12.12.2011

Wird Philosophie zur Therapie?

Kommentar von Dennis Hayes

Philosophen müssen wieder zu angriffslustigen Individuen werden wollen, anstatt sich in zynischem Skeptizismus zu verlieren.

In Shakespeares Die Erfindung des Menschlichen lenkt Harold Bloom unsere Aufmerksamkeit auf eine zeitgemäße Ironie in Othellos berühmtem Schrei über sein verlorenes Ehrgefühl, demzufolge „Othellos Beruf verloren“ sei. [1] Die Ironie liegt darin, dass für das damalige Publikum Othellos Tätigkeit bereits vor Beginn des Stückes überholt war. Militärische Werte, die Ehre und der Ruhm des Krieges, der Posten eines Generals in der venezianischen oder irgendeiner anderen Armee wecken auch heutzutage keinerlei Sympathie mehr.

Ich bin geneigt, über die Beschäftigung mit Philosophie dasselbe auszurufen, jedoch aus einem völlig entgegengesetzten Grund: Die Flut an Philosophiebüchern, die sich an den Durchschnittsleser richten, sowie ein gestiegenes Interesse am Philosophieunterricht geben Anlass zur Vermutung, dass der Beruf des Philosophen eine Blütezeit durchlaufe. Es wäre jedoch ein Akt der Selbsttäuschung der Philosophen, davon auszugehen, dass heute jeder anstrebe, ein Sokrates zu sein. Ich möchte vielmehr behaupten, dass aufgrund von gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen „Platons Beruf verloren“ gegangen ist.

Wenn Philosophen versuchten, unflexible Sichtweisen und unumstößliche Wahrheiten infrage zu stellen, dann galt die unausgesprochene Vermutung, dass es eine soziologisch-kulturelle Notwendigkeit gäbe, die in ihrem nicht hinterfragten, zuversichtlichem Glauben und ihren unreflektierten Meinungen verharrenden Menschen aufzurütteln. Philosophen gingen dabei ein großes Risiko ein, Schmach und Schande ausgesetzt zu werden. Als ich noch Student war, beklagten sich meine Dozenten darüber, dass ich unerlaubterweise die Fachrichtungen vermischte und philosophische Analyse in Literaturstudium und Soziologie mit einbrachte. „Ich habe mich viel mit den Hilfswissenschaften beschäftigt“, lautete meine Antwort. Ohne Reue ob meines unerlaubten Überquerens der Fachgrenzen möchte ich drei soziologische Beobachtungen über Schlüsselaspekte der Philosophie zur Verteidigung meines Anspruchs schildern, und zweifellos werde ich heute ebenso wie damals dafür gerügt werden.

Skeptizismus

Philosophischer Zweifel ist die Hauptdisziplin des Philosophischen. Wissen wir, was wir glauben zu wissen? Bestehen unsere moralischen Werte vor dem Infragestellen und dem Gegenbeispiel? Solche Fragestellungen erzeugen gewöhnlich Spannung und führen auf die Agora, aber im Einkaufszentrum wird man auf sofortige Zustimmung stoßen. Niemand wird irgendeine Erkenntnis oder einen Wert verteidigen. Roger Scrufon nannte in seiner Modern Philosophy den moralischen Relativismus den „bevorzugten Unterschlupf von Halunken“, aber das ist zu einfach. [2] Der neue therapeutische Relativismus verlangt die urteilsfreie moralische Überlegenheit. Allan Bloom erinnert uns in The Closing of the American Mind daran, dass „Sokrates erst nach einem Leben unaufhörlicher Arbeit erkannte, dass er nichts wusste. Heute weiß das jeder Highschool-Schüler. Wieso wurde das so einfach?“ [3] Die gegenwärtige Aufgeschlossenheit gegenüber allen Standpunkten ist ein Ausdruck des therapeutischen Relativismus; obgleich er ein zynisches Fehlen von Bekenntnis zu irgendeinem Wissen oder einer Moral offenbart, verdammt er die, die denken, dass sie irgendwo recht hätten, als erkenntnistheoretische Tyrannen.

