01.03.2010

Kooperiere! Konkurriere!

Essay von Lena Wilde

Bewerbungsprozesse sind zeitraubend und widersprüchlich. Vor allem machen sie deutlich, dass neuen Mitarbeitern mit großem Misstrauen begegnet wird.

Bewerben ist eine eigene Wissenschaft geworden. Früher standen bei Bewerbungen hauptsächlich die Qualifikationen im Vordergrund. Das hat die Suche nach dem besten Bewerber recht leicht gemacht. Wer seine Ausbildung zügig abgeschlossen und Erfahrungen im Ausland oder im Berufsalltag gesammelt hatte, hob sich positiv von der Masse ab. Doch diese hervorstechenden Merkmale sind längst zur Grundausstattung geworden, ohne die man sich heute gar nicht erst bewerben sollte.

Wenn sich ein Unternehmen heute für einen Bewerber entscheiden muss, ist das nicht mehr ganz so einfach. Hoch qualifiziert sind so viele, es lässt sich kaum mehr sagen, wer nun der Bessere ist. Aus diesem Grund hat sich die Entscheidung für oder gegen einen Bewerber auf die Persönlichkeit verlagert. Allerdings scheinen viele große Unternehmen verunsichert darüber, welche Eigenschaften denn einen guten Mitarbeiter überhaupt ausmachen. Geht es allein um Effizienz und Leistung, oder sind „soft skills“ die entscheidenderen Faktoren? Um dieser offenen Frage aus dem Weg zu gehen, wo denn die Stärken des Mitarbeiters liegen könnten, konzentriert man sich lieber auf die Schwächen. Misstrauisch werden nun Äußerungen und Informationen über die Bewerber gesammelt und auf charakterliche Mängel untersucht.

Beweise für Persönlichkeit

Diese Suche beginnt schon bei den Bewerbungsunterlagen. Die Art der Formulierungen, die Aussagekraft des Fotos, es soll sogar schon die Farbe der Mappe als Entscheidungshilfe benutzt worden sein. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist der Lebenslauf. Wer nachweislich im Ausland gewesen ist, dem wird Selbstständigkeit und Mobilität attestiert. Wer mehrfach umgezogen ist, scheint ganz besonders flexibel zu sein. Wer ehrenamtlich in einem brasilianischen Kinderheim mitgearbeitet hat, zeigt Engagement und soziales Gewissen. Und wer dann noch als Berufseinsteiger Anfang 20 ist, beweist, wie schnell man das alles machen kann, wenn man mit den Fremdsprachen schon im Kindergarten angefangen hat.

Wer eines der vielen Karrieremagazine für Berufseinsteiger zur Hand nimmt, der liest dort Sätze wie: „Mit einem selbst organisierten Auslandsaufenthalt werden Eigenschaften wie Offenheit, Selbstständigkeit und Lernbereitschaft trainiert.“ Der Umkehrschluss liegt hierbei natürlich auf der Hand: Wer all diese wichtigen Lebenslaufeinträge nicht oder nicht in ausreichendem Maße vorweisen kann, dem kann es passieren, dass ihm die damit verbundenen Eigenschaften abgesprochen werden. Es scheint heute kaum noch vorstellbar, dass man Persönlichkeit und Charakter einfach deshalb mitbringt, weil man sie im Laufe von zwei oder drei Jahrzehnten Lebenserfahrung entwickelt hat. Man muss sich darauf einstellen, dies durch Zertifikate und Zeugnisse zu belegen.

Doch eine Sache sollte zu denken geben: Die herausragenden Führungspersönlichkeiten in den verschiedenen Firmen und Branchen sind oftmals gerade nicht die mit den perfekten, geradlinigen Lebensläufen. Es sind nicht selten querdenkende Charakterköpfe mit großen Brüchen und Umwegen im Lebenslauf. Derart kariöse Löcher in der eigenen Biografie stellen heute ein großes Problem dar. Man muss sie geschickt begründen, falls man wegen ihnen nicht schon von vornherein vom Vorstellungsgespräch ausgeschlossen wurde. Ein großer Teil derjenigen, die heute die Unternehmen führen und prägen, würden unter heutigen Bedingungen niemals mehr eingestellt. Und doch sind sie, es mag Rätsel aufgeben, völlig ohne Lebenslaufoptimierung zu unabhängigen Persönlichkeiten geworden. Ist das heute nicht mehr gefragt? Auf den ersten Blick schon. Zumindest wenn man sich die Anzeigen in den Karrieremagazinen anschaut: Ein großer deutscher Stromanbieter sucht Mitarbeiter „die auch mal die Perspektive wechseln“. Ein Chemiekonzern sucht „Querdenker und andere Talente“. Eine große Bank fragt: „Bereit für ein Unternehmen, das keine Einzelkämpfer kennt?“ Bereit für die Wirklichkeit?

