25.02.2010
Bildung unter Beschuss
Essay von Jennie Bristow
Ein Gespräch zwischen Frank Furedi und Jennie Bristow über die Politisierung der Bildung und über die Krise der Autorität von Erwachsenen.
Jeder hat heute eine Meinung zur Bildungskrise. Politiker beklagen veraltete Denkmuster, pfuschen an Lehrplänen herum, schreiben neue Unterrichtsmethoden vor und versuchen, Eltern stärker in das Projekt der Schulbildung einzubeziehen. Die Lehrer beschweren sich über die Einmischung durch die Politik und über die Unfähigkeit der Eltern, ihren Kindern Disziplin beizubringen. Die Eltern wiederum machen die Lehrer verantwortlich, weil diese entweder zu streng oder zu soft sind. Traditionell ausgebildete Universitätsprofessoren beschweren sich über Studenten, die kaum in der Lage sind, ein Buch zu lesen, einen Satz zu schreiben oder eine einfache Formel zu lösen. Arbeitgeber werfen den Schulen vor, junge Menschen hervorzubringen, denen die Grundfähigkeiten fürs Arbeitsleben fehlen. So viel Bildungsangst wirkt lähmend.
„Formelle Bildung ist der Prozess, durch den die Gesellschaft ihre Werte und ihr intellektuelles Vermächtnis an die jüngere Generation weitergibt.“
All die großen Pädagogikdebatten – wie Kinder lesen lernen, ob Klassiker den neuen Medien vorzuziehen sind usw. – sind zweitrangige Fragen, sagt Frank Furedi. „Dies sind wichtige Fragen, aber wie gut eine Unterrichtsmethode funktioniert, hängt davon ab, ob erkannt wird, dass Bildung einer intergenerativen Dynamik unterliegt, die auf der Autorität von Erwachsenen beruht. Wir sind heute nicht in der Lage, der Bildung einen Wert beizumessen, weil wir uns damit schwer tun, dem Erwachsensein einen besonderen Wert zuzugestehen. Mein Buch Wasted ist ein Versuch, dieses fundamentale Problem zu verstehen“.
Die Schwierigkeit, dem Erwachsensein eine Bedeutung zuzumessen, äußert sich auf unterschiedliche Arten. Da sind Eltern, die sich fragen, wie sie einem Zweijährigen beibringen können, sich zu benehmen, oder Lehrer, die sich vor einem „gewalttätigen“ Vierjährigen fürchten. Da sind aber auch Politiker, die Eltern Strafen androhen, wenn Kinder die Schule schwänzen. Disziplin ist ein Teil unseres Lebens, der früher als selbstverständlich galt, heute aber Auslöser unendlicher Auseinandersetzungen geworden ist. Die Tatsache, dass heute infrage gestellt wird, ob Erwachsene das moralische Recht haben, ihre Kinder zu disziplinieren, und dass elterliche Disziplin den prüfenden Blicken und Anfechtungen Außenstehender ausgesetzt ist, zeigt, wie sehr das bloße Konzept elterlicher Autorität erodiert ist – in der Schule wie auch zu Hause.
Hiermit verbunden ist ein Trend, den Furedi „umgekehrte Sozialisation“ nennt. „Sozialisation“, schreibt er, „ist der Prozess, durch den Kinder auf die vor ihnen liegende Welt vorbereitet werden. Die Verantwortung hierfür tragen das Elternhaus sowie das gesellschaftliche Umfeld und im formellen Rahmen die Schule“. Diese intergenerative Verantwortung werde heute durch sogenannte „Experten“ untergraben. Sie versuchen über den Umweg unserer Kinder, ihre gesellschaftlichen Werte zu vermitteln. Eltern sind es inzwischen gewohnt, dass ihre Kinder mit Ratschlägen zu gesunder Ernährung oder zur richtigen Mülltrennung nach Hause kommen. Lehrer dagegen sehen ihre Autorität durch externe Spezialisten untergraben, die in die Schulen eindringen, um Kinder über Sex, Drogen oder „Life Skills“ aufzuklären.
Furedis 2002 auch auf Deutsch erschienenes Buch Elternparanoia zeigt die Folgen, die die Abwertung der Autorität von Erwachsenen für die Elternrolle hat. Im neuen Buch Wasted geht es um die Auswirkungen dieses infantilisierenden Trends auf Lehrer und das Projekt der Bildung insgesamt. Lehrer werden sich mit den Schilderungen täglicher Frustrationen identifizieren können, wenn Furedi z.B. beschreibt, wie Disziplinierungstechniken von Lehrern überprüft werden oder Schüler bei Stellenbesetzungen einbezogen werden. Solche Praktiken sind symptomatisch für einen Prozess, der den Grundgedanken von Bildung als einer Transaktion zwischen den Generationen infrage stellt.
