01.03.2010

PISA als Selbstzweck

Interview mit Richard Münch

Der Autor von Globale Eliten, lokale Autoritäten, im Gespräch über den Streit um neue Bildungskonzepte.

Novo: Herr Münch, in Ihrem Buch sprechen Sie von Machtverschiebungen, die die Bildungspolitik betreffen. Wer hat in diesem Machtgerangel die Überhand gewonnen? Wer ist die neue Elite?

Richard Münch: Die Bildungspolitik ist ein Feld, auf dem Lehrerverbände, Elternverbände, bildungspolitische Arbeitskreise und Sprecher der politischen Parteien, Experten der Wissenschaft und die Spitzenbeamten der Bildungsministerien der Länder sowie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung miteinander um die Gestaltung des Bildungsprozesses in den Schulen ringen. Es geht darum, was unter Bildung überhaupt zu verstehen sein soll, in welchen Schul- und Unterrichtsformen der Bildungsprozess der Schülerinnen und Schüler stattfinden soll und wie die Qualität der Bildung sichergestellt werden kann. Darüber herrschen in stabilen Zeiten relativ unangetastete Lehren der guten Bildung. In einer Zeit des Wandels, wie wir sie gegenwärtig erleben, werden die alten Lehren infrage gestellt, über die Durchsetzung einer neuen Lehre wird heftig gestritten. In der Vergangenheit haben die Lehrerverbände – insbesondere der Philologenverband – das Feld der Bildungspolitik in Deutschland beherrscht. Gegenwärtig ist eine Machtverschiebung zugunsten der zunehmend international vernetzen Experten der Wissenschaft, d.h. der quantitativ arbeitenden empirischen Bildungsforschung zu beobachten. Die alte Elite der Philologen wird durch die neue Elite der Bildungsforscher aus ihrer dominanten Position verdrängt.

Welche Probleme ergeben sich aus diesem Verdrängungsprozess?

Mit der Internationalisierung des Feldes der Bildungspolitik wird eine global einheitliche Lehre der guten Bildung und ihrer Umsetzung in Bildungsstandards (insbesondere auf dem Wege der Messung von Kompetenzen) durchgesetzt. Diese Lehre nimmt auf nationale oder regionale, bundesländerspezifische Traditionen keine Rücksicht. Die im PISA-Test gemessenen Kompetenzen in muttersprachlichem Lesen, Mathematik und Naturwissenschaft bilden nicht ab, was in diesen Fächern bisher gelehrt wurde, und erst recht nicht, was in den anderen Fächern, etwa in Geschichte und Fremdsprachen, auf dem Lehrplan steht. In dem Bestreben, im PISA-Test gut abzuschneiden, findet eine einseitige Bevorzugung der für den PISA-Test relevanten Kompetenzen auf Kosten der Vernachlässigung anderer wesentlicher Bestandteile der Bildung statt. Hinzu kommt, dass die neuen Kräfte, die Einfluss auf die Bildung nehmen, auf einer globalen und damit schwer greifbaren Ebene agieren. Sie können für konkrete Entscheidungen kaum zur Verantwortung gezogen werden.

Wie konnte es zu dem Einflussgewinn der externen, „globalen“ Berater kommen?

Der Einflussgewinn der global vernetzen Bildungsforscher und Berater hat sich zunächst aus dem Aufbau der Abteilung für Bildung in der OECD und der entsprechenden, seit Mitte der 90er-Jahre forcierten OECD-Agenda zu Wachstum und Beschäftigung ergeben. Die verbesserte Bildung breiter Bevölkerungsschichten soll einen wirtschaftlichen Wachstumsschub und entsprechend wachsende Beschäftigungschancen in der sogenannten Wissensgesellschaft erbringen. Dadurch ist Bildung eine Sache der OECD jenseits der nationalstaatlichen Souveränität oder gar der Kompetenz einzelner Bundesländer geworden. Die alte Elite der Lehrerverbände hat es aber auch nicht vermocht, Bildung und ihre Gestaltung in Schule und Unterricht auf die neuen Herausforderungen der Einbeziehung möglichst der gesamten nachfolgenden Generationen in die Sekundarbildung einzustellen. Stattdessen wurden das dreigliedrige Bildungssystem, ein traditionelles berufsständisches Bildungsverständnis und die einseitige Fixierung der Schule auf Unterricht und Selektion gegen Modernisierungen verteidigt, wie sie in anderen Ländern, besonders erfolgreich in Skandinavien, stattgefunden haben. Im Kontext des internationalen Vergleichs hat deshalb die Position der alten Elite ihre lange Zeit gegebene Legitimität verloren.

