01.03.2010

Das Ende der Kindheit

Rezension von Mick Hume

In ihrem neuen Buch Reclaiming Childhood zeigt Helene Guldberg, dass Hänselei, Konflikte und auch körperliche Auseinandersetzungen übliche Bestandteile einer normalen Kindheit sind. Die sicherheitsbedachte, beschützende und risikovermeidende Einstellung der Eltern schadet der kindlichen Entwicklung weitaus mehr als ein blaues Auge.

Es mangelt nicht an Lippenbekenntnissen, Kinder nicht in Watte packen zu wollen und ihnen mehr freies Spiel zu ermöglichen. Aber wann hat sich das letzte Mal jemand getraut, offen auszusprechen, dass Hänseleien, Streitereien und Konfrontationen völlig normal sind und zu einer normalen Kindheit dazu gehören? Und dass die offiziellen Anti-Mobbing-Kampagnen eine gefährliche Barriere für die kindliche Entwicklung darstellen? Reclaiming Childhood ist ein wichtiges Buch, das uns zeigt, warum fast alles, was uns von Experten über Kinder aufgetischt wird, grottenfalsch ist. Helene Guldberg zerlegt in ihrem Buch die Mythen über die moderne Kindheit und zeigt eine „ehrlichere und positivere Perspektive“ auf.

Zunächst die gute Nachricht: Im Gegensatz zu zahlreichen Berichten sind unsere Kinder heute nicht gestresst, fett, gemein, kaputt, unsozial und außer Kontrolle. Die Lage ist viel besser, als man es uns glauben machen möchte. Die schlechte Nachricht ist jedoch, dass die ängstliche Besessenheit, unsere Kinder vor realen und eingebildeten Risiken beschützen zu wollen, eine echte Gefahr darstellt, nicht nur für Kinder, sondern für unsere gesamte Gesellschaft. Guldberg schreibt in der Einführung zum Buch prägnant: „Es sind nicht die Kinder, die krank sind, sondern die heutige Einstellung ihnen gegenüber.“

Guldberg ist Geschäftsführerin des britischen Novo-Partnermagazins Sp!ked und Dozentin für Entwicklungspsychologie und Kindheitsentwicklung. In ihrem Buch trägt sie Fakten und Argumente zusammen, um der Untergangsstimmung bezüglich des Zustandes der Kinder in Großbritannien entgegenzuwirken. Sie fordert, dass Erwachsene „aufhören sollten, ihre eigenen Ängste und Unsicherheit auf ihre Kinder zu projizieren, sie als gestresst und depressiv zu bezeichnen, anstatt ihnen zu erlauben, in einem Gleichgewicht von vernünftiger elterlicher Führung und jugendlicher Unabhängigkeit zu wachsen und zu gedeihen“.

Guldberg argumentiert schon lange für die Relevanz des freien Spiels. Ihre Arbeit und die von anderen, die in dieselbe Kerbe schlagen, gewinnt langsam an Einfluss, was sich in den stärker werdenden Diskussionen über die in Watte gepackten Kinder widerspiegelt. Für Guldberg geht das Hinterfragen der sicherheitsbedachten, risikovermeidenden Einstellungen gegenüber unseren Kindern aber nicht weit genug. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, die Notwendigkeit zu unterstreichen, dass Kinder durch ihre Lebenserfahrung – d.h., auch durch schlechte Erfahrungen – lernen müssen.

Das alte Spielplatz-Sprichwort „Stock und Stein brechen mein Gebein, doch Worte bringen keine Pein“, was so viel heißt wie: „Dein Gerede geht mir am Arsch vorbei“, hat sich laut Guldberg heute ins Gegenteil verkehrt. Die Kinder dürfen zwar auf Bäume klettern und sich auf dem Spielplatz ein paar Schrammen und aufgeschürfte Knie einhandeln, „aber die Vorstellung, dass Kinder eine lebenslange Schädigung erfahren, weil andere Kinder sie hänseln und ihnen Gemeinheiten an den Kopf werfen, gilt heute als unumstritten“. Die Folge ist stärkere elterliche Einmischung in Dispute unter Kindern und eine stärkere Reglementierung des Spielplatzverhaltens. Und genau dieser Prozess ist es, der die kindliche Entwicklung und die Beziehungen unter Kindern nachhaltig negativ beeinflusst – viel mehr als eine gelegentliche Beleidigung oder eine Handgreiflichkeit.

