01.11.2000
Pokémon knockt den Roman nicht aus
Analyse von Wendy Earle
Der beschworene Erwerb von neuen Kompetenzen wird Lesen und Schreiben als wichtigste Bestandteile des Lernens nicht verdrängen, sagt Wendy Earle.
Das “Pokémon”-Fieber scheint neben Kindern nun auch Eltern, Pädagogen und Fachleute gepackt zu haben – freilich nicht auf die spielerische Art: So habe ich kürzlich gehört, dass Pokémon die Sprachkompetenz von Kindern fördere. Eine merkwürdige Aussage über ein Spielzeug, und sicherlich keine, die für Kinder von Relevanz ist. Solche als Beruhigung (ver-)zweifelnder Eltern gemeinten Aussagen sind typisch für die momentane Obsession mit dem Reizthema “kompetenzfördernde Kindererziehung”. Demnach ist scheinbar alles gerechtfertigt und qualitativ hochwertig, was Kinder zum Schmökern motiviert. Auch Sinn und Zweck der Teletubbies wurde mit den Ergebnissen einer pädagogischen Studie, die knuddeligen Gummigeschöpfe förderten das Sprachvermögen, gerechtfertigt. Ob Kids nun auf Pokémon, Teletubbies, Moorhühner oder auf die schon wieder völlig veralteten Tamagochis stehen – kann ein Spielzeug nicht einfach ein Spielzeug sein? Kann man nicht einfach einen Film sehen, weil er gut ist, unabhängig davon, ob das Kind den Roman zum Film liest?
In Großbritannien sind seit der Einführung der “National Literacy Strategy”, einem Programm zur Verbesserung der Lese- und Schreibkompetenz, im Jahr 1998 die Schreibfähigkeiten und -gewohnheiten von Kindern zum Mittelpunkt einer inbrünstig geführten Diskussion geworden. In ständig wiederkehrenden Berichten beklagen sich Experten darüber, dass Kinder lesen langweilig fänden und lieber fernsehen, Musik hören oder Computer spielen würden. Und obwohl die Publikation von Kinderbüchern, wie die stolzen Verkaufszahlen des Bestsellers Harry Potter beweisen, ein lukratives Geschäft geworden ist, kann wohl festgehalten werden, dass die Kids von heute weniger lesen als vor 30 Jahren. Vielleicht lesen sie genauso viel wie damals, aber die Bücher sind dünner geworden, sowohl was den Umfang als auch die inhaltliche Qualität anbelangt. Nickolas Tucker von der Sussex University behauptet jedenfalls, das durchschnittliche Comic-Heft der 50er-Jahren enthalte mehr Text als der durchschnittliche Kinderroman von heute.
“Für manche ist das sinkende Interesse an Büchern eine beängstigende Entwicklung.”
Aber ist all dies wirklich von Bedeutung? Für manche ist das sinkende Interesse an Büchern eine beängstigende Entwicklung. In seinem 1985 erschienen Buch Wir amüsieren uns zu Tode stellte der Soziologe Neil Postman fest, dass die Ideen, die Informationen und die gesamte Epistomologie der Gesellschaft künftig in Form elektronischer Medien und nicht mehr durch das gedruckte Wort übertragen werden. Und während die Typographie peripher wird und das Fernsehen ihren zentralen Platz einnimmt, sinken nach Postmans Ansicht die Seriosität, die Klarheit und vor allem die Werte des öffentlichen Diskurses. Eine “Schöne neue Welt” drohe, in der die Menschen das Denken einstellen und das kulturelle Leben zu einer unendlichen Abfolge von TV-Entertainment und Trivialitäten verkommen werde, so sein Ausblick.
Andere wiederum befürchten, vom Gang der Dinge überrollt zu werden. Die Erziehung solle sich deshalb mehr darauf konzentrieren, die Kinder auf die sich schnell verändernde technologische Welt vorzubereiten. Nach Ansicht von IT-Experten könnte sogar die eigene Handschrift bald überflüssig werden. Wir sollten uns stattdessen darauf konzentrieren, die Sprach- und Hörfähigkeiten der Kinder zu verbessern. Gunther Kress vom “Institute of Education” in London setzt sich für die Umgestaltung von Lehrplänen ein, die die Veränderungen in der Art und Weise, wie Ideen und Informationen heute kommuniziert werden, reflektieren und die Entwicklung von Verständnis und Meinung bei Kindern als einen aktiven Prozess begreifen soll, der sich nicht nur auf Lesen und Schreiben reduzieren lässt. Diese Lehrpläne hätten zu berücksichtigen, dass in der modernen Gesellschaft Informationen über eine Vielzahl von Symbolen transportiert werden, nicht nur über Buchstaben und Zahlen.