Welche Interessen verbindet die OECD mit der Bildungspolitik?

Aufgabe der OECD ist die Förderung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung der in ihr vereinigten Industrieländer, darüber hinaus auch der Entwicklungs- und Schwellenländer. Nach der Entdeckung des Wissens als ökonomischem Produktionsfaktor und dessen gewachsener Bedeutung in der auf ständige, aus der Wissenschaft gespeiste technologische Innovationen setzenden sogenannten wissensbasierten Ökonomie ist die Förderung der Bildung breiter Bevölkerungsschichten zu einem erstrangigen Ziel der OECD geworden. Es versteht sich von selbst, dass Bildung mit dieser Zielsetzung eine einseitig ökonomische Bedeutung erhält, die in Konflikt mit dem traditionellen Bildungsverständnis tritt, wie es bis heute in Deutschland insbesondere vom Philologenverband, der Vertretung der Gymnasiallehrer, gepflegt wird. Der PISA-Test ist das aktuell folgenreichste Instrument der OECD bei dieser Umstellung der Bildung von der traditionellen, berufsständisch geprägten Lehre auf ökonomisch in Rendite umsetzbares Humankapital. Das Verständnis von Bildung als Humankapital ist einseitig und wird den Anforderungen einer umfassenden Persönlichkeitsbildung nicht gerecht.

Sie kritisieren die „Dominanz der Wissenschaft“ in Sachen Bildung. Was ist daran verkehrt, Bildung mit wissenschaftlicher Methodik messbar machen zu wollen?

Mit den Mitteln der Wissenschaft kann Bildung in ganz unterschiedlichen Aspekten untersucht werden. Das kann in historischer, sozial- und erziehungswissenschaftlicher, psychologischer und neuerdings auch vermehrt neurobiologischer Weise geschehen. Immer ist dabei zu beachten, dass die Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis der Bildung kein neutraler Vorgang ist, sondern auf eine selbst nicht reflektierte Weise ihren Gegenstand verändert. Wissenschaftliche Methodik ist nicht einfach ein Mittel, um das Ziel der Bildung besser zu erreichen, vielmehr bestimmt sie das Ziel selbst, indem sie das Verständnis von Bildung unter der Hand verändert. An der Reduktion von Bildung auf nur drei Grundkompetenzen im PISA-Test ist das gut zu beobachten. Die Messinstrumente messen nicht einfach Bildung, sondern bestimmen selbst, was unter Bildung zu verstehen ist, ohne dass darüber eine breite öffentliche Debatte geführt wird. Was wir unter Bildung verstehen wollen, ist keine mit wissenschaftlichen Mitteln zu beantwortende Frage. Es ist eine normative Frage, über die öffentlich debattiert werden muss.

Hat die von Ihnen beschriebene Ausrichtung von Bildung auf standardisierte Tests und die transnationale Vergleichbarkeit konkrete Auswirkungen auf den schulischen Unterricht?

Die Auswirkungen auf den Unterricht nehmen zu, weil es zum Erfolgsbeweis einer guten Bildungspolitik geworden ist, bei internationalen Tests – insbesondere dem PISA-Test – möglichst gut abzuschneiden. Das geschieht ohne einen zwingenden Beweis dafür, dass bessere PISA-Ergebnisse auch tatsächlich eine bessere gebildete Bevölkerung, mehr wissenschaftliche Entdeckungen und technologische Innovationen, mehr wirtschaftliches Wachstum und Beschäftigung bedeuten. Gutes Abschneiden bei internationalen Tests ist zum Selbstzweck geworden. Die Auswirkungen auf den Unterricht sind enorm, weil nachgeordnete landesweite Leistungstests die Schule zu einer permanenten Testanstalt machen, der sich Schüler, Lehrer und Eltern unterworfen sehen, ohne den pädagogischen Sinn dieser Maßnahmen zu erkennen. Das kann so weit gehen, dass die pädagogische Beziehung zwischen Lehrer und Schüler zerstört wird, weil sich beide von einer äußeren Instanz kontrolliert sehen.

