01.03.2010

Politikerdämmerung: Wenn Bürger den Staat machen

Analyse von Axel Brüggemann

Warum das Nachdenken über das Wahlsystem und das Ungültig-Wählen von vielen Politikern als gefährlich abgetan wird – und wie wir endlich wieder gemeinsam einen Staat machen können. Von Axel Brüggemann

Neulich fragte mich eine Radiomoderatorin, wie und wann ich denn persönlich an unserer Demokratie teilnehmen würde. Grund ihrer Frage war, dass ich in meinem Buch Wir holen uns die Politik zurück – ohne es zu wollen, quasi im Fluss meiner Gedanken – zu dem Schluss gekommen bin, dass die anstehende Bundestagswahl mir große Bauchschmerzen bereitet. Und dass ich ernsthaft erwäge, dieses Mal ungültig zu wählen.

Was würde schließlich mit meiner Stimme passieren? Ich könnte einen Kanzlerkandidaten wählen, der nicht von der Parteibasis nominiert, sondern auf einem Parkplatz am Schwilowsee von der Parteispitze inthronisiert wurde. Abwählen kann ich meine Abgeordneten auch nicht: Wenn ich dem ungeliebten Kandidaten meines Wahlkreises das Kreuz verweigere, rückt er eben über die (von seiner Partei aufgestellte) Landesliste in den Bundestag. Und überhaupt: Eines steht schon jetzt fest – Deutschland wird in Zukunft von der alten Kanzlerin oder vom Vizekanzler regiert. Wandel wird meine Wahl also kaum bringen. Den aber wünsche ich mir, besonders, was die politische Kultur in Deutschland betrifft.

Darüber hinaus sind da noch einige durchaus erhebliche Kleinigkeiten, die mein Vertrauen in unsere Demokratie derzeit ins Wanken bringen: Wie konnte es zum Beispiel sein, dass die Mehrheit der Bayern den Wahlplakaten Glauben schenkte und mit der CSU auch deren Spitzenkandidaten Günther Beckstein wählte – der aber nach dem Volksvotum schnell von der Parteispitze (ohne erneute Bürgerbefragung) durch einen Mann ersetzt wurde, der gar nicht zur Wahl stand, durch Horst Seehofer? Und wie konnte es sein, dass Andrea Ypsilanti ein Bündnis mit den Linken kategorisch ausschloss und es dann doch durchsetzen wollte?

Je näher die Wahl rückt, desto absurder erscheint mir meine Teilnahme: Steuern hoch oder runter? Nichts Genaues weiß man nicht. Schlimmer noch: Sowohl Politiker als auch Wähler scheinen sich daran gewöhnt zu haben, dass im Wahlkampf lediglich leere Versprechen gegeben werden, deren Umsetzung nicht ernst gemeint ist. Warum also soll ich wählen gehen? Und wenn ich wählen würde, wen sollte ich wählen? Die alten Koordinaten von links und rechts haben sich in unserer Umfragedemokratie längst aufgelöst. Es werden keine Konzepte mehr für Deutschland zur Wahl gestellt, zwischen denen ich mich entscheiden kann, sondern die aufwendig eruierte Meinung des Volkes wird in alle Parteiprogramme aufgenommen. Politiker denken nicht mehr vor, sondern plappern nach.

Ich bin nicht der Einzige, der sich im Vorfeld der Wahl Gedanken über unsere Parteiendemokratie gemacht hat, über eine Staatsform, in der viele Abgeordnete eher der internen Hierarchie ihrer Partei gegenüber verantwortlich sind als ihren Wählern. Die Direktwahl macht nur einen Bruchteil des Parlaments aus, Bürgerentscheide auf Bundesebene gibt es nicht, und der Fraktionszwang untergräbt die freie Abstimmung der Abgeordneten. Der Spiegel-Politikredakteur Garbor Steingart hat (sehr polemisch) gegen das Wählen geschrieben, und sein Kollege Robin Mishra vom Rheinischen Merkur diagnostiziert ebenfalls Zerfallserscheinungen unserer Demokratie. Anders als die beiden bin ich nur ein Musikkritiker, aber eben auch ein Bürger, der es für sein Recht hält, öffentlich über unsere Demokratie nachzudenken. Umso interessierter nehme ich die politischen Kommentare über all die Bücher wahr, die glauben, dass wir unsere Politik gemeinsam ein bisschen besser machen könnten.

