01.05.2000
Politik, die der Korruption die Grube gräbt, fällt selbst hinein
Essay von James Heartfield
Die merkwürdige Konjunktur der europäischen Korruptionen. Wie der Kampf gegen die Korruption die Demokratie belastet.
In der neueren Geschichte haben zahlreiche Demagogen versucht, im Namen des Kampfes gegen die Korruption die politische Ordnung zu stürzen. Der amerikanische Populist Huey Long gehört genauso dazu wie Oswald Mosley, der Führer der britischen Faschisten, oder der Nazijurist Carl Schmitt. Die Forderung, mit dem korrupten Abschaum kurzen Prozess zu machen, war immer die Forderung von Reaktionären. ”Neue Besen kehren besser” ist der Slogan derjenigen, die die Gesellschaft verändern wollen, aber nicht bereit sind, sich einer rationalen Auseinandersetzung über das Wie und Warum zu stellen.
Korruption als Thema der Politik ist ganz und gar nicht das Gleiche wie die Korruption selbst. Denn, mag es auch traurig sein, es ist doch wahr: Seit es Demokratie und Kapitalismus gibt, gibt es auch intime Beziehungen zwischen finanziell potenten Kreisen und gewählten Politikern. Das sollte nicht überraschen. Die Art, wie die Beziehungen zwischen gewählten Regierungen und der Wirtschaft ablaufen, bietet der Korruption viele Einfallstore. Das ist kein Mangel des Systems, es ist sein Fundament.
Es handelt sich dabei um einen altehrwürdigen Kompromiss bürgerlicher Demokratie – die Wirtschaft lässt ein gewähltes Gremium gewähren, mit der Einschränkung, dass alle tatsächliche Macht nicht Sache der Öffentlichkeit, sondern privatisiert ist. Wollen Politiker dennoch etwas bewegen, müssen sie sich nach dem Markt einrichten, was nichts anderes bedeutet, als den Gesetzen der Korruption zu folgen. Besonders sinnfällig wird dies im britischen Unterhaus inszeniert, wo der Parlamentspräsident, alter Tradition folgend, auf einem mit Wolle gefüllten Sack sitzt. Dieser dient nicht etwa seiner Bequemlichkeit; der Wollsack stellt die das Parlament bestimmenden Interessen von Wirtschaft und Handel dar.
“Weltweit ist, was vormals die Linke war, zu wirtschaftsfreundlichen Parteien der Mitte geworden”
Heute, da wirklich keine politische Kraft mehr gegen die Gesetze der Marktwirtschaft opponiert, wäre es besonders töricht zu glauben, dass die Wirtschaft das Parlament nicht entscheidend beeinflusste. Weltweit ist, was vormals die Linke war, zu wirtschaftsfreundlichen Parteien der Mitte geworden. Während in Großbritannien noch in den achtziger Jahren die Tories die Partei der Wirtschaft waren – und sich entsprechend bewirten und windeln ließen –, hat seither Tony Blairs New Labour noch viel mehr politische Macht unmittelbar an die Wirtschaft abgetreten. Über hundert von der Regierung eingesetzte Arbeitsgruppen beackern inzwischen politische Themen, von der Arbeitsgruppe zur Verbesserung des Mathematikunterrichts bis zur Arbeitsgruppe zur Steigerung der Effizienz von Verwaltungen. Diesen AGs stehen Geschäftsleute vor wie zum Beispiel der Manager der Barclays Bank, Martin Baker (AG Steuern und Subventionen) oder Peter Davis vom Versicherungskonzern Prudential (AG Arbeitsprogramme für Sozialhilfeempfänger).
Nachdem New Labour politische Aufgaben an Wirtschaftsleute delegiert hatte, folgte postwendend eine Reihe von Skandalen. Schon wenige Wochen nach Regierungsantritt musste die Regierung Blair eine Spende des Formel-1-Bosses Bernie Ecclestone zurückzahlen, da sie gleichzeitig mit der Entscheidung erfolgt war, Tabakwerbung im Motorsport nun doch nicht zu verbieten. Der Geschäftsmann und Chef des britischen Schatzamtes, Geoffrey Robinson, löste einen Skandal aus, als bekannt wurde, dass er zur Minderung seiner Abgaben Geld in Steuerparadiese verschoben hatte. Ähnlich ging es dem nach Tony Blair einflussreichsten Labour-Politiker, Peter Mandelson, der zugeben musste, dass er für den Bau seines Hauses finanzielle Beihilfen in Empfang genommen hatte. Mandelson musste zurücktreten; seit kurzem ist er nach zeitweiser politischer Abstinenz wieder im Kabinett, als Minister für Nordirland.