Eine der Parolen der neuen Elite ist „Effizienz“. Unser Bildungssystem soll überschaubarer, effizienter, dynamischer und zielgerichteter werden. Sie sprechen von einer neuen Bürokratie, von der Entstehung „institutioneller Hybride“, die weder die alten noch die neuen Zwecke erfüllen.

Im Namen der Effizienz werden Systeme der Berichterstattung und Kontrolle errichtet, die eine Aufblähung von Verwaltungs- und Kontrollstellen und einen gesteigerten Aufwand von Lehrern und Schulleitung in der Berichterstattung zur Folge haben. Ein wachsender Teil von Personal, Zeit und Energie muss in diese Kontrolltätigkeiten investiert werden und geht dem eigentlichen pädagogischen Prozess verloren. Von Effizienzgewinnen kann deshalb nicht die Rede sein.

Sind wir denn wenigstens dem Ziel der Bildungsgerechtigkeit näher gekommen?

Die PISA-Studie hat immerhin mit Nachdruck in die Öffentlichkeit gebracht, was wir aus anderen wissenschaftlichen Studien schon längst wissen. Die seit den 70er-Jahren forcierte Einbeziehung immer breiterer Bevölkerungsschichten in die weiterführende Bildung hat bis heute nichts daran geändert, dass in Deutschland im internationalen Vergleich die soziale Herkunft in besonders hohem Maße über den Bildungserfolg entscheidet. Man muss das aber insoweit relativieren, dass unsere berufliche Ausbildung unterhalb der Hochschulen wiederum im internationalen Vergleich gerade bildungsferneren Schichten einen Aufstieg innerhalb der betrieblichen Hierarchie ermöglicht hat. Die wachsende Akademisierung der Führungspositionen hat diesen Weg des Aufstiegs verschlossen. Umso mehr wirkt das dreigliedrige Schulsystem darauf hin, bildungsferne Schichten von den Chancen des sozialen Aufstiegs fernzuhalten. Außer der Erzeugung öffentlicher Aufmerksamkeit dafür hat PISA daran bislang nichts ändern können.

Was raten Sie den deutschen Bildungspolitikern?

Statt Kontroll- und Testapparaturen grenzenlos wuchern zu lassen, sollten die Bildungspolitiker ihr Augenmerk auf die Gestaltung eines Bildungssystems richten, das allen nachfolgenden Generationen einen Zugang zur höheren Bildung ermöglicht. Das in der Welt fast einmalige dreigliedrige Schulsystem ist dafür nicht geeignet. Es muss realisiert werden, dass Eltern und bessergestellte Schichten mit teuer bezahlter, privilegierender Nachhilfe nicht länger das Versagen der Schule kompensieren können. Eine darauf eingerichtete Ganztagsschule muss ein Lebensraum für Lernen, Spiel, Sport, Musizieren und soziales Engagement sein und weit über das reine Unterrichten hinausgehen. Dem pädagogischen Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler gilt der Vorrang vor wuchernden Kontrollapparaten. Statt Schüler zu indoktrinieren und auszusortieren, sollte der Ansporn zum Lernen, ihre Förderung und breite Einbeziehung in den Lernprozess in den Vordergrund treten. An all diesen Selbstverständlichkeiten mangelt es an den Schulen in Deutschland. All das verlangt von uns allen die Bereitschaft, für ein besser gestaltetes öffentliches Schulwesen auch die notwendige personelle Ausstattung zu finanzieren. Die Bildung der zukünftigen Bürger einer offenen Gesellschaft ist die wichtigste öffentliche Aufgabe, die uns alle angeht.

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