Politik scheint eine exklusive Angelegenheit geworden zu sein, bei der das Monopol der politischen Deutung bei den Politikern liegt. Die sind zwar zum großen Teil auch nur Rechtsanwälte oder Lehrer, werden aber nicht müde, zu erklären, dass die neue Weltlage so kompliziert sei, dass der „normale“ Bürger sie eh nicht mehr verstehen würde: die Globalisierung, der internationale Finanzmarkt, das Rentensystem. Dass die Schweiz eines der sichersten Rentensysteme hat, das in zahlreichen Volksabstimmungen zustande gekommen ist, also durch die Klugheit der Vielen, verschweigen deutsche Politiker gern. Das Volk, wird im Wahlkampf zwar angesprochen („Liebe Freunde“ oder „Die Bürger wollen …“ oder „Der Hartz-IV-Empfänger glaubt nicht ...“), weil es die Politiker noch immer legitimieren muss. Doch ein demokratischer Dialog entsteht dabei nicht mehr. Im Gegenteil, Politiker und Bürger entfremden sich immer mehr voneinander.

Wolfgang Schäuble glaubt zum Beispiel, dass die sinkende Wahlbeteiligung in Deutschland den einfachen Grund hat, dass die Bürger glücklich sind – und deshalb am Wahltag lieber ins Schwimmbad gehen als zur Wahl. Und weil das so sei, glaubt er, dass auch die Bürger, die ihn nicht wählen, eigentlich zufrieden mit seiner Politik seien. Sie seien eben nur zu faul, das auch kundzutun. So leicht lässt sich die Welt schöndeuten. Andere Politiker tun, was Politiker am liebsten tun, um sich in ihrer Macherrolle zu bestätigen: Sie bauen Angst-Szenarien auf. Sie behaupten, dass jeder Nicht- oder Ungültig-Wähler die radikalen Kräfte im Land fördern würde, und erinnern fälschlicherweise daran, dass Wählen eine Bürgerpflicht sei. Das war es allerdings nur in der DDR, in der Bundesrepublik besteht Wahlrecht, keine Wahlpflicht! Das Ungültig-Wählen ist vielleicht eine der letzten Möglichkeiten, für eine neue Ernsthaftigkeit der Demokratie zu stimmen – einen neuen Dialog zwischen Bürgern und ihren politischen Stellvertretern zu erzwingen.

Kurz bevor die Folgen der Weltwirtschaftskrise offensichtlich wurden, schien das Verhältnis von Bürgern und Politikern in Deutschland ernsthaft gefährdet (das erklärt auch die zahlreichen unabhängig voneinander geschriebenen Bücher). Mit der Krise haben die Politiker ihre Macherrolle neu entdeckt: Plötzlich inszenierten sie sich als Manager, krempelten die Ärmel hoch und versprachen Staatshilfen in Milliardenhöhe. Von den Agenda-2010-Sozialdemokraten, die Werbekampagnen für ihre Reformpolitik von Wirtschaftsverbänden fördern ließen, bis zur CDU, die noch vor Kurzem für mehr Liberalisierung auf den Kapitalmärkten angetreten ist, sahen viele Politiker die Chance, den Schwarzen Peter an die Wirtschaft weiterzugeben. Plötzlich wurden die Ackermänner zu den Buhmännern der Nation erkoren, mit denen man gestern noch gemeinsam für mehr Freiheit gekämpft hatte. Glaubwürdigkeit sieht anders aus. Das Ziel, die Krise gemeinsam zu meistern, auch.

Dass die Bürger sich schon lange von der Politik im Stich gelassen fühlen, wird heute gern ignoriert. Dabei haben gerade die politischen Reformen dafür gesorgt, dass viele Menschen sich selbst um einstige Kernbereiche der Politik kümmern mussten: um ihre Altersvorsorge, um ihre Krankenkassen, um große Teile der Bildung. Daran, dass Bahn und Post privatisiert wurden, haben wir uns gewöhnt, und in kleinen Betrieben kämpfen Arbeitnehmer und Arbeitgeber schon lange gemeinsam um die Zukunft ihrer Unternehmen, ohne parteipolitischen Dogmatismus. Die meisten Menschen nehmen die Verantwortung, die ihnen von der Politik gegeben wurde, an und versuchen, ihr Leben praxisorientiert und ohne Murren in die Hand zu nehmen.

