23.09.2009

Die Versteinerung unserer Parteien

Essay von Sabine Reul

Warum wir in einer deformierten Demokratie leben, warum der gegenwärtige Parteienapparat nicht zu reformieren ist und warum die Erneuerung der Demokratie von unten kommen muss.

Wie der aktuelle Bundestagswahlkampf erneut vor Augen führt, erfüllen die Parteien ihre Rolle als Instrument der politischen Willensbildung, aber auch der Selektion geeigneten Regierungspersonals immer ungenügender. Auf dem Hintergrund der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise ist die Orientierungs- und Führungskrise der deutschen Politik in diesem Wahljahr vollends unübersehbar geworden. Die Parteien sind von links bis rechts nicht willens oder in der Lage, mit zielführenden Antworten auf die Lage zu reagieren. Stattdessen sollen die Wähler mit exorbitanten Ausgabenprogrammen, für die sachlich wenig spricht, beruhigt werden, um so den eigenen Machterhalt zu sichern. Wie die skeptische Aufnahme des als Wahlkampfschlager gedachten Rettungsplans für Opel gezeigt hat, sind die Wähler aber nicht ganz so einfältig, wie ihre politischen Vertreter meinen. Dass die Spendierfreudigkeit der Großen Koalition allenfalls einen Aufschub, aber keine Lösung der wirtschaftlichen Probleme bietet und längerfristig enorme Probleme nach sich ziehen wird, weiß jeder. Und folglich sind sich mehr oder weniger alle Beobachter einig, dass der Bundestagswahlkampf 2009 nicht mehr ist als ein Offenbarungseid der Parteien.

Die Unfähigkeit der Parteien, Ziele zu formulieren, öffentlich zu vertreten, für sie zu werben und dann entsprechend, mit Autorität ausgestattet, strategisch zu regieren, befördert, was unsere öffentlichen Angelegenheiten betrifft, einen zunehmenden Sinn- und Orientierungsverlust. Auf den Tod dreier deutscher Soldaten in Afghanistan reagierte man unlängst, um ein markantes Beispiel zu nennen, mit einer semantischen Debatte darüber, ob man den dortigen Einsatz als Krieg bezeichnen solle oder nicht – und mit der drängenden Mahnung, das Thema Afghanistan unbedingt aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Einerseits weiß man selbst auf Regierungsebene nicht, welchem strategischen Ziel der inzwischen acht Jahre währende Militäreinsatz am Hindukusch eigentlich dient, sondern folgt nur taktisch sich wandelnden Gegebenheiten. Und eben deshalb hat man Angst vor den Bürgern, denn man ahnt zu Recht, dass sie den Sinn einer Militärintervention, der man nicht einmal einen klaren Namen geben mag, nicht nachvollziehbar finden und sie deshalb überwiegend lieber beendet sähen. Auf dieses Vermittlungsproblem reagiert die Politik mit dem Wunsch, die Sache noch weiter der öffentlichen Erörterung zu entziehen – offenbar nicht ahnend, dass sich damit das Orientierungs- und Vermittlungsproblem nur noch verschärft. Der Wahlkampf reduziert sich dann auf Wahlgeschenke, mit denen man die Kluft zwischen Politik und Wählern kosmetisch verringern zu können hofft. Und da meistens immer irgendwie Wahlkampf ist, wird Politik insgesamt zum defensiven Umgang mit der eigenen Furcht vor den Wählern und zum blindwütigen Versprechen von Dingen, die man niemals wird einhalten können.