Formelle Bildung ist der Prozess, durch den die Gesellschaft ihre Werte und ihr intellektuelles Erbe der jüngeren Generation vermittelt. Indem er sich auf das Werk der Philosophin Hannah Ahrend bezieht, schreibt Furedi, dass „sich eine Gesellschaft durch Bildung sowohl erhält als auch erneuert“. Aus diesem Grund ist die traditionelle, liberale Bildung ein essenziell konservatives Projekt, das dazu dient, Kindern all das beizubringen, was die Gesellschaft weiß. Es geht nicht darum, sie aufzufordern, das herkömmliche Wissen infrage zu stellen. Die konservierende Funktion der Bildung besteht jedoch nicht darin, Kinder so zu indoktrinieren, dass sie zu Konservativen werden, sondern es geht darum, ihnen die Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um selbst eine neue Welt schaffen zu können, erklärt Furedi. Nur wenn man Kindern anhand glaubwürdiger, autoritärer Quellen erklärt, wie die Welt ist, können sie genügend Wissen und die Fähigkeit entwickeln, um selber kritisch zu denken. Nur dann verfügen sie über genügend Voraussetzungen, um ihre Welt als Erwachsene selber gestalten zu können. In diesem Sinne sollte eine konservative Bildung als notwendige Grundlage für eine Generation verstanden werden, die sowohl in der Lage ist, die Gesellschaft zu verändern, als auch, sie zusammenzuhalten.
„Wenn Lernen etwas ist, das Menschen zu jeder Zeit ihres Lebens tun können, was ist dann so besonders an dem, was Lehrer tun?“
Eine Konsequenz der Abwertung der Autorität von Erwachsenen ist, dass das normale Verhältnis zwischen Bildung und Gesellschaft umgekehrt worden ist und dass auf die Bildung alle ungelösten Probleme des öffentlichen Lebens abgeladen werden. Während Erwachsene infantilisiert und Kinder wie Mini-Erwachsene behandelt werden, deren Stimmen zu allem gehört werden müssen, ist Bildung zu einem zentralen Ort für politische Auseinandersetzungen geworden. Furedi schreibt: „Im öffentlichen Leben gehen Politiker auf Nummer sicher und vermeiden in der Regel tiefer gehende Themen oder ernste Debatten. Aber Probleme, die auf dem Gebiet der Politik vermieden werden, tauchen oft im Rahmen des Schullehrplans wieder auf. So wird das Problem politischer Apathie und Politikmüdigkeit als unvermeidbarer Bestandteil unseres öffentlichen Lebens angesehen, um dann in den Schulen plötzlich im Rahmen von ‚Demokratieunterricht‘ wieder aufzutauchen. Bildungseinrichtungen wird die Aufgabe zugesprochen, Probleme zu lösen und die Einstellung zur Politik zu verändern.“
Die Politisierung der Bildung hat in den letzten Jahren in dem Maße zugenommen, in dem die Politik und das öffentliche Leben an Dynamik eingebüßt haben. Der Rückzug der modernen Gesellschaft aus der Politik und die Verabschiedung von der Vorstellung, dass wir bezüglich der Gestaltung unserer Existenz Wahlmöglichkeiten hätten, wurde im Buch Politics of Fear von Frank Furedi (erschienen 2005) untersucht. Eine der Hauptkonsequenzen, die sich aus der Diskreditierung politischer Autorität ergibt, ist, dass diejenigen, die die Gesellschaft verwalten, immer stärker auf die Manipulation vorpolitischer Instanzen wie Familie oder Bildung zurückgreifen.
Dies ist ein gefährlicher Prozess, schreibt Furedi, weil alle Formen der Autorität in einer Gesellschaft auf dem grundlegenden Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern beruhen. Die Autorität von Eltern wurde in der Geschichte immer als besonders wichtig erachtet – nicht weil Politiker einst ein besonders gutes Bild von Eltern hatten (oder deren Autonomie besonders respektierten), sondern weil Kindererziehung als ein Lebensbereich galt, bei dem es natürlicherweise notwendig war, dass die Erwachsenen die Kinder beschützten. Während also herkömmliche Autoritäten im Namen der Demokratie, der Freiheit oder der Wissenschaft infrage gestellt wurden, galten die vorpolitischen Instanzen der Autorität als Bereiche, in die sich einzumischen zu riskant war. Wie Furedi erklärt, hat sich dies in den letzten 50 Jahren immer stärker relativiert: Nicht die eine oder andere Form von Autorität wurde infrage gestellt, sondern die „Autorität der Autorität“ selber.
