19.07.2010

Die Angst des Westens vor dem Sieg

Essay von Mick Hume

Wer den Feind vor eigenen Angriffen warnt, besiegt sich selbst.

Der Nato-Angriff auf das südliche Afghanistan, der große Beachtung in den Medien fand, wird als eine der kuriosesten Militäroffensiven der Moderne in die Geschichte eingehen. Es scheint, als breche sie mit allen Konventionen der erfolgreichen Kriegsführung. Andererseits war die planlose, selbstzerstörerische Intervention in Afghanistan ohnehin nie ein „normaler“ Krieg.

Es ist in Militärkreisen allgemein bekannt, dass die Täuschung des Feindes zu den Erfolgsfaktoren einer erfolgreichen Offensive gehört: Man verheimlicht die wahren Absichten und behält sich das Überraschungsmoment vor, dort und dann zuzuschlagen, wo und wann der Gegner es am wenigsten erwartet, ihm schnell an die Gurgel zu gehen, ihn zu überwältigen und den Kampf so schnell wie möglich zu gewinnen. Dies wusste bereits 500 v. Chr. der chinesische Militärstrategie Sun Tzu in seinem Klassiker Die Kunst des Krieges zu berichten: „Jegliche Kriegsführung beruht auf der Täuschung. So müssen wir untauglich erscheinen, wenn wir angreifen, und tatenlos, wenn wir unsere Truppen einsetzen.“ Und weiter: „Die beste taktische Aufstellung ist die, die man verheimlichen kann.“ Und: „Im Krieg ist das Ziel der Sieg und nicht eine langwierige Operation.“

Diese strategischen und taktischen Ansichten über die Kriegsführung haben viele militärische Führer zu allen Zeiten beeinflusst, von Napoleon und Mao bis hin zu Mafia-Boss Tony Soprano. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Kunst der Täuschung und Überraschung nicht nur durch Hitler-Deutschland im Blitzkrieg angewendet, sondern war auch Grundlage der Alliierten D-Day-Offensive. Die heutigen westlichen Führer scheinen jedoch die Lehren aus der Militärgeschichte vergessen zu haben. Am dritten Tag der Offensive im südlichen Afghanistan verkündete eine britische Boulevardzeitung enthusiastisch, die Taliban seien „geblitzt” worden. Aber es ist kaum vorstellbar, was diese Offensive mit dem deutschen „Blitzkrieg“ gemein hat. Aus der Entfernung wirkt es weniger wie ein „Blitz-“, sondern eher wie ein „Bedeckt-bis-wolkig-vereinzelt-Nebel“-Krieg.

Als die 15.000 alliierten und afghanischen Truppen die Offensive im Süden vorbereiteten, wurde noch nicht einmal ein Versuch der Täuschung unternommen. Stattdessen verkündeten die Nato-Sprecher vorab detaillierte Pläne der Operation in den Medien – und hielten sich dann auch daran! Das explizit geäußerte Ziel war es, den harten Kern der Taliban dazu zu bewegen, in dieser Zeit das Gebiet zu verlassen, sodass die Nato-Truppen ihre Großoffensive durchführen konnten, ohne tatsächlich gegen jemanden kämpfen zu müssen; sie verscheuchten den Feind vorübergehend, anstatt ihn zu besiegen.

Diese neue Militärtaktik, den Feind lautstark und minutiös über seine Pläne zu informieren, wirkt vielleicht etwas grotesk, aber sie steht völlig im Einklang mit der Strategie der risikovermeidenden Kriegsführung, die die westliche Kampagne in Afghanistan und auch die Besetzung des Irak insgesamt charakterisiert. Nach dem frühen Jubel darüber, wie die Nato-Truppen die Taliban „geblitzt” hatten, ohne in irgendwelche Kampfaktivitäten verwickelt zu sein, wurde berichtet, der Vorstoß habe sich verlangsamt, da der Feind überraschenderweise selbst gebastelte Bomben zur Begrüßung hinterlassen hatte. Die Taliban, unabhängig von ihren grundsätzlichen Mängeln, hatten offensichtlich zumindest die Prinzipien des Guerillakrieges und die Empfehlungen von Sun Tzu verstanden und sich zwar vor der massiven Intervention zurückgezogen, aber nicht, ohne die Straßen und Dörfer mit improvisierten Bomben zu verminen.