Es hört sich vielleicht schockierend an, dass laut einer Umfrage aus dem Jahre 2006 69 Prozent von 5000 Befragten angaben, in ihrer Kindheit schikaniert worden zu sein. Bedenkt man aber, dass die Definition von „Schikane“ extrem erweitert wurde und heute auch Hänseln, Sticheln, Ärgern, Aufziehen, Pöbeln, Herumschubsen, Sachen-Durcheinanderbringen oder sogar Von-anderen-Kindern-ignoriert-Werden dazugehört, ist die Zahl eigentlich erstaunlich niedrig. Guldberg untersucht detailliert, wie der sich ständig ausweitende Anti-Mobbing-Kreuzzug die Beziehungen zwischen Kindern problematisiert und zudem die Identifizierung der seltenen Fälle tatsächlicher Brutalität behindert. Hieraus ergibt sich eine paradoxe Situation: Auf der einen Seite werden Kinder wie Babys behandelt, indem man ihnen die Möglichkeit nimmt, durch Rauferei und Auseinandersetzung zu lernen, wie man eine Beziehung zu anderen Kindern entwickelt. Auf der anderen Seite werden sie wie kleine Erwachsene behandelt, indem man ihnen schwere Vergehen wie Taktlosigkeit, Körperverletzung oder gar Rassenhass vorwirft.

Lehrer und Eltern werden heute aufgefordert, sich nicht nur in die Spielplatzsituation, sondern auch in die Online-Welt einzumischen. Guldberg problematisiert, dass in Kampagnen gegen „Cyber Mobbing“ den jungen Menschen eine der letzten Rückzugsmöglichkeit und die Freiheit genommen werde, die sie noch haben, um eigenständige Beziehungen untereinander zu entwickeln – außerhalb der stark überwachten, immer kleiner werdenden Welt von Schule und Zuhause.

Guldbergs Schlussfolgerung, dass Konflikte, Streits, Hänseleien und andere Zwistigkeiten wichtig sind, „um Freundschaften aufzubauen, zu testen und zu pflegen und um eine soziale Identität auszubilden und zu entfalten“, mag ohne Zweifel von Hysterikern als ein Mobbing-Freibrief verurteilt werden. Andere unter uns begrüßen sie aber wohl eher als einen Freibrief für Kinder und ihre Entwicklung. Im Verlauf ihres Buches legt Guldberg überzeugend dar, warum die überwachte und überstrukturierte Kindheit – in der Schule, zu Hause und nun sogar im Internet – ein Problem darstellt. Sie geht dabei aber weiter, als nur für mehr freies Spiel zu argumentieren: Sie legt nahe, dass die Überwachung von Kindern selbst die größte Gefahr darstellt.

Unser Verständnis von Kindheit ist ein Produkt unserer Zeit und einem steten Wandel unterworfen. Eine wirkliche Bedeutung bekam „Kindheit“ erst mit dem Schwinden der Kinderarbeit und dem Ausbau des Bildungssystems Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Vorher wurden Kinder – sofern sie die frühen Kinderkrankheiten überlebten – wie kleine Erwachsene behandelt: nicht nur in Extremfällen wie dem berüchtigten Fall eines siebenjährigen Mädchens, das im 17. Jahrhundert für Diebstahl gehängt wurde, sondern auch in jedem anderen Aspekt des gesellschaftlichen Lebens.

In den westlichen Gesellschaften, so argumentiert Guldberg, ist Kindheit heute durch die ängstliche und unsichere Kultur der Erwachsenen gefährdet. Unsere Kinder werden infantilisiert und überbehütet, gleichzeitig behandeln wir sie als asoziale Bedrohung unserer Zivilisation. „Unsere Aufgabe“, so Guldberg, müsse es sein „die Kindheit als ein wichtiges Entwicklungsstadium zu beschützen und sie nicht als eine gefährliche Zeit zu pathologisieren. Wir müssen den Kindern helfen, ihren Weg in das Erwachsenenleben zu finden, anstatt sie für immer zu kindischen Kindern zu machen“. Wie es Louis Pasteur treffend formulierte: „Kindheit ist wundervoll und inspirierend, aber eine dauerhafte Kindheit ist kein Märchenland, sondern wird zur Hölle.“

Reclaiming Childhood formuliert ebenso viele wichtige Wahrheiten über die heutige Kindheit wie über unsere Erwachsenenwelt. Vor allem aber fordert das Buch die Erwachsenen dazu auf, die Frage von Vertrauen und Solidarität unter sich zu klären: Eltern sollten Eltern sein, Lehrer sollten Lehrer und Fremde sollten Freunde sein. Wenn wir die Lektionen des Buches richtig verstehen, können wir auch das gesunde Verständnis vom Erwachsensein zurückgewinnen.

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