01.03.2010

„Europa“ als Bildungsauftrag

Essay von Josef Kraus

Über die Rolle von Bildung und Kultur bei der Schaffung einer europäischen Identität.

„Europa“ steht in der Bevölkerung in keinem guten Ruf. Dabei richtet sich der Unmut der Menschen eigentlich nicht gegen Europa, sondern gegen die EU mit ihrem Zentralismus, ihrem Demokratiedefizit, ihren Bussi-Bussi-Gipfeltreffen – und gegen ihre Regelungswut in Sachen Bananengröße, Traktorsitze, Gurkenkrümmung und anderer weltbewegender Dinge. Leider wird häufig übersehen, dass Europa weder geografisch noch ideell identisch ist mit der EU. Europa lässt sich nun einmal nicht aus ökonomischen Überlegungen ableiten, sondern es wirkte und wirkt als Idee kulturstiftend und werteprägend. Nur der historisch gewachsene Bestand ermöglicht es uns, europäische Kategorien überhaupt zu denken.

Europa ist bzw. wäre somit von den Wurzeln her eine Frage der Bildung. Letztere versagte und versagt hier freilich; sie versagt damit auch bei der Vermittlung europäischer Identität. Identität, eine individuelle ebenso wie eine kulturelle oder kollektive, definiert sich vor allem aus Geschichte und Kultur und deren Er-Innerung, also Verinnerlichung. Im Zusammenhang mit der Frage nach der europäischen Identität wird man unweigerlich auf José Ortega y Gassets Bekenntnis von 1929 stoßen: „Machten wir heute eine Bilanz unseres geistigen Besitzes ..., so würde sich herausstellen, dass das meiste davon nicht unserem jeweiligen Vaterland, sondern dem gemeinsamen europäischen Fundus entstammt. In uns allen überwiegt der Europäer bei Weitem den Deutschen, Spanier, Franzosen ...; vier Fünftel unserer inneren Habe sind europäisches Gemeingut.“

Europäische Geistesgeschichte zeigt sich vor allem in der Trias Ratio, Libertas, Humanitas. Oder auch in der Trias Judentum, Antike, Christentum bzw. – geografisch verortet – in der Trias Jerusalem, Athen, Rom. Vor diesem Hintergrund hat sich in mehr als 2000 Jahren das „Europäische“ recht konkret herauskristallisiert. Zum Grundbestand eines jeden Europäers müsste ein Wissen um folgende Ereignisse und Entwicklungen gehören:

  • die Ursprünge des Politischen und der Demokratie in der griechischen Antike;
  • die Grundlagen von Recht und Verwaltung in der römischen Antike;
  • der Erkenntnis- und Erfahrungsdrang seit der Antike mit dem Ziel einer Welterklärung im Logos anstelle einer Weltdeutung im Mythos; das Christentum mit seinen Werten sowie mit den Kirchen als Bildungs- und Kulturträgern und als karitativen Einrichtungen;
  • das im Auf und Ab der Nationalismen immer wieder erstarkte europäische Bewusstsein in Phasen äußerer Bedrohung (beginnend bereits in den Perserkriegen 480/490 v. Chr.; die Abwehr der Araber 732 n. Chr., der Ungarn 955, der Türken 1529 und 1683);
  • die Renaissance und der Humanismus mit ihren Bekenntnissen zur Individualität und Rationalität sowie mit ihrer Autoritätskritik;
  • die Reformation und die Gegenreformation mit ihren Auswirkungen auf politische, religiöse und soziale Freiheits- bzw. Erneuerungsbestrebungen;
  • die „Europäisierung“ der Erde seit dem Zeitalter der Entdeckungen;
  • die Aufklärung mit dem Postulat der Säkularität und einem schrittweisen Verzicht des Staates auf transzendente Kompetenz, mit dem Vernunftglauben, der Staatslegitimation, der Gewaltenteilung, dem Völkerrecht, der Volkssouveränität, den Bürger- und Menschenrechten sowie mit der Entstehung der ersten modernen Demokratie in den USA;
  • die führende Rolle von Stadt und Bürgern seit dem Mittelalter;
  • die hohe Wertschätzung von Arbeit, Leistung und Wettbewerb als Grundlagen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens;
  • die Beherrschung von Naturgewalten, die Gestaltung von Materie sowie die Idee des gesellschaftlichen Fortschritts in sozialer Gerechtigkeit;
  • die gemeinsamen Traditionen in bildender Kunst, Architektur, Musik, Literatur und Philosophie;
  • Europas Revolutionen im politischen und technisch-industriellen Bereich;
  • die Etablierung des Bürgertums als politischer Faktor im 18. und 19. Jahrhundert;
  • die Ablehnung politischer und geistiger Despotie sowie der gemeinsame europäische Widerstand gegen Hegemoniebestrebungen aus dem Kreis der europäischen Staaten, der nur vorübergehend Vormächte, aber nie eine Einheitsmacht zuließ (z.B. gegen Napoleons Versuch einer revolutionär-zivilisatorischen Einigung von 1806 bis 1812, gegen Hitlers Versuch einer geopolitischen und rassistischen Neuordnung von 1939 bis 1945, gegen die sowjetische Hegemonialpolitik unter dem Vorzeichen des Kommunismus);
  • die Überwindung der Ost-West-Blockbildung und der Teilung der Welt von 1945 bis 1989 durch das „Zurück nach Europa“ der Länder des ehemaligen Ostblocks seit 1989.

