02.10.2009

Politiker hört die Signale!

Von Stefan Grüll

Die Bundestagswahlen vom letzten Wochenende waren ein machtvoller Warnstreik der Nicht-Wähler. Und nun?

Die Bundestagswahlen vom letzten Wochenende waren ein machtvoller Warnstreik der Nicht-Wähler. Und nun? Aus Protest wurde provokant gewählt, vorsätzlich ungültig gewählt oder bewusst gar nicht gewählt. Letztlich haben so 30 Prozent der Wahlberechtigten am 27. September 2009 dem tradierten Parteienspektrum die Stimme verweigert. Historischer Negativrekord! 18.134.809 Nicht-Wähler stellen seither die mit Abstand stärkste Gruppierung im politischen Gefüge der Bundesrepublik; gefolgt von der CDU mit 11.824.794 und der SPD mit 9.988.843 Zweitstimmen. Gerade einmal 2.3 Millionen Stimmen trennen damit die massiv gestärkte Nicht-Wähler-Fraktion von der per Saldo um 311.166 Stimmen geschwächten Siegerkoalition. Die Balkendiagramme der Wahlberichterstatter mit ihren lediglich in Prozent ausgewiesenen Gewinnen und Verlusten versperren dabei tatsächlichen, wie vermeintlichen Siegern und realen Verlierern offenbar gleichermassen den Blick auf die dramatischen Signale dieser keinesfalls nur demokratietheoretisch bedenklichen Entwicklung. Wie sonst wäre zu erklären, dass der euphorisierte Vorsitzende der neuen freidemokratischen Volkspartei in der Berliner Runde unwidersprochen behaupten konnte, die Tigerenten stützten sich auf die “Mehrheit des Volkes”. Höhepunkt der Ignoranz der politischen Kaste gegenüber der quantitativ zunehmenden und auch qualitativ relevanten Enthaltungshaltung eines aufgeklärten Souveräns oder die lediglich dem Überschwang der Gefühle geschuldete Verwechslung mit der Mehrheit der Parlamentssitze? Seien wir – wie so oft - nachsichtig: In dubio pro reo! 

Die von Gabor Steingart in NovoArgumente geradezu programmatisch als „Warnstreik“ treffend apostrophierte Urnenabstinenz fiel am jüngsten Wahlsonntag also überzeugend aus (http://www.novo-argumente.com/magazin.php/archiv/novo102_22). Ein Grund zur Freude kann die mit 70.8 Prozent niedrigste Wahlbeteiligung einer Bundestagswahl für den politisch motivierten und argumentierenden Nicht-Wähler gleichwohl nicht sein. Mit Blick auf mögliche Konsequenzen ist das Resultat jedoch eine Verpflichtung für alle von den Idealen der Demokratie Begeisterten, innerhalb des politischen Sandkastens und ausserhalb der parlamentarischen Arena, gemeinsam nach Wegen aus der sich zuspitzenden Legitimationskrise zu suchen. Soll dem Warnstreik nicht der Generalstreik folgen und sich das aktivierbare Kreativpotenzial jener 18 Millionen vor den Sprüchen und ihren Klopfern in die temporäre Nicht-Wahl geflüchteten Abstinenzler nicht eines Tages ein unkontrollierbares Ventil suchen, muss jetzt der überfällige Einstieg in einen unvoreingenommenen Dialog zwischen Wählenden, Nicht-Wählenden und Gewählten beginnen. Die Akteure des Prozesses werden dafür zunächst sorgsam gepflegte - gelegentlich auch bestätigte - Vorurteile überwinden und rhetorisch abrüsten müssen. Die unablässige Verunglimpfung der Nicht-Wähler als Demokratieverächter und von der Witterung abhängige Sensibelchen kann wohl kaum die Basis für eine zielführende Debatte zur demokratischen Reanimation individueller Teilnahme am kollektiven Geschehen sein.

Es wird sich zeigen, ob die Parteien bereit sind, den bemerkenswert nachdenklichen Worten des CDU Politikers Norbert Lammert, in der abgelaufenen Wahlperiode be- und geachteter Bundestagspräsident, Taten folgen zu lassen, der wenige Tage vor dem Wahltag via Bild das notwendige Gespräch mit denen angemahnt hat, die sich von der Parteiendemokratie nicht angesprochen, schon gar nicht mehr vertreten fühlen. Mögen hoffentlich auch die von der Politik entsandten Vertreter in den Rundfunkräten der öffentlich-rechtlichen Sender diese Mahnung als Aufforderung zur Läuterung verstehen. Die peinliche Scheu vieler, wenn auch glücklicherweise längst nicht mehr aller Redaktionen, die heterogene Gruppe der Nicht-Wähler pauschal zu stigmatisieren oder gänzlich zu ignorieren, basiert nämlich nicht selten auf den Interventionen dieser mit Parteibüchern aller Couleur ausgestatteten Damen und Herren.

Die Nicht-Wähler ihrerseits müssen sich in deutlich größerer Zahl zu ihrer Haltung bekennen und sich der streitigen Diskussion im besten dialektischen Sinne selbstkritisch, aber selbstbewusst stellen. Unverändert gilt: Es gibt ein Recht auf Wahl, aber keinen Anspruch, gewählt zu werden. Nicht diejenigen, die von dem Recht Gebrauch machen, ihr Recht aus beachtlichen Gründen nicht auszuüben, sind die, die sich unablässig zu rechtfertigen haben. In der argumentativen Bringschuld sind längst die, die ihre Mandate immer weniger Wählenden verdanken und aufgrund der mediokren Inszenierung einer uninspirierten Politik die stetig steigende Verdrossenheit zu verantworten haben.

Was aber, wenn die Politik die Signale nicht hört; nicht hören will? Schon heute steht dem aufbegehrenden Volk ein zwar eher noch rudimentäres, dennoch wirkungsvolles Instrumentarium attraktiver Elemente unmittelbarer Demokratie zur Verfügung. Wie würde das Volk wohl die Frage beantworten, ob durch eine winzige Novellierung der Parteienfinanzierung künftig die “Wahlkampfkostenerstattung” in Abhängigkeit der Wahlbeteiligung bemessen werden sollte? Bei einer Wahlbeteiligung von aktuell 70 Prozent hätten die Parteien dann auch nur noch einen Anspruch auf 70 Prozent der 133 Millionen Euro, die die Steuerzahler qua Parlamentsbeschluss ihrer Volksvertreter den Parteiapparaten pro Jahr zur Verfügung stellen. Statt PR-Agenturen dafür zu bezahlen, das Land vor Wahlen mit Plakaten limitiert geistvollen Inhalts zu überziehen, würde in den Parteizentralen sicher sehr schnell überlegt werden, wie man die Menschen wieder zu dem Gang in die Wahlkabine motivieren könnte. „Wir haben die Kraft“, plakatierte die Union im Sommer. „Wir sind die Kraft“, könnten die Nicht-Wähler jetzt im Herbst kontern – wenn sie sich dieser Tatsache bewusst werden und von der Politik jenseits durchaus verbliebener parteipolitischer Präferenzen einfordern: Redlichkeit statt Rituale. Kompetenz statt Kungelei. Positionen statt Parolen. Die neue Generation der Nicht-Wähler ist zum Dialog bereit: Politiker, hört die Signale!

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