“Die ”Aufklärer” und Skandalhansel haben selbstverständlich immer genügend Stoff für ihre Empörung, da Geld und Politik allerweil in symbiotischer Beziehung leben”
Korruption wurde zum politischen Großthema, als in den USA Ross Perot erstmals gegen die beiden großen Parteien antrat. Sein Programm bestand vor allem aus dem Vorwurf, die politische Elite in und um Washington sorge sich in erster Linie um das eigene Wohlergehen statt um das des amerikanischen Volkes. Nächster Schauplatz war Großbritannien, wo sich die Medien zu Zeiten der letzten Tory-Regierung immer zahlreicher auf Fälle von Vorteilsnahme stürzten. Es folgte Italien, wo sowohl Benito Craxis Sozialisten wie auch die Christdemokraten im Feuer der Korruptionsvorwürfe untergingen, von Berlusconis autoritärem Regime ersetzt wurden, bis auch dieses dem Kreuzzug gegen die Korruption zum Opfer fiel. Inzwischen ist bereits auch das Image des nächsten Saubermannes, Romano Prodi, recht angekratzt.
In Belgien fiel die Regierung nach einer ganzen Reihe von Vorwürfen, die von Korruption bis zur Begünstigung von Kindesmissbrauch gingen. Die französischen Gaullisten mussten sich den Vorwurf gefallen lassen, sie hätten sich wechselseitig Pariser Luxuswohnungen zugeschanzt. Es folgten die EU-Kommissare, die unter dem Vorwurf, bei der Abrechnung ihrer Spesen gemogelt zu haben, samt und sonders zurücktreten mussten. Die neueste Fortsetzung dieser scheint’s nicht endenden Serie sind die Skandale und Skandälchen der CDU.
Korruption als beherrschendes Thema der Politik erfasste die Regierungen westlicher Staaten plötzlich, ohne Vorwarnung, und entwickelte sich zum chaotischen Selbstläufer, der selbst von denjenigen, die das Thema zuerst aufgebracht hatten, nicht mehr gesteuert werden konnte. Rückblickend fällt es leicht, diese Ereignisse des vergangenen Jahrzehnts als Ausbrüche ein und desselben Phänomens zu klassifizieren. Jedoch: Als Korruption begann, zu dem Politik beherrschenden Thema zu werden, schien dies von Fall zu Fall aus jeweils spezifischen Gründen zu geschehen. Hier kann die oberflächliche Chronik der Ereignisse leicht in die Irre führen. Wird das Thema Korruption zum Fixpunkt jeglicher politischer Debatte, hat das meist wenig mit der tatsächlichen Korruption zu tun, wie sie in allen kapitalistischen Demokratien gang und gäbe ist.
Die ”Aufklärer” und Skandalhansel haben selbstverständlich immer genügend Stoff für ihre Empörung, da Geld und Politik allerweil in symbiotischer Beziehung leben. Das allein erklärt aber nicht ausreichend, warum der Kampf gegen Korruption gerade heute jegliche politische Auseinandersetzung dominiert. Wäre es anders, stünde zu erwarten, dass – so allgegenwärtig wie die Korruption – auch immer schon der Kampf gegen die Korruption die Politik bestimmt hätte.
Die politische Landschaft in Großbritannien vermag dies zu belegen. Bevor sie 1997 abgewählt wurden, waren die Tories von einer Lawine aus Sex- und Finanzskandalen überrollt worden. Die Labourregierung hat seither nicht weniger mit Skandalen zu kämpfen gehabt. Diese hatten allerdings ganz andere Folgen. Die Konservativen wurden von den Skandalen zermalmt; die Skandale der Labourregierung führten nur dazu, dass einzelne Politiker wegen ihres Fehlverhaltens abgestraft wurden.
Auch in den USA erging es den Reformern, die noch 1992 und 1996 nicht geringe Erfolge verbuchen konnten, jetzt bei den Vorwahlen der Republikaner und Demokraten wenig gut. Den beiden Außenseiter McCain und Bradley, die die Politik des Geldes und der großen Spenden abschaffen wollten, wurde gleichermaßen von ihren Parteien die kalte Schulter gezeigt, während Al Gore, dem immerhin vorgeworfen wurde, seinen Wahlkampf auch mit finanzieller Unterstützung der chinesischen Regierung zu finanzieren, und George Bush jr., der in einen Bankenskandal verwickelt war, beide Erfolg hatten.