Wer heute einen der Plätze in diesen Großunternehmen ergattern will, der sollte tunlichst keine allzu ausgefallene Perspektive einnehmen, besser nicht zu querdenken und vor allen Dingen sehr wohl ein Einzelkämpfer sein. Dass es eher diese Eigenschaften sind, die gewünscht und gefragt sind, verrät die heute herrschende Bewerbungskultur in großen Unternehmen.

Personal wird gecastet ...

Casting-Shows werden gerne verurteilt. Verdummung sei das, entwürdigend für die Teilnehmer, belästigend für die Zuschauer. Assessment-Center hingegen sind aus irgendeinem Grund von diesem Verdacht befreit, obwohl sie ziemlich ähnlich ablaufen. Immer neuere Methoden und Instrumente sind in den letzten Jahren entwickelt worden, um irgendwelche Hinweise auf charakterliche Schwächen der Bewerber zu finden. Man lässt sie gruppenweise abstruse Psychospielchen spielen, bei denen dann jeder versucht, der Wortführer zu sein, und gleichzeitig merkt, dass es nach hinten losgeht, wenn alle das machen. Es weiß auch keiner so genau, was eigentlich verlangt wird. Assessment-Center sind ein einziges Mysterium. Für davon verunsicherte Bewerber gibt es mittlerweile schon Assessment-Center-Trainings. Dort kann man sein schauspielerisches Talent für den entscheidenden Tag erproben, an dem man seine Persönlichkeit präsentieren soll.

Manchen Unternehmen reicht eine ordentliche Dosis psychischer Stress aber noch lange nicht aus, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Sie wollen die Bewerber an ihre persönliche Grenze führen und veranstalten zu diesem Zweck Orientierungsläufe und Bergbesteigungen. Ein bekannter deutscher Hersteller von Milchprodukten beispielsweise schickte seine Bewerber auf eine abenteuerliche Schnitzeljagd, wo diese sich u.a. in Abseilübungen aus schwindelerregender Höhe beweisen mussten – wohlgemerkt für einen Job, der nachher zum größten Teil hinter dem Schreibtisch stattfinden wird. Wer für diesen Job geeignet und qualifiziert ist, aber leider unter Höhenangst leidet, ist bei diesem Verfahren draußen. Dem selbst erklärten Ziel, den besten Bewerber zu finden, ist man damit keinen Schritt nähergekommen. Auf der Internetseite eines Nachrichtenmagazins kommentiert ein Nutzer den Bericht eines Betroffenen, der an diesem Auswahlverfahren teilgenommen hat: „Schickt die Bewerber doch ins Dschungelcamp. Der, der die Känguruhoden isst, bekommt den Job.“

... und Nachwuchs rekrutiert

Derartige Auswahlverfahren erinnern nicht nur an Casting-Shows, sondern auch an militärische Ausbildung. Es ist schließlich kein Zufall, dass die Bewerbung neudeutsch auch gerne als Recruiting bezeichnet wird. Das klingt erstens modern und ist zweitens nicht ganz eindeutig. Letzteres hat den Vorteil, dass man das Verfahren mit der gewünschten Bedeutung aufladen kann. Recruiting – das ist dann eben nicht nur das Vorstellungsgespräch im Bürozimmer, das kann auch eine strapaziöse Frischluftaktion sein. Anglizismen sind ein weiterer Trend in der heutigen Bewerbungskultur. Englische Ausdrücke haben das Glück, aus deutscher Perspektive jung, dynamisch, international und intelligent zu klingen. Und sie vermögen die nüchterne Wahrheit mit bonbonfarbenen Worthülsen zu umschließen und erschaffen eine Aura der latenten Unverständlichkeit. Man hat immer eine grobe Ahnung, was gemeint sein könnte. Und doch, ein Restzweifel bleibt. Das wirkt mystisch. Es ist der gleiche Effekt wie beim in lateinischer Sprache abgehaltenen Gottesdienst. Man versteht es nicht so genau. Aber es muss sehr, sehr wichtig sein.

Religiöse Tendenzen im Personalmanagement

Peter Mühlbauer veröffentlichte 2006 einen Artikel, in dem er unter Berufung auf die Arbeiten einiger Ethnologen darauf aufmerksam machte, dass die heutige Bewerbungskultur viele mystische Elemente aufweise.1 Der Prozess der Bewerbung, der eigentlich so rational wie möglich ablaufen sollte, wird immer irrationaler gestaltet. Dies ist vor allem an den zahlreichen Ritualen erkennbar, die im Bewerbungsverfahren eine immer größere Rolle spielen und kaum hinterfragt werden, obwohl sie dem Ziel der bestmöglichen Personalauswahl nicht dienlich sind. Eine Reihe von Verhaltensvorschriften ist zur gängigen Praxis geworden. Es gibt Formulierungen, die man verwenden muss, und andere, die man niemals verwenden sollte. Für das Vorstellungsgespräch wird empfohlen, den perfekten Händedruck zu trainieren und seine Mimik unter Kontrolle zu halten. Doch die Folge davon ist, dass sich all die Bewerber, die sich doch wenigstens noch durch ihre Persönlichkeit unterscheiden sollten, nun auch noch im Verhalten gleichen. Wenn es kaum noch erkennbare Unterschiede gibt, wird die Personalauswahl zu einem großen Rätselraten. Darauf weisen auch die Karrieremagazine hin. In einem davon steht geschrieben: „Es ist nicht immer leicht, die unausgesprochenen Wünsche der Personalverantwortlichen zu erkennen.“ Das ist die moderne Variante von: „Die Wege des Herrn sind unergründlich.“