Der britische Politologe Colin Crouch hat die Lage ganz treffend beschrieben: „Man kann diese Art der Politik nicht undemokratisch nennen, da die Sorge der Politiker um ihr Verhältnis zu den Bürgern darin eine so große Rolle spielt. Gleichzeitig kann man dieses System nicht als wahrhaft demokratisch bezeichnen, da sich ein großer Teil der Bürger darin mit der Rolle manipulierter passiver Teilnehmer begnügen muss, die nur gelegentlich an Entscheidungen beteiligt werden.“(1) Das Problem setzt sich fort. Da die Regierung keine aus echter demokratischer Sachauseinandersetzung gewachsene Autorität und Orientierung besitzt, verliert sie auch an Führungskraft. Sie interveniert zwar allenthalben, aber sie handelt nicht. Sie weiß über momentanes taktisches Lavieren hinaus nicht, was genau sie sachlich erreichen möchte. Es fehlt politischer Wille, denn Wille setzt Wissen und Überzeugung voraus – eine vernünftig begründete subjektive Entscheidung für richtige im Unterschied zu falschen Handlungsoptionen und schließlich für definierte Handlungsziele. Und das alles bedarf selbstverständlich auch der sprachlichen Artikulation, der Begründung mit logischen und empirisch fundierten Argumenten und der offenen Auseinandersetzung. Da all dies fehlt, haben wir es heute mit einer deformierten Demokratie zu tun, die keine wirkliche Verständigung über öffentliche Angelegenheiten mehr gewährleistet.

Die Regierung interveniert,
ohne zu handeln.

Es ist daher kein Wunder, dass manche inzwischen darüber nachdenken, ob die Demokratie sich vielleicht überlebt habe und ob andere Modelle, etwa das chinesische, asiatische oder arabische einer autoritär gelenkten Politik, nicht vorteilhafter seien. Das ist angesichts des Zustands der parlamentarischen Politik westlicher Prägung nachvollziehbar. Nicht wenige finden den Trend zur partei- und volksfernen Exekutivherrschaft, den Bundeskanzlerin Angela Merkel in besonderem Maße verkörpert, daher nicht nur unproblematisch, sondern meinen sogar, es wäre besser, wenn es gerade in diesem Krisenjahr gar keine Wahlen gäbe, denn dann könne die Politik die anstehenden Probleme ungestörter und effizienter lösen. Dass Regierungen effizient handeln und gravierende Probleme lösen, ist ein berechtigter Wunsch. Die Bürger dürfen zu Recht erwarten, dass ihre gewählten Regierungen zumindest ihr Möglichstes tun, um Missstände zu beheben. Sie dürfen auch erwarten, dass sie Autorität ausstrahlen und in der Führung der Gesellschaft die besten verfügbaren geistigen Ressourcen nutzen. Nur: Aufgeklärte, legitimierte und effektive politische Führung setzt in der modernen Gesellschaft eben eine möglichst große demokratische Öffentlichkeit voraus.

Den Zusammenhang zwischen parlamentarischer Repräsentation und politischer Führungsstärke hat man vor mehr als 200 Jahren offenbar besser verstanden als heute. In seiner Rede über die Verfassung der Vereinigten Staaten vor dem Konvent von Pennsylvania im November 1787 sagte der Abgeordnete James Wilson: „Die Repräsentation ist essenziell für jedes System, das Freiheit, Weisheit und Tatkraft verbindet … Sie ist die Kette der Kommunikation zwischen den Menschen und jenen, denen sie die Ausübung der Regierungsmacht anvertraut haben … Diese Kette muss in jedem Fall ausreichend stark und wahrnehmbar sein.“(2)

Freiheit, Weisheit und Tatkraft als Attribute einer modernen Gesellschaft freier Bürger bedürfen der parlamentarischen Repräsentation als Instrument der politischen Kommunikation, die effektive und aufgeklärte politische Führung überhaupt erst ermöglicht. Das war die Idee vor mehr als 200 Jahren. Die Emphase, mit der die Gründer der Vereinigten Staaten im Rahmen ihrer Verfassungsdebatten für die Souveränität des Volkes und das Instrument der parlamentarischen Repräsentation eintraten, verdankte sich natürlich den besonderen Gegebenheiten einer von vielen inneren wie äußeren Feinden bedrohten Staatsbildung, aber auch den anspruchsvollen, hohen Erwartungen, die man mit ihr verband. Unserer Demokratie heute mangelt es an allen drei Attributen: Freiheit, Weisheit und Tatkraft. Wir leben in einer ermüdeten und bürokratisierten Demokratie, in der die Dinge sich in merkwürdiger Weise umgekehrt zu haben scheinen. Denn nicht der durch die demokratischen Institutionen herausgebildete Wille herrscht über das soziale Geschehen, sondern umgekehrt: Es regiert über die Menschen der sogenannte „Sachzwang“ – also die nackte Faktizität. Eben deshalb gibt es da nichts wirklich zu wählen. Diese Form einer jeden Elan und jede Ambition erdrückenden politischen Herrschaft ist effektiv die Negation politischer Freiheit.

