpersonen in einem Ausmaß verursachen wird, das außer Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Erfolg steht“. Vielmehr muss der Soldat oder Offizier diese Folge „als sicher erwarten“. In einem so abgesegneten Rahmen bewegt sich das militärische Verhalten Kleins, das fragwürdig erscheint, aber gut in die Kriegslogik passt, in die die Politik hineinschlittert.
Die Politik kann dem Zweifel breiter Bevölkerungsschichten an der Militärpolitik nur noch mit dem Argument begegnen, dass im Falle eines Abzuges der Bundeswehr aus Afghanistan der Atomterrorismus und andere schlimme Dinge drohten. Vor diesem Hintergrund sorgt die Erosion völkerrechtlicher Grundsätze für weiteres Unbehagen. Dennoch droht sie, sich zu verstetigen und gar zu einer juristischen Dauereinrichtung zu werden. So „exportieren“ die politischen Eliten jedenfalls keine Demokratie nach Afghanistan. Vielmehr werden die westlichen Demokratien ausgehöhlt.