01.07.2010

Vom Elend der Excel-Demokraten

Kommentar von Thomas Deichmann

Ein Aufruf zum politischen Handeln.

Reden wir bitte vorerst nicht weiter über Parteien, sondern über Politik und die Zukunft der Demokratie in Europa. Angesichts der aktuellen Krise überkommt mich immer häufiger das Gefühl, das Kollegen teilen und Zeitgenossen oft auch nur rein instinktiv beschleicht: Mit unseren politischen Eliten in Deutschland und Europa ist derzeit kein Blumentopf zu gewinnen. Unsere Politikerklassen haben es in den letzten Jahrzehnten fertig gebracht, unser Gemeinwesen und den Kulturraum Europa ziemlich an die Wand zu fahren. Es gibt Erfolge, Errungenschaften und Fortschritte in verschiedenen Bereichen, aber sie verblassen angesichts der immensen Probleme, die aufgetürmt worden sind.

Außerstande, das durch den Zusammenbruch der alten Weltordnung entstandene geistige Vakuum mit inspirierenden Inhalten zu füllen, hat man sich diffusen Stimmungen geöffnet. Klassische Orientierungen und Wertvorstellungen (darunter viele erhaltenswerte) sind einem umfassenden Relativismus zum Opfer gefallen. In Bereichen wie Nahrung, Agrar oder Energie dominieren voodoo-artige Risikodiskurse, Wissenschaftsskepsis und Technologievermeidung. Bildungs-, Erziehungs-, Innovations- und Arbeitsmarktfragen werden für „social engineering“ instrumentalisiert. Wirtschaftswachstum und unternehmerischer Erfolg stehen als Leitbilder auf der Abschussliste. Eine bornierte „Excel-Mentalität“ hat sich im politischen Raum festgesetzt: Eine Armee von Bürokraten schickt sich an, uns per Modellrechnung und Mausklick organisieren zu wollen. Auf Misserfolge reagiert die Expertenklasse mit Überwachungs- und Sanktionsvorschlägen. Um das so entstandene postmoderne Polit-Kauderwelsch herum werden politische Auftritte inszeniert. Anstelle des mündigen Bürgers sprechen Politiker dabei lieber den ohnmächtigen Verbraucher an. Visionen fehlen, mehr als hohles Krisenmanagement gibt es nicht mehr.

Man zankt über Steuern und andere Banalitäten und hat mit dem „gierigen Banker“ und „betrügerischen Griechen“ Sündenböcke kreiert. Und man bemüht sich, getreu dem Motto „Business as usual“, um parteipolitische Profilierung unter Berücksichtigung des nächsten Wahltermins. Das, was ankommt, bzw. das, was Demoskopen als beim Volk gut ankommend deklarieren, bestimmt den politischen Alltag. Der inhaltlich hygienisch gesäuberte „Wahlkampf“ in Nordrhein-Westfalen hat es zuletzt vor Augen geführt: Die politische Elite höhlt den demokratischen Prozess mehr und mehr aus. Ihr Politikstil ist durchgängig technokratisch: Unter Umgehung von politisch konstruktivem Streit und einer offenen demokratischen Meinungs- und Entscheidungsfindung werden wichtige Weichen hinter verschlossenen Türen gestellt – oder auf immer längere Bänke geschoben.
Als Ergebnis stehen wir vor einem großen Scherbenhaufen. Den haben uns nicht Finanzmarktjongleure, Industrielobbyisten oder Al-Qaida-Terroristen eingebrockt, sondern unser eigenes politisches Führungspersonal. Die schöne Vorstellung eines vereinten Europas immer freierer Bürger wurde verspielt. Statt die Menschen argumentativ für das Projekt zu begeistern und auf Grundlage wirtschaftlichen Wachstums einzubinden, investierte man in Verhaltensregeln und Regulationskorsetts. Wer bei den Plebisziten zur europäischen Verfassung aus dem Ruder lief, wurde verspottet und geradegebogen, die Demokratie für jedermann erkennbar mit Füßen getreten – und das Ganze dann auch noch frech als „Überwindung des europäischen Demokratiedefizits“ gepriesen. Schon lange versteckt man sich hinter der angeblichen „Alternativlosigkeit“ der eingeschlagenen und zusehends erzwungenen statt demokratisch legitimierten Wege.