Der große deutsche Staatstheoretiker Franz Neumann, weltweit berühmt durch sein Hauptwerk Behemoth, eine Strukturanalyse des deutschen Faschismus, unterscheidet in einem Aufsatz aus den frühen 50er-Jahren drei Komponenten politischer Freiheit: die juristische Freiheit, also die Freiheitsrechte des Individuums, die politische Macht begrenzen und damit dem Individuum die Möglichkeit bieten, seine „innewohnenden Fähigkeiten voll zu entfalten“; zweitens die kognitive Freiheit, also das „menschliche Streben nach immer wirksamerer Herrschaft über seine Umgebung“. „Die wahre Funktion des kognitiven Elements“, so Neumann, besteht darin, „die in der jeweiligen sozialen Situation latent vorhandenen Möglichkeiten der Verwirklichung menschlicher Potenziale nachzuweisen.“ Und drittens schließlich der subjektive Wille, denn weder das juristische noch das kognitive Element von Freiheit allein sind ausreichend. Hinzukommen muss das Element des Willens, denn, so schreibt Neumann: „Das Gesetz beschränkt die politische Macht; das Wissen zeigt uns den Weg zur Freiheit; doch kann der Mensch allein durch seine Anstrengung die Freiheit erreichen.“(3)

Unserer heutigen Demokratie mangelt es
an Freiheit, Weisheit und Tatkraft.

Mit anderen Worten: Erst wenn auch der subjektive Wille, menschliche Potenziale zu verwirklichen, hinzukommt, lässt sich wirklich von Demokratie im Sinne der modernen Gesellschaft des 20. und nun auch 21. Jahrhunderts sprechen. Die Demokratie ist kein Selbstzweck und keine Formsache, sondern ein Instrument zur kollektiven Gestaltung moderner, auf Veränderung gepolter Gesellschaften. Das Problem der Politik von heute ist, dass sie hoffnungslos hinter diesem Anspruch zurückbleibt. Es ist eine Politik der Immobilität und der Bewahrung, die Widersprüche aufschiebt, bis es irgendwann einmal nicht mehr weitergeht. Vor der Entstehung der modernen Gesellschaft, als Eliten nicht mehr zu tun hatten, als einer relativ statischen sozialen Ordnung vorzustehen, war das Willensbildungselement in der Politik nicht maßgeblich. Ohne das Willenselement gab es auch in konstitutionellen Monarchien mit sehr beschränkten Mitbestimmungsrechten einer kleinen Auslese aristokratisch ständischer Honoratiorenversammlungen individuelle Freiheitsrechte und eine teils rege politische Öffentlichkeit. Erst mit der parlamentarischen Demokratie entstand ein neuer Souverän – das Volk. Und durch die Kommunikation zwischen ihm und seinen gewählten Repräsentanten formiert sich der Wille der Gesellschaft. Erst damit ist, wie Neumann es formuliert, „das aktivistische Element der politischen Freiheit“ institutionalisiert und ein politisches System geschaffen, dessen Wesen „in der Durchführung großer sozialer Veränderungen [besteht], die die Freiheit der Menschen maximieren.“

