19.08.2021

„Politik ist kein Lieferservice“

Interview mit Dirk Neubauer

Parteipolitik ist festgefahren. Dirk Neubauer, Bürgermeister einer sächsischen Kleinstadt, entwickelt Vorstellungen zur Revitalisierung von Demokratie und Bürgernähe.

Dirk Neubauer ist seit Oktober 2013 Bürgermeister der sächsischen Stadt Augustusburg. Bei der letzten Wahl wurde er mit 68 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. Im Mai 2021 erschien seine Streitschrift „Rettet die Demokratie“. Im gleichen Monat trat er aus seiner Partei, der SPD, aus. In seinem Buch geht es um Politiker, die sich als „Kümmerer“ gerieren und dabei „beinahe jedem alles versprechen“, um bürokratische Entscheidungsprozesse, die bewusst komplex gehalten werden und so jede Eigeninitiative ersticken – und um eine politische Kultur, die den Menschen zutiefst misstraut. Vom „Ursatz des Grundgesetzes“, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, bleibe dagegen wenig übrig.

 

An wen richtet sich Ihr Buch?

Mein Buch richtet sich an alle, die im politischen System eine Rolle spielen: Also vom Wähler bis zur Bundeskanzlerin. Politik geht jeden etwas an. Das haben wir leider ein wenig vergessen. Es richtet sich auch an all diejenigen, die unzufrieden sind und vielleicht auch erkennen müssen, dass sie für ihre Zufriedenheit selber etwas tun sollten. Politik ist kein Lieferservice. Die Politik dagegen muss aus dieser Rolle raus, die sie sich selber gesucht hat.

In dem Zusammenhang sprechen Sie vom Politiker als „Kümmerer“. Was meinen Sie damit und warum ist das so schlecht für die politische Kultur?

Der Kümmerer ist der, der vorgibt, anderen ihre Probleme abnehmen zu können. Er sagt dem Wähler: „Du brauchst nichts zu machen. Wir machen das für Dich“. Das wiederum generiert dann die Hybris: „Wir wissen, was für Dich gut ist.“ Das ist der logische nächste Schritt und da sind wir leider schon längst angekommen. Und beides ist falsch!

Was ist für Sie ein guter Politiker?

Der gute Politiker macht Dinge möglich. Das ist das ganz Entscheidende. Es wird natürlich immer Menschen geben, um die man sich kümmern muss, z.B. wenn sie krank sind oder sich in einer Notsituation befinden. Wir aber haben dieses Kümmern auf alle erweitert, und das ist nicht in Ordnung. Das bestärkt die Passivität. Meine Aufgabe als Politiker in dieser Stadt ist es, sicherzustellen, dass die Leute, die etwas tun wollen, das auch können. Das heißt, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass jemand, der etwas machen will – im Sinne der Allgemeinheit – auch die Möglichkeit dazu hat.

Wo beginnt denn die Aufgabe der Politik – und was sollte dem Bürger überlassen werden?

Es gibt Pflichtaufgaben des Staates. Der Bürger muss natürlich nicht seine Straße selber flicken. Da hat er einen Anspruch drauf, dass wir das erledigen. Aber nicht in dem Sinne: Wir machen alles für dich und deine Welt endet an deinem Gartenzaun. Die Eigenverantwortung der Bürger sollte möglichst weit gefasst sein. Das wäre auch deswegen wichtig, weil die Leute dann merken, dass Politik und die Umsetzung der eigenen Interessen gar nicht so einfach ist: Wie kann ein tragfähiger Kompromiss ausgehandelt werden, mit dem jeder wirklich leben kann? Das lernt man ja nur, wenn man selber dabei ist.

Nun gehört es ja zum Standardrepertoire eines jeden Politikers, dass er die Ängste, Nöte oder auch Wünsche der Wähler ernst nimmt …

Politiker behaupten gerne, sie hätten aus diesem oder jenem Gespräch etwas mitgenommen. Ich frage mich immer, wo diese Stelle ist, an der all das, was mitgenommen wurde, lagert. Das ist der falsche Weg. Es hört sich an, als sei Politik eine Beschwerdestelle, bei der man alles abliefern könne. Ernstnehmen ja. Aber dann zusammen lösen.

Oft erleben wir eine gegenseitige Schuldzuweisung: Politiker beklagen sich über Bürger, die sich kaum noch engagieren – und Bürger sehen sich von der Politik nicht mehr vertreten. Wo würden Sie die Verantwortung für diese Situation sehen? Wer müsste sich als erstes bewegen?

Ich glaube, hier ist die Politik am Zuge. Sie muss ein Angebot machen und den Wählern sagen: „Wir haben das Signal verstanden“. Wenn wir wissen, dass sich immer mehr abwenden, müssen wir den Kontakt umso intensiver suchen. Dann sollte die Politik auch ehrlich mit den Bürgern sein und gemeinsam mit ihnen aushandeln, welche Erwartungen es gibt – und welche davon realistisch sind. Wir dürfen nicht all jene ausgrenzen, die sich ausgegrenzt fühlen. Wir müssen gerade mit denen reden, die dies am wenigsten erwarten.

