01.05.2009

Europas Krisenwahl

Analyse von Sabine Reul

Ein Plädoyer für eine grundlegende Reformierung des ganzen Prozess der Europawahlen.

Vom 4. bis 7. Juni wählen die Bürger der Europäischen Union die 736 Mitglieder ihres Parlaments. Als das zunächst mit Entsandten der nationalen Parlamente besetzte Haus 1979 erstmals durch die Bürger der damals neun Mitgliedsstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gewählt wurde, lag die Wahlbeteiligung mit durchschnittlich 63 Prozent auf dem Höchststand. Bei den letzten Europawahlen 2004 in den dann 25 Staaten der Europäischen Union war sie auf 46 Prozent abgesackt. Neben der traditionell überdurchschnittlich regen Beteiligung von mehr als 90 Prozent der Wähler in Belgien und Luxemburg lag vor vier Jahren das ganz junge Mitglied Malta mit 82 Prozent ganz oben; Schlusslicht bildete die Slowakei mit nur 17 Prozent; Deutschland lag mit 43 Prozent unter dem Durchschnitt. Die Frage ist, wie groß die Teilnahme der Bürger an der Wahl zu diesem bislang einzigen in allgemeinen, freien Wahlen besetzen supranationalen Forum der Welt in diesem globalen Krisenjahr wohl ausfallen mag. Daran ließe sich ermessen, welchen Stellenwert es in den Augen der Bürger der inzwischen 27 EU-Mitgliedsstaaten besitzt.

Die Wahlen finden in einem schwierigen, aber auch sehr spannenden Moment der europäischen Entwicklung statt. Die Europäische Union hat spätestens seit dem Nein der Franzosen und Niederländer zum europäischen Verfassungsvertrag 2005 und dem erneuten Nein der Iren im vergangenen Sommer mit einer dramatischen Legitimationskrise zu kämpfen. [1] Diese wird aktuell zwar durch die Sorgen um die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise überlagert, was am Problem als solchem aber nichts ändert. Im Gegenteil: Wie die jüngste Regierungskrise in Tschechien belegt, kann die schwache demokratische Fundierung der EU-Institutionen sich auch im Umgang mit der globalen Rezession noch als echte Achillesferse des gesamten Europaprojekts erweisen.

Die Mehrebenenpolitik der nationalen Regierungen und supranationalen Apparate Europas steht nämlich vor einer enormen Belastungsprobe. Die gewohnten Routinen der Schönwetterperiode, in der die EU und ihre Organe in träger Selbstbespiegelung von der Klima- und Verbraucherpolitik bis zu Datenschutz- und Dienstleistungsrichtlinien nachrangige und oft primär ideologisch motivierte Einzelfelder beackerten, tragen nicht mehr. Denn auf einmal stehen echte Systemfragen im Raum, die gemeinsame Lösungen fordern. Andernfalls drohen eine anhaltende Rezession, Massenarbeitslosigkeit und protektionistische Tendenzen, die das europäische Gebäude gewaltig erschüttern könnten.

Und da ist die politische Bilanz bislang mehr als mager. Nach monatelangem Streit haben die 27 Staats- und Regierungschefs in Brüssel zwar jüngst endlich ein fünf Milliarden Euro umfassendes Konjunkturprogramm vereinbart, das vor allem die kleineren Mitgliedsstaaten stützen und Investitionen in Gas-, Strom- und Telekommunikationsnetze fördern soll. Das ist kläglich wenig im Vergleich zu den Beträgen, die zurzeit für die nationalen Rettungs- und Konjunkturpakete ausgegeben werden, und dürfte sich angesichts der gravierenden Währungs- und Finanzprobleme mancher EU-Mitgliedsländer als sehr unzureichend erweisen. Es zeigt aber vor allem, wie meilenweit man vom ursprünglichen Ziel der europäischen Integration entfernt ist, den Kontinent durch eine anspruchsvolle, koordinierte Wirtschafts-, Haushalts-, Industrie- und Innovationspolitik voranzubringen.

