03.12.2012
Politische Prokrastination – Was du heute kannst besorgen, das verschieb getrost auf morgen…
Von Morten Schmelzer
Anstatt die Herausforderungen unserer Zeit entschlossen anzupacken, ergehen sich unsere gewählten Volksvertreter in Pseudoaktivismus. Die eigentlichen Aufgaben schieben sie vor sich her. Morten Schmelzer über die im politischen Berlin weit verbreitete Kunst der Prokrastination
Während meines Austauschsemesters in Südkorea ließ mich ein amerikanischer Kommilitone wissen, dass er seine Hausarbeit nicht vollenden könne, da er prokrastiniere. Zunächst wusste ich wenig mit diesem Begriff anzufangen, weshalb ich ihn um eine genauere Erläuterung bat. Prokrastination? Ja, das passiere zum Beispiel, wenn man nach jedem geschriebenen Satz das Bedürfnis hat, sich auf Facebook mit allem außer dem primären Thema zu beschäftigen. So etwas geschieht in Zeiten ständiger, medialer Ablenkung des öfteren. Allein die Tatsache, dass ich dieses Kurzessay verfasse, zeugt davon, dass ich in gewisser Hinsicht prokrastiniere. Ich könnte mich meiner beruflichen Zukunft widmen, schiebe es aber auf, da mich gerade etwas anderes bewegt – beziehungsweise Berufsplanung als unangenehm empfinde. Scheint also, als hätte der Begriff Prokrastination eine Daseinsberechtigung. Schade nur, dass er bislang in unserem Sprachraum relativ begrenzt bis gar nicht zum Einsatz kommt, ließe er sich er sich doch auf so viele Bereiche anwenden. Genau dies versuche ich im Folgenden, plagt mich doch seit Wochen und Monaten das Gefühl, dass unsere Politiker im Grunde genommen nichts anderes machen als zu prokrastinieren.
Der Pseudo-Aktionismus wirtschaftlich guter Zeiten
Die Kunst der Prokrastination hat Einzug gehalten im Herzen Berlins. Die wirtschaftlich gute Lage scheint einen Pseudoaktionismus zu erzeugen, der die eminenten Herausforderungen unserer Zeit in den Hintergrund rücken lässt. Wir fühlen uns gut. Wir sind wieder wer. Was stört es da, dass unsere Gesellschaft überaltert? Dass wir uns immer mehr auf Kosten der Jugend verschulden? Dass wir weltweit an Einfluss verlieren und große Errungenschaften zunehmend eine asiatische und nicht mehr die europäische Handschrift tragen? Viele unserer Politiker offenbar nicht. Stattdessen widmen sich diese vollen Tatendranges der Kunst der Prokrastination. Die vergangen Monate führten uns dies einmal mehr eindrucksvoll vor Augen: Den Bayern wird ein teures Betreuungsgeld geschenkt, in dem festen Bewusstsein, dass es nicht sinnvoll ist. Der Verkehrsminister plant die Einführung regionaler Autokennzeichen, währenddessen das Berliner Flughafendesaster weltweit deutsche Effizienz und Innovationsfähigkeit infragestellt. Den Krankenkassen wird die Praxisgebühr ohne wirkliche Gegenfinanzierung gestrichen, obwohl schon jetzt feststeht, dass diese in ein paar Jahren wieder nach frischem Geld rufen werden. Die Arbeitsministerin gönnt sich nebenbei eine „Lebensleistungsrente“, wohlwissend, dass Folgegenerationen für diesen Zuschuss aufkommen müssen und es kein vorausschauendes Demografie-Konzept gibt. Und unsere Bundeskanzlerin? Ihre ganz persönliche Prokrastination lässt sich mit Europa und unserer gemeinsamen Währung begründen. Diese Themen erlauben es ihr, in den Augen vieler renommierter Journalisten als populäre Krisenmanagerin dazu stehen, während wichtige nationale Themen mit Blick auf den Koalitionsfriedens aufgeschoben werden. Eine Mehrwertsteuerreform? Ja, aber erst nach der Wahl. Entbürokratisierung? Ja, ich habe diese doch schon 2005 zur Chefsache gemacht. Energiewende? Abwarten, das löst sich schon irgendwie von selbst. Neuverschuldung? Moment, erst muss ich meine Koalitionspartner ruhigstellen.
Gesucht werden visionäre Macher
Bin nur ich es, dem inmitten all dieser Überlegungen etwas mulmig zumute wird? Mir kommt es so vor, als bewege sich unsere politische Führungselite auf der Stelle, gemäß dem Motto: Was du heute kannst besorgen, das verschieb getrost auf morgen. Gewiss lässt sich für alles irgendwo eine Berechtigung finden. Vielleicht sogar für das Betreuungsgeld. Ich bin überzeugt: Unsere Politik zeichnet sich aus durch zu viel Prokrastination und durch zu wenig langfristige Ideen und Konzepte. Gesucht werden visionäre Macher, die dazu in der Lage sind, Herausforderungen unserer Zeit zu erkennen und anzupacken. Wünschenswert wären Politiker, die auch unpopuläre Maßnahmen, wie zum Beispiel Einsparungen, vertreten und durchsetzen, statt sich, einfach umschrieben, nur mit dem „Mist des Kleinviehs“ auf inflationären Gipfeln zu befassen. Schröder hat uns mit der Agenda 2010 gezeigt, wie und vor allem dass es geht. Irgendwie sind wir ihm doch alle zu einer gewissen Dankbarkeit verpflichtet. Es sind politischer Mut und Initiative, die belohnt werden sollten und nicht die Kunst der Prokrastination. Es ist an der Zeit, dass es bei unseren Politikern, und nicht zuletzt auch bei uns allen, „Klick“ macht. Denn am Ende geht es um unser aller Zukunft. Einzelinteressen sollten nachrangig sein. Folgerichtig bin ich meinem amerikanischen Kommilitonen noch heute dankbar für seine Worte – auch wenn ich sie im Nachhinein etwas zweckentfremdet haben dürfte. Jeffrey, es sei mir verziehen.