Neumann bringt hier den humanistischen Freiheitsbegriff gewissermaßen modern auf den Punkt. Freiheit ist nicht einseitig individualistisch, nicht bloßer Schutz vor Zwang durch individuelle Freiheitsrechte der Bürger. Sondern es geht auch darum, einen institutionellen Rahmen zu schaffen, der gesellschaftliche Veränderung ermöglicht und sich der, wie Neuman weiter schreibt, „größer gewordenen Erkenntnis von Natur und Mensch anpasst“. Um es auf die aktuelle Lage zu übertragen, könnte man sagen: Es muss alles zusammenkommen: individuelle Freiheitsrechte, Bildung der Bürger, eine lebendige politische Öffentlichkeit und schließlich der Wille und die Fähigkeit der gewählten Politiker, gesellschaftliche Ziele zu formulieren und umzusetzen. Erst wenn das alles gegeben ist, gibt es auch tatsächlich eine freie Wahl zwischen politischen Optionen.

Die Frage ist, wie wir heute eine solche politische Ordnung neu herstellen können. Denn die alte taugt einfach nichts mehr. Unsere individuellen Freiheitsrechte sind trotz manch beklagenswerter Tendenzen zu staatlicher Einmischung in die private und zivile Sphäre recht robust. Zugleich verfügen wir über ein breit gefächertes parlamentarisches System mit vielen Parteien, der Möglichkeit, jederzeit neue zu gründen, pausenlosen Wahlvorgängen, reichlich institutionellen Partizipationsmöglichkeiten sowie eine noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbare Vielfalt an Kommunikationsmedien. Technisch, rechtlich und formal sind also heute die Voraussetzungen für lebendige und wirksame politische Kommunikation, für den offenen Meinungsaustausch und die gesellschaftliche Willensbildung vermutlich in besserer Verfassung als je zuvor. Trotzdem sind, um bei Franz Neumanns Terminologie zu bleiben, sowohl der kognitive als auch der willensmäßige Ertrag der ganzen Veranstaltung mehr als dürftig. Die Demokratie ist zur institutionellen Routine verkommen, zu einem überaus formalisierten Prozess, der das Element der Aktivität und der Umsetzung großer Neuerungen systematisch untergräbt. Und daran schuld ist die geistige und institutionelle Versteinerung des Parteienapparats, aber auch der zunehmende Rückzug der Bürger aus der Politik. Die moderne westliche Demokratie wurde maßgeblich geprägt durch den Eintritt der Massen in die Politik ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die sukzessive Integration der Arbeiterbewegung in den Parlamentarismus über die sozialdemokratischen Reformparteien war die Grundlage für die enorme institutionelle und ideelle Verankerung, Stabilität und Autorität demokratischer Institutionen, in die sich seit dem Zweiten Weltkrieg auch die wirtschaftlich herrschenden Schichten mehr oder weniger widerspruchslos integrieren ließen. Dieser Prozess hat unsere Parteien hervorgebracht – zunächst die Sozialdemokratie als erste wirkliche Massenpartei (etwas später auch kommunistische Parteien), zu denen sich dann erst die konservativen Parteien in ihrer Gestalt als moderne Volksparteien gesellten.

Demokratie ist kein Selbstzweck, sondern ein Instrument zur kollektiven Gestaltung moderner Gesellschaften.

Diese Konstellation erodiert heute, da diese durch die Geschichte der Klassenauseinandersetzung der letzten 150 Jahre geprägten Parteien sich anscheinend nicht aus dieser Vergangenheit zu lösen imstande sind. Ihre programmatische Entwicklung hält nicht mit den neuen Optionen für gesellschaftlichen Fortschritt Schritt. Sie kommen über den Bedeutungsverlust ihrer alten ideologischen Dogmen nicht hinweg, sondern schotten sich defensiv immer stärker in ihren erstarrten Apparaten vom offenen Austausch mit der Wirklichkeit ab. Deshalb haben sie ihre Funktion als Bindeglieder zwischen gesellschaftlichen Gruppen und Staat eingebüßt, und das Parlament erfüllt nicht mehr seine Rolle als zentralem Ort der demokratischen Auseinandersetzung. Die Parteien und ihr Personal fungieren zusehends nicht mehr als Repräsentationsorgane der von ihnen vertretenen Bürger, sondern bilden einen Zweig der Staatsbürokratie. Es erfolgt eine Trennung politischer Herrschaft von demokratischer Partizipation, die sich u.a. auch sprachlich dokumentiert als wachsende Kluft zwischen der „offiziellen“ politischen Sprache der Bürokratie und der „inoffiziellen“ der Bürger. Zugleich wird der Bürger neu definiert als Objekt staatlicher Fürsorge, seiner würdigen Gestalt als Souverän entkleidet und zum Stimmvieh degradiert. In diesem Sinne leben wir heute in einem diffusen Feld zwischen Demokratie, Postdemokratie – und dringend notwendiger Erneuerung der Demokratie.