Wie könnte das konkret aussehen?

Wir werden das hier tatsächlich machen, sobald es endlich wieder erlaubt ist, dass wir uns versammeln. Dann werden wir in dieser Stadt das Format des Runden Tisches aus der Wendezeit aufgreifen. Nach dieser Zwangspause, die die Gesellschaft tief gespalten hat, werden wir versuchen, wirklich jeden wieder an den Tisch zu bekommen. Hier soll dann jeder ansprechen, was ihn bewegt, deprimiert oder auch welche Chancen er sieht. Wir werden unsere Stadtgesellschaft, die seit zwölf Monaten in so einer Art Angstisolation verharrt, irgendwie wieder aktivieren müssen. Wir müssen diese Gräben, die sich in dieser Zeit aufgetan haben, irgendwie wieder schließen. So ähnlich wie in früheren Dorfgemeinschaften, als dann gesagt wurde, jetzt muss alles einmal auf den Tisch.

Nun steht ja eine Bundestagswahl an und eigentlich sollten Wahlen auch etwas Mobilisierendes haben. Kann diese Wahl wieder neue Initiativen in Gang setzen?

Das glaube ich nicht. Unsere Apparate – dazu gehören auch die Parteien – sind derartig kommunikativ „gestylt“, dass die Zeit bis zur Wahl wahrscheinlich mit Kampagnen zugefahren wird. Unsere Parteien sind abhängig von einer ganzen Schar externer Berater oder Experten, die aus der Politik eine Art „Public Relations“-Übung machen. Dann kommt noch hinzu, dass viele hier im sächsischen Outback versuchen werden, die Grünen zu verhindern. Diese Annahme basiert allein auf meinem Gefühl, denn ich bin niemand, der sich mit Umfragen beschäftigt. Dadurch entsteht so etwas wie die Wahl des kleineren Übels – oder der Zusammenschluss aller Retrokräfte. Diese Bundestagswahl wird daher auch sehr polarisierend sein. Das ist schade, denn wir bräuchten dringend eine Kraft, die die Energie hätte, diesen Laden wieder in Bewegung zu setzen.

Sie schreiben, dass die Parteien ihre Rolle im gesamtgesellschaftlichen Willensbildungsprozess nicht mehr wahrnehmen. Dazu gehört, dass die Ortsgruppen vernachlässigt werden und es keinen Dialog mehr zwischen der Basis und den Führungsebenen gibt. Können Sie das erläutern?

Es ist ja für jeden erkennbar, dass der politische Raum nicht mehr richtig im Leben verankert ist. Rückmeldungen oder Inputs aus den Kommunen, die nicht ins Konzept passen, werden unterbunden. Man zieht sich Truppenteile heran, die eine gewisse Stromlinie entwickeln und immer nur in dieselben Fußstapfen treten. So entstehen dann Blasen. Parteien sind inzwischen sich selbst bestätigende Blasen geworden. Daran liegt es auch, dass wir nicht mehr diskutieren, sondern es nur einen gegenseitigen Schlagabtausch gibt, der keine Ergebnisse hervorbringt. Statt Debatten werden gefestigte Dogmen gepflegt, die es nicht mehr zulassen, dass man bereit ist, dem anderen wenigstens einmal zuzuhören. Die Konsequenz ist, dass die Leute hier in meiner Stadt sagen, sie wüssten gar nicht mehr, welchen Unterschied es eigentlich machen sollte, ob sie in der CDU oder der SPD oder sonst wo sind, weil es keine Verbindung zu den Parteien mehr gibt. Parteipolitik spielt in der Kommune gar keine Rolle mehr. Das war auch lange das Ziel der Parteien, denn das Regieren ist leichter, wenn auf die Basis keine Rücksicht genommen werden muss. Nun ist das zu einem Problem geworden.

Sie meinen, dass die Reform von der Kommune aus gehen muss. Woher kommt die Hoffnung, dass sich der politische Raum durch die Kommunen wieder zurückgewinnen lassen kann?

Das Entscheidende ist, dass die Leute hier sehr unmittelbar spüren können, was es heißt, sich einzubringen. Auf Landesebene ist das gar nicht mehr vorgesehen. Wenn der Freistaat Sachsen seinen Haushalt verabschiedet, dann hat der Bürger keinerlei Chance, darauf einzuwirken. Wenn wir das in der Stadt tun, kann jeder Widerspruch einlegen. Hier weiß jeder, an wen er oder sie sich wenden kann, wenn er eine Beschwerde hat oder Vorschläge einbringen möchte. Wenn wir das, was theoretisch möglich ist, auch noch mit praktischen Möglichkeiten untersetzen – also mit mehr Kompetenz, einer besseren Finanzierung usw. – dann würden die Leute auch wieder lernen, was Demokratie wirklich im Kern bedeutet. Dafür gibt es das sperrige Wort der „Selbstwirksamkeit“.

