19.07.2010

Was ist eigentlich „Work-Life-Balance“?

Essay von Para Mullan

Battle in Print: Je weniger hart, lang und schlecht bezahlt unsere Arbeit wird, desto schlimmer erscheint sie uns. Para Mullan beleuchtet die Hintergründe dieses Paradoxons.

Mit dem Übergreifen der Finanzkrise auf alle Bereiche der Wirtschaft ist die Angst vor der Arbeitslosigkeit in der Bevölkerung zu einem zentralen Thema geworden. Während viele befürchten, künftig keinen Job mehr zu haben, gibt es einige, die dafür eintreten, das Verhältnis von Arbeit und Freizeit mehr in Richtung Freizeit zu verschieben. In einer Rede vor dem britischen Gewerkschaftskongresses verurteilte der Erzbischof von Canterbury Ende letzten Jahres die Art und Weise, in der Firmen eine Arbeitskultur etabliert haben, die die Institution Familie untergräbt. (1) Im Oktober 2009 vertrat Christina Odone vom Centre for Policy Studies dieselbe Sichtweise, als sie die Ergebnisse einer Umfrage des Marktforschungsinstituts YouGov zu Arbeiterinnen und Arbeitern vorstellte: Nur 12 Prozent der Mütter wollten Vollzeit arbeiten, und 31 Prozent wollten überhaupt nicht berufstätig sein. Außerdem zeigte die Umfrage, dass „überwältigende 28 Prozent der voll arbeitenden Männer das nicht freiwillig tun“. (2)

Dieser Umfrage folgte bald ein Bericht der Kommission für Gleichberechtigung und Menschenrechte (EHRC), der aufzeigte, dass die meisten arbeitenden Väter mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen wollen. Der Bericht „Väter, Familie und Arbeit“ zielt darauf ab, die vorherrschende Fokussierung der Work-Life-Debatte auf arbeitende Mütter wieder auszugleichen. (3) Während Mütter und Väter scheinbar um das Recht streiten, mehr zu Hause als auf der Arbeit zu sein, wurde kürzlich berichtet, dass Angestellte die „Schweinegrippe“ nutzten, um sich für das Fehlen am Montagmorgen zu entschuldigen. (49 Ein Journalist ging sogar so weit zu fragen, ob wir noch im viktorianischen Zeitalter leben, das sich durch lange Arbeitszeit und harte Arbeitsbedingungen auszeichnete. Der Europäische Index für Lebensqualität, errechnet durch Preisvergleiche auf der Website uSwitch.com, scheint dieser Ansicht recht zu geben. Ihm zufolge haben die Briten eine längere Arbeitszeit und weniger Urlaub sowie höhere Lebenshaltungskosten als andere Arbeitnehmer in Europa. Obwohl sie mehr verdienen als ihre europäischen Kollegen, verfügen sie nicht über eine höhere Lebensqualität. (5)

Es ist interessant, dass diese Diskussion im Kontext wachsender Arbeitslosigkeit und unsicherer Jobs geführt wird. Drängt die Angst vor Jobverlust nicht die Diskussion um die Job-Life-Balance für die meisten in den Hintergrund? Oder haben alle diese Kommentatoren und Umfragen recht damit, wenn sie sagen, dass wir das Verhältnis zwischen Arbeit und Freizeit zugunsten der Freizeit verändern müssen? Um diese Fragen anzusprechen, hier ein paar Mythen über die moderne Arbeitswelt, die es wert sind, beleuchtet zu werden.

Mythos 1: Die Arbeit wird immer härter

Der erste Mythos, der der aktuellen Diskussion zugrundeliegt, besteht in der Vermutung, dass wir alle auf der Arbeit unglücklich sind, weil es dort immer härter zugeht. In Wirklichkeit haben sich in den letzten Jahrzehnten unsere Arbeitsbedingungen verbessert. John Philpott, Direktor für Public Policy und Chefökonom des Institute of Personnel and Development (CIPD) stellt eine „Verbesserung fest bei den meisten objektiven Messgrößen der Jobqualität, wie dem wachsenden Einkommen und der Reduzierung der Arbeitszeit, ergänzt durch Verbesserung der grundlegenden Arbeitnehmerrechte wie die Einführung eines nationalen Mindestlohns und eine Arbeitsorganisation, die Dinge wie schöpferische Gestaltung der Arbeitsabläufe, kontinuierliche Beurteilung und selbstständiges oder halb selbstständiges Teamworking umfasst“. (6) Im selben Tenor weist Wirtschaftsprofessor J. R. Shackleton von der University of East London auf Folgendes hin: „Der durchschnittliche Arbeitslohn ist effektiv dreimal so hoch wie noch vor einem halben Jahrhundert. Wir arbeiten weniger lange und haben mehr Urlaub. Unsere Jobs sind weniger gefährlich, sauberer und mit weniger Lärm verbunden. Wesentlich mehr von uns (55 Prozent) sitzen im Büro, arbeiten als Fachkräfte oder in leitender Stellung als noch vor 50 Jahren (30 Prozent). … Diskriminierung und Mobbing sind illegal.“ (7) Die Vorstellung, dass die Arbeitsbedingungen schlechter als je zuvor wären, hält dem Vergleich mit der Vergangenheit nicht stand.