“Korruption als Thema der Politik lässt sich nicht begreifen, betrachtet man nur den jeweils unmittelbaren Anlass”
Wie lässt es sich also erklären, dass manche Korruptionsfälle sich zu riesigen Skandalen auswachsen, während andere, vergleichbare Fälle die Medien und die Öffentlichkeit nur wenig berühren? Die Antwort lautet, dass die Skandale jeweils wenig mit ihrem unmittelbaren Anlass – der Korruption – zu tun haben und nur dann besonders virulent werden, wenn Politiker das Vertrauen der Öffentlichkeit bereits verloren haben. Korruption als Thema der Politik lässt sich nicht begreifen, betrachtet man nur den jeweils unmittelbaren Anlass.
Es handelt sich vielmehr um ein soziologisches Phänomen, das dann an Dynamik gewinnt, wenn Politiker oder Institutionen Legitimität bereits eingebüßt haben. Die Proteststürme gegen korrupte Politiker, die wir seit den 1990ern erlebt haben, waren denn auch nur Symptome einer Entkoppelung und Entfremdung zwischen den politischen Eliten und ihrer jeweiligen sozialen Basis.
Eine gewichtige Rolle spielte dabei, dass die Parteien der Rechten mit dem Ende des Kalten Krieges wesentlich ihrer Mission – und damit des Kontakts zu ihrer Basis – verlustig gingen. Es war diese Mission, die Margaret Thatcher meinte, als sie davon sprach, ”das Schlagholz für Großbritannien zu führen”. Nachdem sich auch die anfängliche Dynamik des Thatcherschen ”Kapitalismus fürs Volk” mit seinen Privatisierungen und Aktienausschüttungen totgelaufen hatte, blickten die enttäuschten Kleinanleger ihren einstigen Anlageberatern genauer auf die Finger. Damit wurde die einst Vertrauen erweckende enge Beziehung von Politikern und Geschäftsleuten suspekt. Auch ohne konkreten Anhaltspunkt schürte die Enge dieses Verhältnisses nun, in einer gewandelten Situation, den Verdacht der Vorteilnahme.
Nicht zufällig hört man öfter noch als von konkreten Korruptionsfällen den Vorwurf, die ganze politische Landschaft sei ein einziger ”Sumpf”. Die Vagheit dieses Ausdrucks ist nicht zufällig, beschreibt er doch ein allgegenwärtiges Misstrauen, das unabhängig von konkreten Taten besteht. Was einst gerade den Parteien der Rechten hoch angerechnet worden war (”Wirtschaftspolitik”, ”guter Draht zur Wirtschaft”), wurde, nachdem sie das Vertrauen ihrer Basis verloren hatten, zum Generalverdacht der Korruption.
Die wichtigste Auswirkung der Anti-Korruptionswelle war, dass sie die Parteien und Politiker des ”Dritten Wegs”, der ”Neuen Mitte” an die Macht brachte: Bill Clinton, Blairs New Labour und Gerhard Schröders neue SPD. Das Auffälligste an diesen Regierungswechseln war, dass sie in keinem Fall von einer politischen Massenbewegung unterstützt oder befördert wurden. Die Regierungswechsel fanden ganz ohne politische Gründe, ohne politische Basis statt. Regierungen versanken in Skandalen und im ”Sumpf”, ohne dass sich die allgemeine politische, marktwirtschaftliche Ausrichtung der Regierungspolitik änderte. Erstaunlich an den Regierungen des ”Dritten Weges” ist, dass sie für einen Regierungswechsel stehen, der mit einem Machtkampf oder einer politische Richtungsentscheidung nichts zu tun hat. Skandale waren eben deshalb von so großer Bedeutung, weil mit ihnen – jenseits politischer Debatten und Entscheidungen – das Personal gewechselt werden konnte.
Frank Johnson amüsierte sich denn auch im rechts-konservativen Spectator darüber, wie nützlich sich der radikale Journalist Paul Foot gemacht habe, als er dazu beitrug, den korrupten Torypolitiker Jeffrey Archer abzuschießen: ”Manch ein Leser wird aufschrecken. ‚Paul Foot, der alte Trotzkist?’ Aber das hieße, die nützliche Rolle misszuverstehen, die Mr. Foot für uns spielt. Er stürzt die Mächtigen aus ihren Sesseln. Er glaubt zweifellos, er würde so die bürgerliche Ordnung untergraben. Aber die Wahlergebnisse zeigen, dass dem ganz und gar nicht so ist. Wenn er sich unserer Empörung über Verfehlungen bedient, spannt er damit nicht die Bourgeoisie vor seinen Karren, wir spannen ihn vor unseren Karren. Seine Enthüllungen stärken das bürgerliche Lager, da sie ihm den Glanz der Rechtschaffenheit verleihen.” (Spectator, 4.4.1998)
“Skandale waren eben deshalb von so großer Bedeutung, da mit ihnen – jenseits politischer Debatten und Entscheidungen – das Personal gewechselt werden konnte”
Der Austausch der Führungskräfte ganz ohne jede politische Wende bedeutet aber nicht, dass politisch alles beim Alten geblieben wäre. Ganz im Gegenteil. Das Thema ”Korruption” hat ein neues System politischer Steuerung und Kontrolle geschaffen, das die parlamentarische Demokratie zunehmend verdrängt. Auf den Vorwurf, es gäbe nach wie vor einen Korruptionssumpf, reagierte der Nolan-Untersuchungsausschuss, indem er fest das Amt eines parlamentarischen Ombudsmannes (aktuell ist es eine Ombudsfrau) einrichtete, dessen Aufgabe es ist, das Verhalten der Parlamentarier zu überwachen.