Umso erschreckender ist, dass die Politik in den Kernbereichen, die ihr geblieben sind, versagt. Auf dem Feld der sozialen Gerechtigkeit sprechen die Zahlen für sich: 13 Prozent aller Deutschen gelten als arm, weitere 13 Prozent leben von Sozialhilfetransfers. Fast jede vierte Familie lebt unter der Armutsgrenze – 2003 waren es nur 13,9 Prozent. Ähnlich dramatisch ist die Situation in der Bildungspolitik: Seit Jahren zählt der OECD-Bildungsbericht die gleichen Mängel in Deutschland auf, aber die föderal organisierte Bildungspolitik ist nicht in der Lage, die Probleme zu beheben. Studenten- und Erzieher-Proteste verhallen weitgehend ungehört.
Wir haben es in Deutschland mit einer bedrohlichen Situation zu tun: Auf der einen Seite beweisen die Bürger ihre Politikfähigkeit täglich, indem sie große Teile der alten Politik selbst in die Hand nehmen und dort aktiv werden, wo sie eine direkte Wirkung ihres Engagements erleben (das Ehrenamt ist im gleichen Maße gestiegen wie die Wahlbeteiligung gesunken ist). Zum anderen ignorieren viele Politiker den Missmut vieler Bürger mit der Parteiendemokratie und versuchen, das mangelnde Vertrauen schönzureden.

Der aktuelle politische Diskurs kommt fast vollständig ohne Empathie aus. Wie absurd scheint es, wenn deutsche Politiker in diesem Wahlkampf von Barack Obama lernen wollen und beginnen, ihre Kampagnen (mit oft lächerlichen Spots) ins Internet zu verschieben. Das Geheimnis Obamas liegt aber nicht allein in einer gut inszenierten Wahlkampfshow, sondern darin, dass er der Politik zurückgegeben hat, was die Bürger lange vermisst haben: Empathie und Dialog. Das Internet ist für ihn ein gigantischer moderner Stammtisch, an dem der Präsident zuhört. Wenn er seinen Krisen-Haushaltsplan nicht durch den Senat bringt, bittet er seine Bürger, gemeinsam mit Freunden im Wohnzimmer über seine Pläne zu debattieren. In Deutschland ist das unvorstellbar: In unseren Wohnzimmern laufen Illner, Maischberger und Co. Die immer gleichen Gäste debattieren besserwisserisch die immer gleichen Probleme mit den immer gleichen Lösungsvorschlägen. Und der Deutsche sitzt in seinem Feinripp-Hemd vor dem Fernseher und merkt, dass er in seiner eigenen Demokratie lediglich noch Zuschauer ist.

„Wann und wie nehmen Sie denn persönlich an der Demokratie teil“, fragte mich die Radiomoderatorin, „wenn Sie sogar ungültig wählen?“ – „Jeden Tag, wenn ich aufwache“, habe ich geantwortet. Denn so funktioniert die Demokratie nun einmal. Jeder Bürger ist ein Teil von ihr – immer! Vielleicht ist es nur ein fantastischer Traum, aber vielleicht wird er ja auch Wirklichkeit: Sollten die Nicht- und Ungültig-Wähler den aktuellen Politikern und ihrem Politikstil die Unterstützung verwehren, könnten sie ein Umdenken erzwingen: mehr direkte Demokratie auf Bundesebene, mehr Dialog zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Gruppen, zwischen Bürgern, Wirtschaft und Politikern – gespiegelt von den Medien. Eine emphatische Demokratie, in der die Wahl tatsächlich eine wirkliche Wahl und keine Legitimation eines renovierungsbedürftigen Systems ist. Eine Wahl, die den Grundsatz der Demokratie einlöst: dass nur alle Bürger gemeinsam einen Staat machen können.

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