Mythos 2: Die Arbeitszeit wird immer länger

Eine andere weit verbreitete Ansicht der „Bleib-zu-Hause-Fraktion“ ist es, dass wir länger als früher arbeiten und infolgedessen die Arbeit als erdrückend empfinden. Während es immer Leute geben wird, die länger arbeiten, ist die tatsächliche durchschnittliche Arbeitszeit jedoch gesunken. Noch vor einem Jahrhundert arbeiteten die Menschen in Großbritannien mehr als 50 Stunden pro Woche, wohingegen bis 2008 die volle Arbeitszeit durchschnittlich 37 Wochenstunden betrug. (8) Dass die allgemeine Wahrnehmung das Gegenteil zu belegen scheint, könnte der Tatsache geschuldet sein, dass in den meisten Haushalten zwei Personen berufstätig sind. In den OECD-Ländern stieg der Anteil von Familien, in denen beide Erwachsene insgesamt mehr als 60 Wochenstunden arbeiten, von 37 Prozent im Jahre 1985 auf 47 Prozent im Jahre 2002. (9) Das kann arbeitenden Paaren das Gefühl vermitteln, dass ihr Leben von der Arbeit aufgezehrt wird und dass ihnen keine Zeit für sich selbst bleibt. Das lässt sich auch in offiziellen Umfragen beobachten: Zwischen 1965 und 1992 ist in fortlaufend durchgeführten Umfragen der Anteil der US-Amerikaner, der sich „ständig gehetzt“ sieht, von 24 Prozent auf 38 Prozent gestiegen. (10)

Diese Wahrnehmung wird außerdem durch Familien mit Kindern verstärkt. Die meisten Eltern wären die Ersten, die anführen würden, dass ihre Wochenenden völlig von den Aktivitäten ihrer Kinder ausgefüllt werden – ganz gleich, ob es darum geht, sie samstags zum Ballett, zum Fußballtraining oder zu Kindergeburtstagen zu kutschieren. Unter der Woche sind Elternabende zu besuchen. Alles in allem sind Eltern sehr beschäftigte Individuen, die Arbeit und Familienleben unter einen Hut bringen (müssen).

Mythos 3: Der Arbeitsstress wird immer größer

Während es schwierig ist abzustreiten, dass die körperliche Arbeit leichter geworden ist, würden viele dennoch behaupten, dass unsere geistige Gesundheit durch die Arbeit beeinträchtigt wird. Es entspricht einer weit verbreiteten Annahme, dass die Arbeit in den letzten Jahren immer stressiger geworden ist. Dabei wird angeführt, dass die Anzahl der psychischen Erkrankungen zunimmt und die Wirtschaft etwa 13,5 Millionen Arbeitstage im Jahr kostet, verglichen mit 12,9 Millionen Arbeitstagen im Streikwinter 1978/79. (11) Als Erklärung für diesen Anstieg des Stressempfindens wird häufig die Einführung neuer Technologien genannt. Der Freizeitforscher Dr. Bernard Casey argumentiert: „Computer bedeuten, dass sie …[die Arbeitenden] stärker überwacht werden und an engere Termine gebunden sind, was seinen Tribut fordern kann.“ (12) Casey führt weiterhin aus, dass diese Stresslevel zu mehr Fehltagen führen und mehr Menschen ihren Arbeitsplatz aufgrund psychischer Erkrankungen verlassen.