Dies zeigt sich am Ausmaß, in dem Erziehungsexperten die Autorität der Erwachsenen gegenüber Kindern im täglichen Leben immer unverhohlener hinterfragen – bspw. durch die Propagierung neuer Motivationstechniken für Lehrer, die darauf beruhen, dass man den Kindern eher Komplimente macht, als sie durch Autorität zu mehr Aufmerksamkeit zu drängen. Heute, so Furedi, fühlt sich die Gesellschaft in Hinblick auf elterliche Autorität ähnlich unwohl wie die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts in Hinblick auf die Autorität der absoluten Monarchie. Doch anders als die Rebellion gegen ererbte Privilegien führt unser Unwohlsein mit der Autorität von Erwachsenen nicht zu einer positiven Demokratisierung. Stattdessen wird es zu mehr Verwirrung kommen, und die „Grenzen zwischen den Generationen werden sehr willkürlich erscheinen – der Prozess der Sozialisierung von Generationen wird unvollständig sein“. Furedi erforscht zurzeit die historische Evolution von Autoritätsbeziehungen, um zu verstehen, wie eine Gesellschaft, die hinsichtlich der eigenen Ziele unsicher ist, auf Probleme reagiert. Mit dem Buch Wasted schließt er den ersten Teil dieser Arbeit ab. Es beschäftigt sich mit der intergenerativen Dynamik von Bildung und Erziehung. Es dient als Grundlage, aktuelle Debatten und Initiativen über Bildung, die viele Eltern und Lehrer verunsichern und beunruhigen, zu entmystifizieren.
Wenn man erkennt, wie wichtig es ist, dass sich eine Gesellschaft durch das „Heranbilden“ ihrer jungen Generation erneuert, lässt sich das heutige Mantra des „lebenslangen Lernens“ besser verstehen. Es stimmt zwar, dass Menschen im Verlauf ihres Lebens einem ständigen informellen Lernprozess ausgesetzt sind. Dennoch wertet das lebenslange Lernen als bildungspolitisches Ziel sowohl die Rolle von Lehrern als auch die Bedeutung formeller Erziehung ab. Wenn das Lernen einfach nur etwas ist, was Menschen in ihrem Leben jederzeit tun, was ist dann das Besondere am Lehrerberuf? Wieso sollten wir darauf bestehen, dass Kinder die Schule mit einer Qualifikation beenden? Indem Lehrer selber als Menschen dargestellt werden, die ständig neu zu lernen haben, beraubt man sie ihres Status und stellt sie auf die gleiche Stufe wie Schüler. Kein Wunder, dass sich gute, autoritative Lehrer von ihrem Beruf abwenden.
„Bei der therapeutischen Bildung werden Emotionen aus ihrem historischen Kontext gelöst und dogmatische Regeln darüber entworfen, was akzeptable Gefühle sind und was nicht.“
Die therapeutische Form der Bildung, bei der die Kontrolle kindlicher Emotionen und kindlichen Verhaltens als besonders wichtig angesehen wird, hat wenig Opposition hervorgebracht. Widerspricht man, läuft man Gefahr, als alter Querkopf und dumpfer Pauker verunglimpft zu werden, der nicht auf Kindergefühle eingeht. Furedi zeigt, dass es aber vor allem um die Frage geht, ob man die akademische Bildung in den Vordergrund stellen möchte oder einen therapeutischen Ansatz vorzieht, der seines intellektuellen Kerns beraubt worden ist. Eine gute Schule wird alles tun, um die Moral sowie die emotionalen Bedürfnisse eines Kindes zu berücksichtigen. Gute Lehrer wissen, dass die Kultivierung des Intellekts untrennbar mit der Grundeinstellung und dem Benehmen eines Kindes verbunden ist, sagt Furedi. An traditionellen Schulen wurden die Emotionen vor allem durch die künstlerischen Fächer geschult. Im Gegensatz dazu werden Emotionen im anti-akademischen Unterricht, den der therapeutische Ansatz bevorzugt, aus ihrem historischen Kontext gelöst. Es werden engstirnige, dogmatische Regeln über akzeptable und inakzeptable Verhaltensweisen erarbeitet.
Wenn Bildung als Prozess verstanden wird, durch den die Werte und das intellektuelle Erbe einer Gesellschaft an die junge Generation übertragen werden, wird der fachbezogene Unterricht, bei dem es um Lehrinhalte geht, automatisch gestärkt. Wird jedoch das Fach „Literatur“ durch die einfache Vermittlung von „Lesefähigkeit“ ersetzt oder der Wissenschaftsunterricht dem Zweck untergeordnet, Ethikdebatten zu führen, dann lernen Kinder nicht einfach nur das Gleiche mit anderen Mitteln. Vielmehr spiegelt sich in einer solchen Fragmentierung und Politisierung der Lehrpläne eine tief sitzende Defensivität gegenüber den kulturellen Errungenschaften der Vergangenheit wider. Es zeigt, wie wenig wir heute bereit sind, unseren Kindern auch nur einen Hauch von Bewusstsein über unser intellektuelles Erbe zu vermitteln.
Immer wenn Politiker am Schullehrplan herumbasteln oder darauf bestehen, dass Schulen den neuesten Vorstellungen der Bildung folgen, ist dies Ausdruck ihrer Bereitschaft, das Wissen sowie die Kreativität und die Gedanken aus vielen Jahrzehnten einfach fallen zu lassen – aus Gründen politischer Zweckmäßigkeit. Verschwendet wird infolge eines solchen philisterhaften politischen Kuhhandels nicht nur das Potenzial von Kindern, die nicht mehr lernen, die Errungenschaften der Vergangenheit zu schätzen, um über diese hinauswachsen zu können, sondern die menschliche Geschichte selber.