Hier erweist sich der von bürokratischer Sklerose, politischer Gedankenschwäche und Abkapselung von den Bürgern geprägte Charakter der europäischen Politik als gewaltiger Hemmschuh. Ambitionierte Innovationen der Art, die jetzt gefordert ist, brauchen eine deutlich andere politische Kultur. Die supranationale Politik in Europa wird demokratischer, offener und experimentierfreudiger werden müssen, wenn sie die Krise nicht nur verwalten, sondern Maßnahmen umsetzen will, die den Kontinent voranbringen können. Der weitgehend passive Mehrheitskonsens, auf den die EU bisher rechnen konnte, wird dafür nicht reichen. Denn neue Maßnahmen sind nicht zuletzt unweigerlich auch kontrovers. Sie produzieren aller Voraussicht nach auch Gewinner und Verlierer. Und die Entscheidungen, die da zu fällen sind, bedürfen des klugen Inputs, des Ideenstreits und der Kontrolle durch die Bürger.

Daher ist das Umfeld, in dem die Europawahlen stattfinden, äußerst widersprüchlich. Einerseits verbinden sich mit den Wahlen zum Europäischen Parlament keine besonderen Erwartungen. Da unschwer zu erkennen ist, dass die Politik auf nationaler wie europäischer Ebene den aktuellen Herausforderungen nicht gewachsen ist, besteht aber auch eine Art unterschwellige Aufbruchsstimmung, die in Deutschland zurzeit den europaskeptischen Freien Wählern, aber auch der FDP zugute kommt. Das liegt auf nationaler Ebene primär daran, dass die Parteien den Anschluss an neue Realitäten nicht finden und sich meist in alten Grabenkämpfen erschöpfen. Auf europäischer Ebene hingegen stehen der wirksamen Einflussnahme der Bürger hohe institutionelle Barrieren entgegen, die es erst einmal abzutragen gilt. Und das Problem manifestiert sich wohl nirgends deutlicher als in den Wahlen zum Europäischen Parlament.

Das Europaparlament ist ein seltsames Zwitterwesen. Seine Mitglieder agieren in Straßburg als Träger der EU-Politik und Legitimationsorgan für die Entscheidungen, Gesetze und Verordnungen der Europäischen Kommission und des Ministerrats. Doch zur Wahl stellen sich die EU-Parlamentarier jeweils im nationalen Rahmen als Vertreter ihrer lokalen Parteien mit Programmen, die außer freundlichen Floskeln keine substanziellen Gedanken über Europa und seine Zukunft enthalten, sondern nur die nationalen politischen Inhalte der Parteien reproduzieren. „Wie sich unter diesen Umständen ein klarer ‚Regierungsauftrag‘ aus den Wahlen kristallisieren sollte, bleibt rätselhaft“, meint ein keineswegs EU-kritisches akademisches Werk zu diesem Thema. [2]

Das Problem ist daher nicht bloß, dass das Europaparlament nicht über die legislativen Kompetenzen verfügt, die man üblicherweise von einem Parlament erwartet. [3] Schon die Wahlen zu diesem Forum erfolgen so, dass selbst eine Debatte über – geschweige denn Einflussnahme auf – europäische Entwicklungen mehr oder weniger ausgeschlossen ist. In den Wahlen zum Europäischen Parlament reden die Kandidaten kaum darüber, was sie als europäische Akteure für Europa tun, sondern präsentieren sich sozusagen als Emissäre ihrer nationalen Parteien in der Fremde. Das zementiert die nach wie vor national begrenzte Selbstwahrnehmung der europäischen Wähler, der die EU als ferner und mächtiger Fremdkörper gegenübersteht. Weder stellen sich die EP-Kandidaten in den Europawahlen in ihrer Rolle als Träger europäischer Politik dar, noch umgekehrt im Europäischen Parlament als Repräsentanten ihrer lokalen Wähler. Diese kuriose Konstruktion verhindert, dass die Wähler einen nachvollziehbaren Einfluss auf die politische Ausrichtung und Aktivität des Europäischen Parlaments nehmen. Alles bleibt im bürokratischen Nebel verborgen – mit der unweigerlichen Folge, dass auch Presse und Medien jenseits der Pressekonferenzen des EU-Kommissionspräsidenten nur spärlich über europapolitische Entwicklungen berichten.