Sie sagen, Sie sprechen vor allem vom Osten, da Sie hier zuhause sind und die Situation besonders gut kennen …

Mit dem Versprechen, die Menschen wirklich einzubeziehen, ist im Osten schon viel Unheil betrieben worden. Wenn die Leute merken, dass sie eigentlich überhaupt nicht gefragt werden – in entscheidenden Dingen –, dann wenden sie sich ab. Wir wiederum reagieren dann auf Menschen, die sich ausgegrenzt fühlen, mit Ausgrenzung, indem wir z.B. ganz pauschal sagen: „Mit denen reden wir nicht“. Das machen wir seit Jahren so. Auch hier ist wieder die Kommune gefragt, denn wenn z.B. 40 Leute vor meinen Räumen demonstrieren, dann muss ich als Bürgermeister rausgehen und mit ihnen reden. Ich muss ihnen nicht zustimmen. Aber ich muss ihnen ins Gewissen reden und ihnen signalisieren, dass ich sie wahrnehme. Dann werde ich auch feststellen, dass sich das ganz von selbst sortiert. Die meisten wollen nämlich gar nicht, dass sich im Ort eine neue rechte Bewegung bildet. Wenn ich mich aber nicht blicken lasse, mich der Diskussion verwehre und vielleicht sogar einen Streifenwagen hinschicke, dann verärgere ich nur noch mehr Menschen. So können wir jedenfalls keine Probleme lösen. Die AfD wäre im Osten nie so stark geworden, wenn wir Menschen, die sich ausgegrenzt fühlten, nicht noch weiter ausgegrenzt hätten.

Sie sprechen in Ihrem Buch ganz konkrete Reformvorschläge an. Können Sie die wichtigsten drei nennen?

Das erste wäre eine Reform der Förderpolitik: Förderungen sollten durch eine direkte Finanzierung der Kommunen ersetzt werden. Förderinstrumente sind im Wesentlichen nur Misstrauensinstrumente. Eine direkte Finanzierung, mit der die Kommunen machen könnten, was sie für richtig halten, würde sehr viel Vertrauen in die gewählten unteren Gremien zurückgeben. Das würde auch die Demokratie beleben, denn dann würden die Leute sehen, dass es wirklich wieder um etwas ginge. Sie müssten sich einbringen, wenn sie z.B. wollten, dass ein Sportplatz gebaut würde. Wenn die Leute aber wissen, dass jedem Beschluss erst einmal ein Antrag folgen muss, der vielleicht in drei oder vier Jahren bewilligt wird, dann sehen sie nicht, warum sie sich einsetzen sollten.

Und was noch?

Dann sollten wir auch die Amtszeiten begrenzen. Egal, was ein Politiker macht: Was jemand, z.B. als Bürgermeister, in 14 Jahren Amtszeit nicht geschafft hat, schafft er oder sie in den nächsten Jahren auch nicht mehr. Es geht nämlich nicht um den Politiker, sondern um diejenigen, die ihn oder sie beauftragt haben. Diese ewigen Karrierewege, heute Familienminister, morgen Verteidigungsminister und übermorgen Europäische Kommission, obwohl ich eigentlich gar nicht zur Wahl stand, das muss aufhören! Hinter diesen ewigen Strukturen entstehen weitere ewige Strukturen – so eine Art Monolithen –, die Abhängigkeiten schaffen und gegen die jeder, der Veränderung will, kaum noch ankommt. Was folgt, ist dann der Stillstand, so wie wir ihn zurzeit haben.

Und zuletzt?

Zuletzt würde ich die Listenplätze abschaffen. Warum kommen wir nicht zu einem System, in dem in jedem Wahlkreis eine bestimmte Anzahl Politiker kandidieren, die sich alle wirklich zur Wahl stellen? Wenn ich sage, ich agiere im Auftrag des Volkes, dann muss ich diesen Auftrag bitteschön auch haben. Stattdessen schleppen wir Leute durch, auch hier im Landtag, die noch nie selber ein Mandat gewonnen haben. Natürlich ist es schwierig, sich immer wieder den Wählern zu stellen. Leichter ist es, man begibt sich in seinen Orbit und kapselt sich ab. Es ist auch einfacher, in einen Landesparteitag mit einem Programm zu gehen, das ich nicht mit der Basis abstimmen musste. Man will ja nicht, dass die eigenen Vorstellungen verwässert werden, nur weil das Fußvolk da unten eine eigene Meinung hat.

Sie sind gerade aus der SPD ausgetreten. Trotzdem sagen Sie, dass Parteien wichtig sind. Wie sehen Sie Ihre politische Zukunft?

Die SPD ist keine SPD mehr. Statt die Interessen der kleinen Leute zu vertreten, holen wir den Zeigefinger raus und belehren sie. Ich glaube, wir brauchen etwas ohne ideologischen Überbau: nicht rechts, nicht links. Wir brauchen etwas Neues, das sich mehr den Argumenten verpflichtet fühlt. Wir brauchen etwas, das offener ist, die Leute wieder abholt und sozusagen einen Debattenraum schafft. Daran arbeite ich jetzt. Mal sehen, ob es gelingt.

Das Gespräch führte Sabine Beppler-Spahl am 20. Mai 2021.

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