Dieses europäische Band wird seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs auch in Mittel- und Osteuropa wieder sichtbar. Václav Havel hat die geistige Zugehörigkeit des östlichen Europas anlässlich der Verleihung des Karlspreises am 9. Mai 1991 in Aachen eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht: „Indem wir uns heute zum Westen bekennen, bekennen wir uns vor allem zu einer bestimmten politischen Kultur, zu bestimmten geistigen Werten und universellen Prinzipien. Dabei geht es um eine Kultur und um Werte, die wir als die unseren empfinden, weil wir lange Jahrhunderte hindurch an ihrer Schaffung beteiligt waren. Es geht um unsere Sehnsucht, nach Jahrzehnten auf den Weg zurückzukehren, der einst auch der unsere war.“

Europa kann seitdem wieder als ein Synonym für die „freie Welt“ gelten. Über seine Wirtschaftskraft hinaus muss es deshalb lernen, mit der Autorität seiner ideellen Kraft und Ausstrahlung zur Stimme der freiheitlichen Demokratie, der Selbstbestimmung und der friedlichen Lösung von Konflikten in der Welt zu werden. Es muss Synonym sein für Frieden, Freiheit, Demokratie, soziale Marktwirtschaft, Stabilität und Sicherheit, wie Immanuel Kant es bereits vor rund 200 Jahren als Einheit von Freiheit, Demokratie und Frieden definierte. Dabei ist es die Aufgabe von Bildung und Erziehung, die Vielfalt der nationalen und regionalen Identitäten als Grundlage der europäischen Zusammenarbeit hervorzuheben.

Europäische Identität und aufgeklärter Patriotismus sind zwei Seiten derselben Medaille. „Europa kann man nicht bauen, wie man ein Haus baut. Europa muss wachsen wie ein Baum“, hat Konrad Adenauer einmal gesagt. Dabei spielen Kultur, Bildung und Erziehung eine maßgebliche Rolle. Dies meinte auch Jean Monet, als er Bilanz zog: „Wenn ich heute den Aufbau Europas in Angriff nähme, würde ich mit der Kultur beginnen.“ Die Jugend sollte lernen, Europa, auch Mittel- und Osteuropa, als gemeinsames Erbe zu betrachten. Sie sollte – selbstverständlich neben dem Beherrschen weiterer europäischer Sprachen – die „Sprache“ der europäischen Kultur vermittelt bekommen.

Bislang jedoch hat das Thema trotz der Empfehlung der Kultusministerkonferenz „Europa im Unterricht“ vom 8. Juni 1978 und trotz der Empfehlung der Ständigen Konferenz der Europäischen Erziehungsminister „Die europäische Dimension im Bildungswesen“ vom 17. Oktober 1991 immer noch zu wenig Eingang in Bildungspläne gefunden. Im Besonderen wäre eine stärkere europäische Ausrichtung des Geschichtsunterrichts erforderlich. Auch wenn das in mehr als 20 Sprachen übersetzte „Europäische Geschichtsbuch“ Maßgebliches geleistet hat, ist das Thema „Europa“ im Geschichtsunterricht nach wie vor überwiegend national-, zeitgeschichtlich und teilweise zu sehr auf Spezialthemen wie Technik-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte verengt. Ähnliches gilt für den Literaturunterricht, der etwa die große Literatur europäischer Nachbarkulturen weitgehend ausblendet. Eine solche Betrachtung aber fördert geistigen Provinzialismus und Partikularismus.

Nur ein europäisches Geschichts- und Kulturbewusstsein aber kann – in Achtung aller nationalen Besonderheiten unter dem Dach des „Europas der Vaterländer“ (Charles de Gaulle) – die Basis für ein modernes europäisches Selbstbewusstsein und damit für eine europäische Mentalität sein.

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