01.03.2010

Gefangen in Cyburbia

Rezension von Jennie Bristow

In seinem faszinierenden neuen Buch Cyburbia behauptet James Harkin, dass die gegenwärtige Internetkultur ihre Ursprünge in den Antiautoritäts- und Antiobjektivitätsbewegungen der 60er-Jahre habe. Vor dem Hintergrund dieser Gegenkulturen plädiert er heute dafür, sich den alles verschlingenden „Second Lives“ zu entziehen.

Eines steht mittlerweile fest: Die Reise der westlichen Welt nach Cyburbia ist ein verlockendes Märchen aus Technologie und Idealismus, aus Kontaktlosigkeit und dennoch einem tiefen Wunsch nach Intimität. Und was erzählt wird über das, was wir tun, wenn wir dort ankommen, ist abwechselnd komisch, erbaulich und äußerst verstörend. Rein technisch gesehen, so Harkin, liegen die Grundlagen von Cyburbia in der Kybernetik, nämlich in unserer Vorstellung, dass wir die Boten sind, die eine endlose Informationsschleife auf Kurs halten. Eine Vorstellung, die zunächst ausschließlich im militärischen Bereich genutzt wurde. Mit den 68er-Hippie-Agitatoren erhielt die Kybernetik jedoch „ein neues Leben“. Sie wurde zum Aushängeschild der Computerindustrie und des Internets, als sich die Hippies in Computerfreaks verwandelten: „Als sie ihr Leben in der Stadt hinter sich ließen, wollten die Hippies und alternativen Bewegungen ihre Hände nicht nur bezüglich des Rassismus, des Wettrüstens und des Vietnamkrieges in Unschuld waschen, sondern auch in Bezug auf das ganze hierarchische Denkgebäude der westlichen Gesellschaft und ihrer zweifelhaften Vorstellungen von Autorität und Objektivität. ... Schritt für Schritt wandelte sich diese Bewegung jedoch nahezu unbemerkt in eine, deren Ziel es war, eine direktere Art der Kommunikation zwischen ähnlich Denkenden zu entwickeln.“

So gesehen, beginnen manche charakteristischen Eigenschaften der modernen Internetnutzung, einen gewissen Sinn zu ergeben. Die Verachtung für Autorität und Objektivität etwa zeigt sich sehr erhellend anhand der wiki-artigen Bevorzugung von Ansichten und Meinungen der eigenen Bezugsgruppen vor offiziellen Informationsquellen. Auch das große Angebot an Internet-Pornografie war eine Sache der Amateure: „Der Grund, warum die Menschen die Porno-Webseiten ihrer Bezugsgruppen aufsuchten, lag nicht nur darin, dass deren Inhalt umsonst zu bekommen waren. ... Was die Leute wollten, war nichts weniger, als sich selbst in einem Pornofilm auftreten zu sehen.“

Der Aufstieg der Bezugsgruppen-Pornografie im Internet zeigt aber noch zwei weitere „Felder der Begeisterung“. Auf diesen geht es um „Wilfing“ (zielloses Surfen im Netz) und Online-Sex in Second-Life. Schon allein das „Tagträumen“ in Cyburbia kann echte Konsequenzen für die Surfenden haben. Eine Studie aus 2007 führt aus, dass zwei Drittel der erwachsenen Bevölkerung in Großbritannien „Wilfing“ betreiben und ein Drittel der Männer der Meinung ist, „Wilfing“ ziehe ihre Partnerschaften in Mitleidenschaft. Die Ergebnisse einer weiteren Umfrage für Saga in 2008 erscheinen diesbezüglich besonders beeindruckend: Immerhin ein Viertel der Erwachsenen ist der Auffassung, dass schon allein das Flirten in einem Chatroom Untreue darstellt.1 Und tatsächlich hat ein britisches Ehepaar im November 2008 die Scheidung im realen Leben beantragt, nachdem die Ehefrau herausgefunden hatte, dass sich das Alter Ego ihres Gatten und ein Avatar im Netz zärtlich nähergekommen waren.2 Diese befremdend körperlose Suche nach Online-Sex enthüllt etwas über das seltsame Verlangen nach Intimität in der heutigen Kultur, nämlich, dass Menschen eine extreme, nahezu besessene Form des Zusammenkommens zur Schau stellen, während sie sich hinter einer sorgfältig konstruierten Fassade ihres Selbst verstecken.