Alle gesellschaftlichen Umbrüche der letzten 100 Jahre haben effektiv zu einer Schwächung der Kräfte von unten und einer Stärkung des Staatssystems geführt. Das gilt in besonderem Maße für Deutschland und seine Neuordnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Nach 1945 schuf man in Westdeutschland als Reaktion auf den Faschismus mit einem sehr behutsamen, sukzessiven Aufbau der Länderregierungen und dann des Bundes eine stark formalisierte und institutionell mehrfach abgesicherte Demokratie. Diese erhob die Parteien dann im Rahmen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in den frühen 50er-Jahren in den Rang von Verfassungsorganen und ordnete sie in die Reihe der „Integrationsfaktoren im Staate“ ein. Schon 1949 gab es keine Abstimmung über das Grundgesetz. Das neue parlamentarische System wurde oben und außen (durch die Alliierten) errichtet und eben auch unter dem Eindruck der kompromittierten deutschen Geschichte.

Westdeutschland wurde eine im weitesten Sinne bürokratische, formalisierte und geschichtslose Demokratie. In Ostdeutschland wurde der politische Raum für die Bürger durch die repressive Einparteienherrschaft mehr oder weniger eliminiert; im Westen hingegen durch starke staatliche Einbindung der Parteien in das Institutionengestrüpp der föderalen Ordnung übermäßig formalisiert. Das ist natürlich ein gewaltiger Unterschied, trotzdem war der Effekt auch im Westen ein von den Bürgern stark abgeschottetes politisches System. Die Haltung der Parteien gegenüber den Bürgern kennzeichnete schon von Anbeginn nicht nur auf Seiten der Union eine Art paternalistischer Fürsorgepolitik. Große Ausschläge nach links wie bei den französischen Sozialisten im Vorfeld der Wahl Mitterands im Jahre 1982 oder nach rechts wie unter der britischen Premierministerin Thatcher blieben aus. Sobald ab den 70er-Jahren mit dem Ende des Nachkriegsbooms die Politik sich vor wirtschaftliche Herausforderungen gestellt sah, wurde die Wahrung des „sozialen Friedens“ zum Leitmotiv der bundesdeutschen Politik, was sich in den 80er-Jahren unter Helmut Kohl noch verstärkte. Statt Veränderungen einzuleiten, die auch unpopuläre Maßnahmen erfordert hätten, genügte sich Kohl angesichts zunehmender Wirtschaftsschwäche und Arbeitslosigkeit in der Rolle des gemütlichen Patriarchen einer schon damals längst beendeten bundesrepublikanischen heilen Welt. Er stand für den defensiven Parteienkonsens, dass soziale Wohltaten zu verteilen die probate Form der Interaktion zwischen Regierung und Volk sei. Und daran hat sich bekanntlich trotz der inzwischen deutlich größeren Finanz- und Wirtschaftsprobleme bislang nichts geändert.