Wer unter solchen Bedingungen im Bewerbungsverfahren scheitert, dem bleibt der Grund in aller Regel schleierhaft. Er wird vermutlich so reagieren, wie Peter Mühlbauer es beschreibt: Wenn die Gründe nicht bekannt sind, erhöht man einfach den Einsatz der Mittel. Genauso wie man in der Kirche vielleicht noch ein zweites oder drittes Mal betet, wenn einmal nicht ausgereicht hat. Vielleicht hilft es ja. Man investiert also lieber in eine teurere Bewerbungsmappe, macht ein professionelleres Foto, lässt sich vom Typberater einkleiden, nimmt an einem Softskill-Seminar teil oder kauft sich ein weiteres der zahlreichen Beratungsbücher zum Thema.

Mühlbauer bezeichnet dies als freiwillige Opfergaben – nicht zuletzt aus finanziellen Gründen. Man kann nur mutmaßen, ob sich diese Investitionen lohnen, aber besser, man häuft ein paar Gaben mehr auf dem Altar an. Vielleicht stimmt das die Personaler milde. Opfergaben finden auch in anderer Hinsicht statt: Gemeint ist die Tendenz zu unterordnendem, erniedrigendem Verhalten vieler Bewerber, die vor der gottgleichen Autorität des Personalmanagers auf die Knie gehen. Sie investieren Jahre in ihre Ausbildung, häufen Schulden an für den perfekten Lebenslauf, ziehen von Land zu Land, hangeln sich von Praktikum zu Praktikum, und wenn ihnen dann am Ende in ihrer Traumfirma für all die Mühen ein befristeter Halbjahresvertrag auf 400-Euro-Basis angeboten wird, ergehen sie sich in anrührender Dankbarkeit ob dieser großartigen Chance. Die junge Journalistin Elena Senft beschrieb unlängst in einem Artikel dieses von ihr oft beobachtete Verhalten. So bemerkte sie: „Heute erniedrigen sich viele Uni-Abgänger selbst, ducken sich vor Autoritätspersonen.“2

Vielleicht ist an dem Vergleich auch nicht allzu viel dran. Personaler als Priester, Bewerber als zu Kreuze kriechende Schäfchen, vielleicht ist das doch zu abwegig. Solange es noch keine Karrierebibel gibt, hinkt der Vergleich womöglich. Allerdings gibt es sie. Der Wirtschaftsjournalist Jochen Mai hat sie geschrieben, und die Inhaltsbeschreibung verspricht, dass dieses Buch erstmals alle wichtigen Gesetze des Erfolgs enthalte.3 Und Erfolg, das sei „allenfalls zehn Prozent Leistung, dafür aber umso mehr Psychologie, Soziologie, Strategie, Diplomatie, Fantasie und Publicity.“ Das entspricht in etwa den Nebenfächern, die man für eine erfolgreiche Bewerbung zusätzlich belegt haben sollte.

Methoden des Misstrauens

Es scheint paradox – Unternehmen brauchen guten Nachwuchs. Und gleichzeitig begegnen sie den Bewerbern mit einem oft nicht einmal verdeckten Misstrauen. Wie groß muss die Freude in den Kreisen einiger Personalabteilungen gewesen sein, als die sozialen Netzwerke erfunden wurden? Damit hatte man eine weitere gute Quelle für Informationen gefunden, die gegen den Bewerber sprechen könnten. Vielleicht eine Meinung, die nicht gefällt, oder merkwürdiges Freizeitverhalten. Die Süddeutsche Zeitung zitiert eine Dimap-Studie, der zufolge gegenwärtig etwa 30 Prozent der Unternehmen im Internet hinter ihren Bewerbern herrecherchieren und sich dabei vor allem für Informationen aus dem Bereich Privatleben und Meinungsäußerung interessieren.4 Diese Option ist natürlich nicht verboten, und immerhin kann jeder selber frei entscheiden, welche Äußerungen er im Netz hinterlässt. Aber die Methode zeugt von einem tief sitzenden Misstrauen gegenüber den Bewerbern. Man will auf Nummer sicher gehen. Denn am Ende passiert das, was keiner gewollt haben kann: Man stellt aus Versehen doch einen Querdenker ein.

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