Die politischen Versäumnisse der Vergangenheit rächen sich brutal in der Wirtschaftskrise. Es wird schwer sein, aus ihr auch nur halbwegs erhobenen Hauptes herauszukommen. Die Reaktionen der großen Politik lassen eher den Schluss zu: Die Europäische Union und der Euro sind gescheitert. Technokratische Manipulationen und Regelbrüche, wie sie Griechenland und andere EU-Staaten lange pflegten, taugen nicht mehr, um das schwankende Schiff zu stabilisieren. Die Politik greift trotzdem noch tiefer in die Trickkiste und hat den morschen Rumpf der EU durch den Bruch elementarer Vertragsbestandteile wie den Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB) weiter zerstört. Sie verweigert sich seit Längerem der Verantwortung, so zu handeln, dass eine gute und lebenswerte Zukunft entstehen kann. Neue Regulationen, neue Ausgaben, noch höhere Verschuldungen sind nun stattdessen auf den Weg gebracht worden.

Entscheidend ist: Nirgends zeigt sich der Wille, endlich die Reißleine zu ziehen. Das wäre schmerzhaft und konfliktreich. Aber wir brauchen diese Auseinandersetzung, und viele Bürger wären dankbar, wenn es endlich losgehen würde. Geradezu perfide kommt es einem vor, wenn die Verweigerung, die uns auf kurz oder lang Kopf und Kragen kosten wird, als Ausdruck des Wählerwillens dargestellt wird. Alle wissen, dass wir über Jahrzehnte weit über unsere Verhältnisse gelebt haben. Feuerwehrspielchen helfen nicht mehr. Aber wo bleiben die längst überfälligen Zäsuren, um die Talfahrt zu beenden?

Viel wurde versäumt in den letzten Jahrzehenten. Dass es anderswo aufsteigende Wirtschaftsregionen gibt, die der „alten Welt“ den Rang streitig machen, ist lange bekannt. Auf eine strukturpolitisch kluge europäische Antwort warten die Bürger bis heute. Von parteipolitischen Eitelkeiten angetrieben, fällt der europäische Wirtschaftsraum vor allem durch die Bereitschaft auf, jährlich Hunderte von Milliarden Euro für ineffiziente Energietechnik, Mülltrennung oder sonstigen „nachhaltigen“ Schnickschnack aus dem Fenster zu werfen – wofür wir im Ausland zusehends belächelt werden. Bekannt ist ebenso, dass es im europäischen und gerade auch im deutschen Raum an produktiven Investitionen in Fabriken und Dienstleistungen mangelt, über die ein gesundes Wirtschaftswachstum erst generiert werden kann. Immer mehr Kapital und Steuergelder werden in unsinnigen Initiativen verschleudert – Jahr für Jahr pumpen wir Milliarden von Euro allein in die Solarindustrie, die uns nicht weiterhilft. Fortschritte in der Pflanzenzucht werden derweil politisch torpediert. Auch wenn es makaber klingen mag: Selbst die stalinistische Planwirtschaft der Sowjetunion war zumindest stellen- und zeitweise klarer auf Wachstum, Effizienz und Erfolg getrimmt.

Dabei wäre beispielsweise im Energiesektor eine Reißleine schnell gefunden. Statt unnützer Geldverschwendungsorgien für Klimaschutzfantasien müssten wir es nur einigen Nachbarn nachtun, in ein paar hochmoderne Kernkraftwerke investieren – das Problem Energiesicherheit wäre für Jahrzehnte gelöst, und Innovationen könnten sich entfalten. Doch so wie es in der jüngeren Geschichte nicht gelingen wollte, aberwitzige Subventionen in anderen Bereichen einzudämmen, wird auch heute, selbst angesichts der schlimmsten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg, keine Tabula rasa gemacht.

Die aktuelle Situation ist eingefahren und heikel, sie scheint fast aussichtslos. Man könnte sagen, das „System“ der Nachkriegszeit ist an einem Scheideweg angelangt, aber niemand wagt es, die „Systemfrage“ zu stellen. In früheren Situationen mit ähnlicher Brisanz standen Revolutionen oder Kriege auf der Tagesordnung. Das will kein Mensch mehr haben. Aber wir brauchen dringend einen alternativen Lösungsweg, sonst drohen am Ende noch weitere zivilisatorische Errungenschaften verloren zu gehen. Und wer weiß, wer und was dann kommt. Der Technokratismus ist tot, es leben die Politik und die Demokratie! Es bleibt zu hoffen, dass diese Einsicht bei unseren politischen Eliten ankommt.

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