Vergangenes Jahr interviewte ich Teresa Gorman, die Tory-Abgeordnete für Billericay, eine sehr energische Politikerin mit sehr eigenwilligen Ansichten. Teresa Gorman kämpft für Marktwirtschaft, wo es nur geht und setzt sich entschieden für die Rechte von Frauen ein, sei es für das Recht auf Abtreibung oder dafür, dass eine Hormonersatztherapie von den Kassen getragen wird. Ihr Engagement für letzteres brachte ihr auch die Unterstützung zahlreicher Pharmaunternehmen. ”Sie boten mir Geld an”, erzählte sie mir, ”aber ich sagte ihnen, sie sollten das Geld lieber für die Forschung in Sachen Hormonersatztherapie ausgeben.” Teresa Gorman hat ihre Prinzipien. Es überrascht sie nicht, dass manche Abgeordnete Geld von Unternehmen annehmen, aber sie weiß genau, dass dies politischer Selbstmord ist.
Damit war Teresa Gorman aber noch lange nicht aus dem Schneider. Von der Ombudsfrau wurde ihr vorgeworfen, sie habe es versäumt, neben ihren Einkommensquellen auch Besitz anzugeben, der ihrem Mann gehöre. Mir gegenüber erklärte sie: ”Ich wüsste auch nicht, was die das angeht.” Kürzlich musste sie ihr Mandat vorübergehend niederlegen, da sie sich geweigert hatte, in dieser Angelegenheit der Aufforderung der Ombudsfrau nachzukommen. Gorman meint dazu: ”Ich bin von den Menschen in Billericay gewählt worden, nicht vom Ombudsmann des Parlaments.” Damit hat sie natürlich recht. Die neuen Regeln des britischen Parlaments sehen aber vor, dass die Entscheidung der Wähler nicht bindend ist und von einer nicht gewählten Amtsträgerin annulliert werden kann.
Die Anti-Korruptionskampagnen zerstören jede politische Auseinandersetzung. Inzwischen gilt es als unmoralisch, öffentlich Interessen Dritter zu vertreten. Abgeordnete sollen heute keine Stellvertreter mehr, sie sollen Wahrsager sein. Jeden Schritt, jede politische Aussage müssen sie so umformulieren, als handele es sich dabei um einen Ausfluss unpersönlichster und allgemeinster Menschenfreundlichkeit. Zum einen wird das öffentliche Leben dadurch zu einem Wettbewerb in Sachen Scheinheiligkeit. Die simpelsten Bauvorhaben oder Maßnahmen zur Wirtschaftsförderung müssen nun in verdreht-idealistische Phrasen gegossen werden. Nichts geschieht mehr wegen des Profits oder aufgrund konkreter Interessen, sondern nur, weil es ”dem Gemeinwesen nützt” oder auch der Umwelt, dem Planeten, den Menschenrechten oder anderen Gemeinplätzen.
Schlimmer noch aber ist, dass der natürliche Ehrgeiz einfacher Menschen – es für sich besser, für sich mehr haben zu wollen – in dieser weihevollen Atmosphäre gnadenlos abgebürstet wird. Ein einfaches Begehren, beispielsweise der Wunsch von Müttern, zur Zeitersparnis ihre Kinder mit dem Auto zur Schule zu fahren, wird sofort uminterpretiert zur Propaganda der ”Auto-Lobby”. Es folgt eine Aufklärungskampagne mit dem Ziel, die ”Auto-Mütter” von der Straße zu holen. Wenn selbst simple materielle Interessen in der Politik keinen Niederschlag mehr finden, dann ist Politik nur noch ein Wettbewerb darum, wer der Selbstloseste unter den scheinheiligen Gutmenschen ist.
Die Kampagnen gegen Korruption haben nicht nur der herrschenden Klasse neue Legitimität verschafft, sie haben gleichzeitig auch den Wählern das Recht genommen, ihre Entscheidung für ihre Politiker zu treffen.