Vergegenwärtigt man sich, wie Callcenter-Mitarbeiter überwacht werden, wird klar, dass an der Vorstellung von der umfassenden Arbeitsüberwachung etwas Wahres dran ist. Trotzdem folgt daraus nicht, dass deswegen automatisch die Anzahl psychischer Erkrankungen wächst. Einer der Gründe für diese Annahme liegt darin, dass die Definition, was „psychisch krank“ bedeutet, so stark ausgeweitet wurde, dass jede Reaktion auf eine unerfreuliche Arbeitserfahrung tendenziell als psychische Krankheit etikettiert wird. Simon Wesseley, Professor für Psychatrie am Kings College London, sagte kürzlich, dass in seinem Arbeitsbereich „Zustände von Traurigkeit neuerdings als Depression betrachtet werden, Schüchternheit als Soziophobie und alle Variationen im kindlichen Temperament, in der Persönlichkeit, den Emotionen und dem Verhalten als behandlungswürdige Krankheiten eingestuft werden“. (13) Die therapeutische Kultur, die hier beschrieben wird, verstärkt das Gefühl, dass Arbeit problematisch geworden ist.

Faktoren, die die Mythen aufrechterhalten

Es lohnt die Mühe, sich einige gesellschaftliche Veränderungen innerhalb der letzten Generation noch einmal zu vergegenwärtigen, um zu verstehen, wie sich diese auf unser heutiges Erleben der Arbeit auswirken. Im Bereich der Politik würden nur wenige bestreiten, dass es unseren Leitfiguren an Weitsicht fehlt. Die Diskreditierung der Politiker ist verbunden mit der Tatsache, dass uns die meisten ihrer Beschlüsse und Maßnahmen rückschrittlich und kurzfristig erscheinen. Das Fehlen von Langzeitvisionen und klaren Führungsstilen herrscht auch in weiten Teilen der Wirtschaft vor. Die meisten Unternehmen und Institutionen betreiben eine kontinuierliche Umorganisierung ihrer Belegschaften. Kaum wurde eine kurzfristige Veränderung eingeführt, folgt schon die nächste. Unternehmensleitungen führen nur selten mit klaren, langfristigen strategischen Zielstellungen. Dadurch entsteht Unsicherheit am Arbeitsplatz. So kommt es dazu, dass selbst, wenn Arbeitnehmer ihre Arbeitsorganisation selbst bestimmen, ein Mangel an Führung zum Fehlen eines Gesamtüberblicks führt. Dies wird vielfach als Kontrollverlust erlebt, was wiederum größerer Unsicherheit und „Stress“ den Weg bereitet.

Damit verbunden ist die Tatsache, dass unsere öffentlichen Aktionen und Interaktionen in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgegangen sind. Verglichen mit früheren Generationen ist unsere Bindung an religiöse Einrichtungen, Gewerkschaften und andere gemeinschaftlich orientierte Einrichtungen schwächer geworden. Individualisierung kennzeichnet unser Leben. Das wirkt sich unzweifelhaft darauf aus, dass Arbeit als gesellschaftlicher Schlüsselfaktor in unserem Leben erscheint und hinsichtlich der Identitätsstiftung der Menschen einen enormen Bedeutungszuwachs erfahren hat. In Ermangelung von Alternativen wird die Arbeit zum Fokus des Lebens. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sie auch zum Angriffspunkt all unserer negativen Gefühle wird, ob sie nun von der Arbeit ausgehen oder nicht.

Neue Arbeitsperspektiven

Weder pausenloses Arbeiten noch die einseitige Aufforderung „Bleib zu Hause“ stellen im metaphorischen oder buchstäblichen Sinne ein Gesundheitsrezept dar. Wenn es wirklich darum ginge, würden die meisten Frauen zum Beispiel insgeheim zugeben, dass sie lieber auf der Arbeit als zu Hause mit der Hausarbeit beschäftigt wären. Sie würden es vorziehen, Hausarbeit und Beruf unter einen Hut zu bringen, anstatt zu Hause eingesperrt zu sein. Eine Kampagne für bezahlbare und qualitativ hochwertige Kinderbetreuung würde der Sache mehr dienen als der Rat zur Verschiebung der „Work-Life-Balance“. Bei wachsender Arbeitslosigkeit würden die meisten Menschen einen Job gegenüber dem Genuss des „ausbalancierten Lebens“ zu Hause vorziehen. Wenn wir uns auf der Arbeit unter Zwang fühlen, sollten wir für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen. Wenn wir denken, dass das Management uns keine Vision und Leitung anbietet – warum nicht mutig sein und das Problem ansprechen? Der Rückzug ins Heim ist keine Antwort. Gesellschaftssysteme, die nach innen schauen und hochtrabend über Freizeit reden, über Stressgefühle und die negativen Seiten von Arbeit, neigen zu Stagnation und Zerfall. Lasst uns unter allen Umständen mehr relaxen, aber auch eine Perspektive für die Arbeit entwickeln, damit der materielle und immaterielle Nutzen der Arbeit uns dabei hilft, ein erfüllteres Leben als Individuen zu führen.

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