Viele Menschen beziehen ihren Stolz aus der Anzahl ihrer „Freunde“ auf Facebook, mit denen sie in Chatrooms kommunizieren. Aber wenn man Harkins These folgt, sind all diese konkreten Internet-Interaktionen nur ein Teil desselben Trends, in dem „die Botschaften zusehends häufiger zum Medium werden“ und „in Verbindung bleiben“ das Einzige ist, was zählt. In Cyburbia können wir eine ganz erstaunliche Anzahl an Freunden kreieren, denen wir eine unbegrenzte Anzahl an verschiedenen Identitäten zeigen können. Was jedoch fehlt, ist eine Vorstellung davon, was dies alles bedeutet.

In einem beeindruckenden Artikel im New Atlantis Journal hinterfragt die amerikanische Autorin Christine Rosen den Rückbezug der virtuellen Freundschaften auf das einzelne sich dort betätigende Individuum und diagnostiziert einen „neuen Narzissmus“.3 Die Nutzer sozialer Netzwerke gäben sich der Selbstentblößung geradezu hin: „Es gibt keinen Platz für Zurückhaltung; es gibt nur Enthüllung.“ Diese narzisstischen Freundschaften sind nach Rosen ganze Welten entfernt von realen Freundschaften. Der „Impuls, auf einer MySpace-Seite so viele Freundschaften wie möglich zu sammeln“, sei kein Ausdruck des Bedürfnisses nach Kameradschaft, aber ein Ausdruck des Bedürfnisses nach Status. Sich online zur Schau zu stellen bedeutet, in einer bestimmten Art und in einem bestimmten Umfang so auf den Putz zu hauen, dass die Auflistung der vielen Freunde auch einen gewissen Grad an Unsicherheit und Ängstlichkeit enthüllt.

Aber während unsere Online- und Offline-Welten immer enger zusammenwachsen, wird es zunehmend schwieriger zu akzeptieren, dass die außer Rand und Band geratende Selbstdarstellung der Menschen im Internet tatsächlich keine Suche nach wirklicher Kameradschaft ist. Die Tatsache, dass wir den größten Teil unseres Lebens in der Endlosschleife von Cyburbia zubringen, steht in enger Verbindung mit dem Trend hin zu Individualisierung und Selbstbefangenheit in der „wirklichen Welt“. Dort spielt sich ein echter Kampf ab in Bezug auf die Frage, wie die Menschen ihrer Existenz und ihren Beziehungen zu anderen Menschen Sinn verleihen können. Es wäre daher weitaus nützlicher, Online-Freundschaften und sexuelle Begegnungen im Netz nicht als etwas abzutun, das sich von der realen Welt extrem unterscheidet, sondern das Modell der Facebook-Freundschaften als eine prägende Kraft für den Ausdruck und die Formen, in denen Individuen heutzutage miteinander verkehren, anzusehen.

Hier kommen wir zur wirklich zentralen Frage in Harkins Buch, nämlich der, was uns menschlich macht im Verhältnis zur schönen neuen Online-Welt, wo sich die potenziell entmenschlichenden Trends und Tendenzen finden lassen. Harkin versucht gar nicht erst, diese Frage zu beantworten, aber die Sensibilität, mit der er die Begeisterung über diese neue Technologie und den Gebrauch, der von ihr gemacht wird, ausbalanciert, ermöglicht uns wenigstens eine Denkpause. Den Menschen, so argumentiert er, unterscheide von den elektrischen Systemen, die Kybernetik erst ermöglichten, „eben nicht, dass wir durch eine endlose Feedback-Schleife surfen, sondern dass wir uns mit einem wie auch immer gearteten Ziel und Zweck im Kopf vorwärts bewegen können.“

Das große Potenzial des Internets steckt darin, dass es uns Menschen die Möglichkeit gibt, mehr voneinander zu haben, und zwar über geografische und physikalische Grenzen hinweg. Die große Gefahr von Cyburbia besteht darin, dass wir in dieser Hinsicht nur noch nach diesem Mehr suchen, aber immer weniger von mehr und mehr Menschen finden, bis wir schließlich nur noch mit dem Spiegel unserer eigenen Unsicherheiten dastehen. Es ist wirklich Zeit, wie Harkin vorschlägt, sich zu bewegen.

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