Dass das alles irgendwie problematisch ist, wird in den letzten Jahren unter dem Schlagwort „Demokratiedefizit“ zunehmend auf verschiedenen Ebenen thematisiert: in der akademischen Fachwelt, in der EU selbst, in den Parteien, in einer Reihe EU-kritischer Foren und hin und wieder auch in der breiteren Öffentlichkeit. Auf Ebene der EU-Kommission sorgt man sich seit den Referenden von 2005 um den Verlust demokratischer Legitimation und hat schon damals ein als „Plan D für Demokratie, Dialog und Diskussion“ bezeichnetes PR-Programm verabschiedet, das dem Problem durch sogenannte „Bürgerforen“ begegnen will, auf denen man sich mit Vertretern der europäischen Institutionen unterhalten kann. [4] Solche Foren wurden im vergangenen Jahr teils unter Federführung des Auswärtigen Amtes, teils durch Einrichtungen wie die Bertelsmann- und die Nixdorf-Stiftung in verschiedenen deutschen Städten mit geladenen Gästen veranstaltet. Das Echo war vernachlässigenswert, was nicht wundert, denn diese PR-Veranstaltungen haben keine politische Funktion – nicht einmal eine ernsthaft konsultative –, sondern ermöglichen allenfalls EU-Politikern, auch einmal mit normalen Menschen zu sprechen (und umgekehrt), was ja per se nicht unrecht ist, aber mit Demokratie nichts zu tun hat.

Ähnlich restriktive Vorstellungen prägen die Debatte in der akademischen Fachwelt, wo man sich eine Behebung des Demokratiedefizits entweder von einer Stärkung des parteipolitischen Wettbewerbs im Europaparlament erhofft (der „parlamentarische“ Ansatz) oder von der europaweiten Direktwahl des Kommissionspräsidenten (der „präsidiale“). Diesen Ansätzen gemein ist die Vorstellung, das Legitimationsdefizit der Europäischen Union zwar dringend beheben zu wollen, aber möglichst ohne Abstriche an der geradezu oligarchischen Machtkonzentration in den Händen der abgeschotteten EU-Institutionen.

Die Befürworter des präsidialen Modells, zu denen u.a. auch Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble zählt, erhoffen sich von Direktwahlen des Kommissionspräsidenten ein Wahlspektakel im Stil des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs, das über die Figur des Präsidenten eine engere persönliche Identifikation der Bürger mit dem derzeit als überaus unpersönlich wahrgenommenen EU-Apparat begründen soll. Hingegen erstreben die Befürworter des parlamentarischen Modells durchaus mehr als eine bloße personalisierte Demokratie-Show – aber doch unter Meidung einer als riskant empfundenen echten Kontrolle der Regierungsapparate durch die demokratische Einflussnahme der Bürger.

So bezeichnet der britische Europaexperte Simon Hix das aktuelle EU-System durchaus radikal als „semi-despotisch“. Er betrachtet eine Stärkung des demokratischen Wettbewerbs als geradezu unerlässlich für das Überleben der EU, da politische Innovationen Konflikte auslösen werden, deren Ausgang von der unterliegenden Seite nur dann als legitim akzeptiert werden wird, wenn „eine offene und demokratische Debatte über Reformalternativen stattgefunden hat, die ein Mandat für politische Veränderung hervorgebracht hat“. Doch er plädiert für eine „begrenzte demokratische Politik auf Ebene der EU“, deren Entstehen er sich davon erhofft, dass die traditionell eher national ausgerichteten Mitglieder des Europäischen Parlaments mehr als in jüngster Zeit schon zu beobachten ideologisch polarisierte länderübergreifende Koalitionen bilden, in denen sich politische Positionen transparenter und für die Bürger nachvollziehbarer gegenübertreten. Was Hix an dieser Strategie attraktiv erscheint, beschreibt er wie folgt: „Sie birgt ein relativ geringes Risiko, da sie durch die Kontrollmechanismen des EU-Systems ‚begrenzt‘ wird, das gewährleistet, dass zu jedem Thema sehr breite Koalitionen gebildet werden müssen, wobei die Verlierer bei einem Thema wahrscheinlich bei anderen Themen auf der Gewinnerseite stehen.“  [5] Mit anderen Worten: Trotz seiner durchaus scharfen Kritik des demokratischen Defizits und seinem Wunsch nach etwas mehr politischem Wettbewerb scheint Hix das alles dann wieder einhegen zu wollen. Seine Sorge um die vermeintlich unabsehbaren Folgen unmittelbarer demokratischer Einflussnahme der Bürger Europas auf die Europapolitik scheint ebenso groß wie die um die lähmenden Konsequenzen der oligarchischen Abgehobenheit des EU-Systems.