Das alles konnte solange relativ reibungslos funktionieren, wie die finanziellen Mittel des Staates eine Politik der Verteilung sozialer Wohltaten einigermaßen zuließen. Nur kurz und überaus halbherzig versuchte Bundeskanzler Gerhard Schröder, hier mit seiner Agenda-Politik gegenzusteuern – ein Versuch, der von der Großen Koalition gänzlich abgebrochen worden ist. Zum anderen konnte die Politik seit Beginn der 90er-Jahre vorübergehend mit neuen Themen neue Wählergruppen ansprechen und dadurch eine gewisse Ersatzautorität erringen – von der Ökologie und der Feminisierung der Gesellschaft bis zu den neuen Konzepten des Verbraucher- und Kinderschutzes oder der Familienförderung. Das alles geht natürlich munter weiter, hat sich aber insofern erschöpft, da die aktuelle Krise auf die Widersprüchlichkeit vieler dieser Dinge hinweist. Zum Beispiel fragt sich, wieso man Familien fürs Kinderkriegen entlohnt, wenn ihnen an anderer Stelle mangels Wirtschaftswachstum doch wieder finanzielle Engpässe oder Arbeitslosigkeit drohen. Die Krise hat statt solcher wahlpolitisch motivierter Sozialklempnerei unabweisbar die Notwendigkeit radikaler Maßnahmen zur Innovation und zur Mobilisierung der Energien und Tatkraft der Menschen auf die Tagesordnung gesetzt. Wir brauchen eine moderne Politik für anspruchsvolle und leistungsfrohe Leute, keinen paternalistischen Fürsorgestaat.

Die Politik steht daher am Ende eines langen Zyklus. Die defensiv verhärteten Parteiapparate der Nachkriegsära sind offenkundig nicht in der Lage, die Neuerungen einzuleiten, die es braucht, um wieder nach vorne zu kommen. Statt einer Kultur der Freiheit fördern die alten Parteien durch die Bank Immobilität, Abhängigkeit und Angst vor der Zukunft. Statt kognitiver Erkenntnis neuer Spielräume für die persönliche und kollektive Entfaltung menschlicher Möglichkeiten propagieren sie rückwärtsgewandte Natursehnsucht und Technikfeindlichkeit. Und statt Spielräume für notwendige kontroverse politische Auseinandersetzung zu öffnen, suchen sie gesellschaftlichen Debatten durch schon lange nicht mehr finanzierbare Wohltaten aus dem Weg zu gehen.

Zurzeit sehen wir noch keine neuen Alternativen. Das ist anders auch nicht zu erwarten. Aber wir sehen einen beginnenden Prozess der Neuorientierung. Das Auftreten EUkritischer Bestrebungen, die Freien Wähler und freiheitlich orientierte Formationen wie die junge internetfreudige Piratenpartei machen zwar alle noch lange keinen politischen Sommer. Es findet sich darunter offenkundig auch die eine und andere eher konservative Strömung. Aber das alles sind immerhin erste Anzeichen von Bewegung im lange erstarrten Feld der Politik. Und in diesem sich öffnenden politischen Feld gilt es zu werben für eine Politik, die Tatkraft, Begeisterungsfähigkeit, Talent und Intelligenz mobilisiert für Fortschritt, Wachstum und demokratische Erneuerung. Es geht letztlich um das humanistische Projekt, unsere Politik entsprechend den gewachsenen Möglichkeiten der Verwirklichung menschlicher Potenziale neu zu gestalten.

Sabine Reul ist Novo-Redakteurin und Inhaberin der Textbüro Reul GmbH (textbuero-reul.de).

In Novo100 /101 (5 – 8 2009) plädierte sie in ihrem Artikel „Europas Krisenwahl“ dafür, den ganzen Prozess der Europawahlen von Grund auf zu reformieren.

Anmerkungen

1Colin Crouch: Postdemokratie, Suhrkamp, Frankfurt 2008, S. 99.
2Rede von James Wilson, in: The Essential Federalist and Anti-Federalist Papers, Hackett Publishing Company, Indianapolis 2003, S. 101.
3Franz Neumann, „Zum Begriff der politischen Freiheit“, in: Demokratischer und autoritärer Staat. Studien zur politischen Theorie, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt 1967, S. 100–141. Mehr zum Thema finden Sie im Dossier „Bundestagswahlen und Parteienkrise“ unter: novo-argumente.com

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