Die seltsame Mischung aus Risikovermeidung und rücksichtloser Kriegsführung, die die westliche Militärstrategie charakterisiert, unterminierte selbstredend sehr schnell den zum Scheitern verurteilen Versuch, „die Herzen und den Verstand“ der Bevölkerung im südlichen Afghanistan für sich zu gewinnen. So verlautbarte ein britischer Militärkommandeur, dass es zwar so aussehe, als würden die Alliierten die Dörfer überfallen und besetzen, aber sie seien dennoch „in Frieden gekommen“. Kurz darauf wurde berichtet, dass zwölf afghanische Zivilisten von einer Nato-Rakete getötet wurden. Eine kleine Gruppe hatte Widerstand geleistet, und da fiel den Nato-Truppen nichts Besseres ein, als den Vorschlaghammer herauszuholen und eine Kurzstreckenrakete abzufeuern. Sie verfehlte ihr Ziel um 300 Meter und tötete ein Dutzend Zivilisten. Diese Panne versetzte die Nato-Kommandozentrale in noch größere Panik als die früheren Fehler, denen sehr viel mehr Afghanen zum Opfer fielen. Warum? Weil dies das so wichtige Image der bewusst öffentlich gemachten Offensive beschädigte.

Die Operation hatte keine militärische, sondern lediglich eine propagandistische Funktion. Die US-amerikanische und die britische Regierung scheinen sich weniger um das Erreichen militärischer Ziele zu sorgen als vielmehr darum, wie sie den Kampf um die öffentliche Meinung gewinnen und wie sie die richtige Botschaft über ihre Friedensmission in der Welt kommunizieren können. Manche Beobachter nannten die Mission daher auch einen Medienerfolg – als wäre das vergleichbar damit, einen echten Krieg zu gewinnen. Viel Wert wurde darauf gelegt, dass lokale afghanische Politiker und Militärs eine führende Rolle bei den Pressekonferenzen einnehmen in der Hoffnung, dass man sich bald wieder zurückziehen könnte. In der realen Welt, die mit der Medienwelt nichts zu tun hat, ist es jedoch klar, dass das amerikanische Militär das Sagen hat und dass die Taliban sehr wahrscheinlich zurückkehren, sobald die Luft wieder rein ist.

Das Abenteuer in Afghanistan ist ein Krieg ohne Grund, initiiert nach dem 11. September, und er wird seitdem ohne klare strategische Ausrichtung ausgefochten. Es ist unklar, ob man dort gegen den Terrorismus, für Demokratie, für Frauenrechte, gegen die Drogenkartelle oder überhaupt gegen einen Feind vorgeht. Lange Zeit sah es so aus, als wäre der Krieg ein Selbstzweck: Militärische Abenteuer im Ausland waren das einzige Gebiet, in dem die USA und ihre Alliierten ihre Autorität geltend machen konnten, um sich selbst das Gefühl einer Mission zu vermitteln. Gleichzeitig wurde aber auch die Abwesenheit jeglicher kohärenter Weit- und Weltsicht deutlich.

Nunmehr erreicht die selbstzerstörerische Mission in Afghanistan neue Formen der Absurdität: US-Präsident Barack Obama kündigt einen neuen Vorstoß der amerikanischen Truppen in das Kampfgebiet an, lässt aber gleichzeitig Pläne für den Abzug der Truppen ab 2011 zirkulieren. Die Nato schafft es somit, einen Krieg zu erklären und zeitlich ihre Niederlage einzugestehen. Kurz gesagt: Es herrscht der totale Krieg bis, naja … nächstes Jahr, bis man wieder abzieht. In der Zwischenzeit werden die Rebellen vor Angriffen gewarnt und mit einem Zeitplan ausgestattet, um sich gut darauf einstellen zu können.

Wer braucht eigentlich die Taliban, wenn man sich selbst austrickst und besiegt? Das Ergebnis übertrifft die schlimmsten Befürchtungen: eine Besetzung ohne Sinn und Zweck, eine gefährliche militärische Offensive ohne Ziele, ein Krieg ohne Grund, aber mit vielen Opfern. Und trotzdem geht die öffentliche Diskussion einzig und allein darum, ob die westlichen Truppen auch pünktlich abziehen werden, und nicht darum, was sie dort überhaupt zu suchen haben. Der wirklich ausschlaggebende Punkt ist doch, dass solche Interventionen nicht funktionieren und zudem vom Kern her zutiefst antidemokratisch sind.

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