Selbst in eher akademischen Kreisen ist die Situation nicht anders. Als Terry McLaughlin kürzlich vor der Faculty of Education an der Canterbury Christ Church University sprach, hielt er eine traditionelle Rede zu Fragen der Konzepte und Definitionen, die wir verwenden. Sie verstärkte die zynische Idee, dass alles in Frage gestellt werden müsse und dass kein Wissen oder Wert „absolut“ sei. Diese „Fragetherapie“ wird oft von Kollegen als „sokratisch“ bezeichnet, die jedoch übersehen, dass endloses Fragen sich selbst beendet. Sogar einige Philosophen betrachten die Elenchos (Widerlegung) und die Aporie (unauflösbare theoretische Problemstellung) als therapeutische Mittel. [4]

Wissen

Ergänzt wird der therapeutische Skeptizismus von einer anderen Philosophielehrererkenntnis, der Kant’schen Unterscheidung zwischen Wissen und Meinung. Mit der folgenden Aussage ist Stanley Fish ein gutes Beispiel für den altehrwürdigen Philosophen: „Ich sagte meinen Studenten, dass ich mich nicht im Geringsten dafür interessierte, welche Meinungen sie haben könnten, und auch keine davon hören wollte. Ich teilte ihnen mit, dass sie vielleicht gedacht hätten, dass der Sinn des Schreibens darin bestünde, sich selbst auszudrücken, aber dass ihr Selbst das Schreiben nicht wert wäre, und dass es gut wäre, wenn sie endlich etwas lernen würden.“ [5] Fishs Studenten sollen lesen und recherchieren, und sobald sie Wissen hätten, sollten sie mit sachkundigen Äußerungen wiederkommen. Das musste ihnen hart erscheinen, wenn sie bis dahin gelernt hatten, dass Denken die Wiedergabe von Meinung im wertungsfreien Klassenzimmer bedeutet.

Ich hatte diese Unterscheidung immer als nützlich betrachtet, aber wenn sie auf diese Art und Weise angewendet wird, ohne explizit Teil einer Kritik an der therapeutischen Philosophie zu sein – einer Kritik am „Offensein“, bis das Hirn herausfällt – wird sie nicht nur dumme, gedankenlose und schlecht begründete Meinungen verhindern, sondern jegliche Meinungsbildung. Was Fish anbietet, ist lediglich eine strenge Behandlung, die die Studenten schweigen lässt, weil sie unwissend sind. Es ähnelt einer Form der Richtlinientherapie, aber am Ende wird sie nur den Selbstzweifel verstärken und es eher unwahrscheinlich machen, dass die Schüler robust und durchsetzungsfähig zurückkommen.

Kritizismus

Die Aufgabe des Philosophen ist die kritische Untersuchung. Aber inzwischen kritisiert jeder alles. Training im „kritischen Denken“ ist allseits beliebt. Zum größten Teil beinhaltet das Techniken und Spiele, die keinem speziellen Kontext zugeordnet werden. Gesellschaftliche Probleme können damit nur verschärft werden. Kürzlich erzählte mir eine kluge Studentin, dass sie die Dozenten am wenigsten mochte, die ausgesprochen „kritisch“ auftraten und nie etwas anboten. Sie hatte recht, und ihre Aussage veränderte meine Sicht auf die Rolle der Philosophie.

Die philosophische Tradition kennt manche Philosophen, die unpopulär waren, weil sie skeptisch auftraten, konventionelles Wissen herausforderten und die Kunst der Kritik lehrten. Heute jedoch verwandeln diese drei Attribute die Philosophie in eine Therapie und einen gut verkäuflichen Gebrauchsgegenstand. Es sollte daher nicht überraschen, dass in der zunehmend therapeutischen Arbeitswelt Philosophen als flexible und kreative Angestellte gesehen werden und von Arbeitgebern gesucht werden.

Wenn Philosophen nicht weiterhin Philosophie als Therapie verkaufen wollen, müssen sie drei Dinge tun, um die weitverbreiteten gegenwärtigen Einstellungen herausfordern: Sie müssen sich über ihre eigenen Arbeitsprinzipien hinwegsetzen, für Wissen, für Aussagen und für Meinungsstreit kämpfen und dem ins Leere laufenden Kritisieren entgegentreten. In einer Spezialausgabe des Philosophers’ Magazine aus dem Jahr 2007 notierte Stephen Law, dass die Zunahme von schrulligen und zwielichtigen Religionen und anderen Glaubensrichtungen heutzutage ihn nur verhalten optimistisch stimme in Bezug auf den Glauben der Aufklärungsvertreter an die Vernunft. [6] Ich bin da hoffnungsvoller, allerdings unter folgendem Vorbehalt: Der Glaube an die Werte der Aufklärung ist keine philosophische, sondern eine politische und soziale Angelegenheit. Wenn die Werte der Aufklärung verteidigt werden sollen, dann müssen die Philosophen von den Soziologen lernen und ihren Beruf zurückerobern und somit wieder zu schwierigen und angriffslustigen Individuen werden.

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