Doch worum geht es nun wirklich in der Debatte über die Entwicklung von Kompetenzen? Postmans Ängste erscheinen übertrieben: Niemand argumentiert dafür, das Lesen und Schreiben abzuschaffen. Aber es scheint eine wachsende Verwirrung darüber zu geben, was überhaupt als “Kompetenz” zu bezeichnen ist und welche es zu fördern gilt. Ob “visuelle Kompetenz”, “Informations-Kompetenz”, “Medien-Kompetenz”, “Computer-Kompetenz”, “kommunikative Kompetenz”, “ökologischen Kompetenz”, “interkulturelle Kompetenz” oder “emotionale Kompetenz” – neue Kompetenzen sprießen wie Pilze aus dem Boden.
Der Begriff der Kompetenz wird hier verwandt, um viele allgemeine, manchmal sogar triviale Fähigkeiten zu beschreiben. In diesem Kompetenz-Dschungel ist es zunächst schwer zu verstehen, warum ausgerechnet die Schreib- und Sprachkompetenz eine Sonderrolle spielen und so wichtig sein soll.
Für uns Erwachsene ist es selbstverständlich und natürlich, lesen und schreiben zu können; dennoch gehören gerade diese Fähigkeiten zu den kompliziertesten. Kinder brauchen lange, um das abstrakte System von Buchstaben und Symbolen zu verstehen. Es dauert einige Jahre, bis sie auch die physischen Fertigkeiten erlernen, gebraucht werden, um flüssig zu schreiben. Man muss ja nicht nur die Buchstaben entziffern, sondern auch die Bedeutung der Buchstabenkombinationen, der aneinander gereihten Wörter und der Grammatik erfassen, um zu verstehen, was der Schreibende aussagen möchte, egal wie abstrakt und kompliziert es ist, und all das ohne die Hilfe von Augenkontakt, Gesten etc. Auch die Fähigkeit des Schnell-Lesens bedarf eines langen Trainings. Sie ist grundlegend, um die großen Mengen von Informationen zu verarbeiten, auf die wir dank der Informations- und Kommunikationstechnologie Zugriff haben.
Viele Ideen und Nachrichten (selbst recht komplexe) können heute schon visuell übertragen werden, und die digitale Revolution bietet immer größere Möglichkeiten für visuelle Repräsentation und Kommunikation.
Das Fernsehen nutzt das Potenzial der digitalen Technik, um das Verhältnis zwischen Zuschauer und Medium zu verändern. Die Interaktivität könnte bedeuten, dass die so genannte “Couch-Kartoffel”, sprich, der passive Fernsehkonsument, kurz vor dem Aussterben steht. Aber es ist nur schwer vorstellbar, das die Interaktivität und die hier fließenden Informationsströme auf Buchstaben und andere Symbole verzichten können. Sie sind nicht ersetzbar. Eine Geschichte kann als Film erzählt werden, aber die Zuschauer können nur raten, was in den Köpfen der Charaktere vor sich geht. Die Begrenzungen des Films und des Fernsehens bedeuten, dass die detaillierte Darstellung komplexer Ereignisse, Themen oder Persönlichkeiten nur schwer möglich ist. Ein Text hingegen kann auf vielen miteinander verwobenen Ebenen komplexe Zusammenhänge, Charakterbeschreibungen und Analysen transportieren. Den qualitativen Unterschied der Darstellungsformen spürt jeder, der große Erwartungen in die Verfilmung seines Lieblingsromans setzt: Sie werden nur selten erfüllt.
Zur Kenntnis zu nehmen, dass Lesen und Schreiben immer noch eine hohe Bedeutung haben, muss nicht heißen, dass man den enormen Einfluss der neuen Technologien auf das, was und wie Kinder heute lernen, verneint. Es bedeutet auch nicht, dass wir den aufregenden technischen Fortschritt und wie er die Imaginationen, Horizonte und Fähigkeiten der Kinder erweitern kann, ignorieren sollten. Dennoch: Das Lernen der traditionellen Fähigkeiten Lesen und Schreiben ist und bleibt so kompliziert wie zentral: Wer diese Hürde nimmt, hat die Fähigkeit, alle weiteren Kompetenzen zu erlangen.