Es ist schon seltsam, wenn liberale Befürworter der europäischen Integration für ein neues Modell institutionell „begrenzter“ Demokratie werben. Schließlich hat man seit bald 20 Jahren doch eigentlich für den Export des westeuropäischen demokratischen Modells nach Osteuropa und in andere Weltregionen plädiert. Nun sähe man es zumindest auf EU-Ebene, ob präsidial oder parlamentarisch, lieber abgeschwächt und institutionell gebändigt. Was sagt uns das, wenn nicht, dass Unsicherheit die Politik in Europa beherrscht?

Europas politische Eliten haben mehr oder weniger spontan ein System geschaffen, das ihnen selbst irgendwie unangenehm ist, da es bei den Bürgern mangels demokratischer Legitimation nur begrenzt Zustimmung findet. Aus diesem Unbehagen wollen dann manche Segmente dieser Eliten – wie in Deutschland zurzeit u.a. die CSU – opportunistische Stimmengewinne erzielen. Gleichzeitig möchte man aber nicht, dass das Volk wirklich den Willensbildungsprozess in Europa bestimmt. Das ist, um es mal ganz schlicht zu formulieren, unlogisch. Es gibt nur zwei Möglichkeiten – das mag für unsere politisch watteverpackten Zeiten zwar unanständig klingen, aber es ist so: Entweder sollte man auf nationaler Ebene demokratisch für eine supranationale Politik werben und sich für diese wählen und abwählen lassen – was heißen würde, dass Europa in den nationalen Wahlauseinandersetzungen ein zentrales Thema ist. Oder man will Europa wirklich – und dann wäre es höchste Zeit, den ganzen Prozess der Europawahlen von Grund auf zu reformieren.

Denn so wie das jetzt läuft, bringt es nur Verwirrung. Entweder man behandelt auch Europafragen in nationalen Wahlkämpfen angemessen, statt die Auslagerung politischer Kompetenz verschämt zu verbergen und in diesem Rahmen so zu agieren, als gebe es die EU gar nicht. Oder die EU-Kandidaten sollten sich als wirkliche Kandidaten der jeweiligen europäischen Parteienbündnisse zur Wahl stellen – europaweit auf ihren Bündnislisten mit ihren jeweiligen Konzepten für Europa. Das würde den Bürgern ermöglichen, zwischen den verschiedenen Ebenen der Politik, die heute auf dem Kontinent vorliegen, zu unterscheiden: national einerseits, europäisch andererseits.

In diesem Sinne argumentiert Novo für eine „Neugründung“ der EU durch das Europäische Parlament oder, genauer gesagt, für die demokratische Kompetenz der EP-Wähler. Das heißt: Die ohnehin schon geschaffenen europaweiten, ideologisch wie unzureichend auch immer definierten Parteienbündnisse sollten sich in den Wahlen zum Europaparlament grenzübergreifend als solche präsentieren und die Zustimmung zu ihren jeweiligen Positionen auf Ebene der Bürger in den Mitgliedsstaaten prüfen lassen müssen. Das wäre zwar nur ein kleiner, aber immerhin ein nicht zu verachtender Schritt zur Schaffung einer europäischen demokratischen Öffentlichkeit. Europa soll nicht über Glühbirnen entscheiden, was nur wenige wirklich brennend interessiert, sondern darüber, was für ein Europa wir wollen.

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