01.01.2001

Pille, Sex und Fun

Von Carl Djerassi

Auszug aus dem fünften Kapitel von Carl Djerassis neuen Buch This man's Pill.

Sex und Unsterblichkeit

Im Rahmen der Übergangsriten in ein neues Jahrtausend bat eine große deutsche Tageszeitung eine bunt gemischte Gruppe von Personen, darunter auch mich, um einen Beitrag zum Thema „Unsterblichkeit“. Der reizvolle Begleitsatz: „Sie können schreiben, was Sie wollen“ war für mich so verlockend, daß ich einwilligte, bevor mir klar geworden war, wie selten ich eigentlich über dieses Thema nachgedacht hatte. Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod, also kommt Unsterblichkeit im ursprünglichen Sinn in meinem Buch des Lebens auch nicht vor. Aber ich brauchte nicht lange, um zu erkennen, daß die menschliche Sehnsucht nach Unsterblichkeit sich auf vielerlei Art und Weise manifestiert. So könnte ich zum Beispiel ohne weiteres darlegen, daß dieses Verlangen bei vielen in der Forschung tätigen Naturwissenschaftlern durch die Wertvorstellungen unserer Stammeskultur stimuliert wird. Warum wären wir sonst so besessen von namentlicher Anerkennung und dem Drang, unter unserem eigenen Namen zu publizieren? Warum sonst so darauf fixiert, der erste zu sein? Ich gebe unumwunden zu, daß ich liebend gern meine eigenen Nachrufe lesen würde – liebend gern Mäuschen spielen würde, um heimlich zu verfolgen, was andere über mich sagen. Tatsächlich habe ich diese Phantasievorstellung so ausgesponnen, daß daraus ein ganzer Roman wurde, der unter dem Titel Marx, verschieden erschienen ist.

I

Wie die meisten Menschen habe ich Unsterblichkeit auch auf einer wesentlich fundamentaleren Ebene angestrebt: indem ich mich fortpflanzte und dadurch den Fortbestand meines genetischen Rüstzeugs über meine eigene Generation hinaus sicherte – dabei jedoch vorübergehend die grundlegende biologische Tatsache vergaß, daß diese „genetische Unsterblichkeit“ nur partieller Art ist. Selbst wenn man spontane Mutationen außer acht läßt, schafft das nur die Hälfte unserer eigenen DNA; schlimmer noch, um dieses Ziel überhaupt zu erreichen, bedarf es zudem der DNA eines anderen, und niemand kann wissen, welche Allele anderen untergeordnet sein werden. Aber ist das nicht genau der Grund, weshalb die Menschen immer vom Stammbaum und dem Fortbestand des Familiennamens sprechen und weshalb die meisten lieber eigene biologische Nachkommen haben wollen, statt Kinder zu adoptieren? Das Reizvolle daran – der Wunsch, dafür zu sorgen, daß unser physisches Ich wiedergeboren wird, daß unser exaktes genetisches Duplikat eine zweite oder dritte oder eine sich endlos wiederholende Chance auf Leben erhält – ist nicht schwer zu verstehen: Wer von uns hat sich noch nie eine zweite Chance gewünscht, einen nützlichen, absolut verläßlichen Doppelgänger?

Aber vielleicht ist die Angst tiefer in uns Menschen verwurzelt: Das Wort „Doppelgänger“ beschwört die Furcht vor dem Unheimlichen herauf, vor der endlosen Wiederholung des Zauberlehrlings, auch wenn diese Furcht die Definition des Individuums, die Basis unserer Identität, untergräbt. Ist das nicht der wahre Grund, weshalb erfolgreiches Klonen auf uns eine ungeheure Anziehungskraft ausübt und uns gleichzeitig ungeheure Angst einflößt? Die Angst, daß mein Doppelgänger, obwohl er alle meine Gene in sich trägt, seinen eigenen Weg gehen könnte, um mich dafür zu bestrafen, daß ich ihn mit meinem egoistischen genetischen Ballast befrachtet habe?

Von wenigen Ausnahmen abgesehen, paaren sich die Millionen von Arten dieser Erde, von den Insekten und Reptilien bis zu den Vögeln und Säugetieren, um sich fortzupflanzen. Was wir dabei schaffen, ist jedoch nicht in erster Linie eine Fortführung unserer selbst: Es ist lediglich eine Fortführung der Art. Was nach Unsterblichkeit strebt, ist nicht das Individuum – diese Ambition steht noch nicht in unserer Macht –, sondern das Genom. Dieser einfache Chromosomensatz, und nicht die spezielle Kombination aus brünettem Haar und braunen Augen, Musikalität und Unsportlichkeit, ist der ultimative Nutznießer der ganzen schweißtreibenden Anstrengungen im dunklen Kämmerlein. Das Genom ist nicht durch eigenes Wissen geprägt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wissen außer dem Menschen die meisten Männchen in der Natur überhaupt nicht, wer ihre Nachkommen sind, bzw. haben die Väter bei den meisten Arten etwas mit der Aufzucht der nächsten Generation zu tun.

Nicht so beim Homo sapiens. Der Wunsch, Eltern zu sein, wird in hohem Maße von einer tiefen, persönlichen Assoziation mit den eigenen Kindern angespornt, ja sogar von einer obsessiven Identifikation mit ihnen. Man braucht nicht viel Phantasie, um diesen Wunsch mit dem Wunsch nach einer Form von Unsterblichkeit in Verbindung zu bringen. Wenn wir diesen Zusammenhang erkennen, dann erhalten viele der herkömmlichen Bemühungen, die Sexualität zu regulieren, eine neue Bedeutung.

Um biologische Eltern zu werden, war bis vor kurzem unweigerlich die erfolgreiche Befruchtung der Eizelle einer Frau mit dem Spermium eines Mannes mittels Geschlechtsverkehr erforderlich. Viele Religionen, allen voran die katholische, erklären kategorisch, daß der Geschlechtsverkehr nicht nur monogam zu sein hat – so daß sich die biologische Identität der Nachkommenschaft klar bestimmen läßt –, sondern auch, daß er nur dann sanktioniert ist, wenn er formal der Fortpflanzung dient. Das Judentum dagegen, das sich zu Identifikationszwecken auf die Mutter statt auf den Vater bezieht, erkennt damit stillschweigend an, daß die Vaterschaft nicht immer gesichert ist. Doch diese Versuche, die Identität der Nachkommenschaft zu bestätigen, sind nicht das einzige, was unsere traditionelle Sexualethik bestimmt: Es erklärt beispielsweise nur ansatzweise die Ablehnung der Empfängnisverhütung seitens der katholischen Kirche, was sich gelegentlich auf das Gebot reduzieren läßt: „Du sollst nicht Sex nur zum Vergnügen haben.“

Den überwiegenden Einfluß der vergnüglicheren Aspekte des Sex zu leugnen wäre jedoch unlogisch. Die Kirche ist nicht gegen „natürliche Familienplanung“, also gegen Geschlechtsverkehr während der Phasen des Menstruationszyklus einer Frau, in denen sie unfruchtbar ist, weil der Eisprung bereits stattgefunden oder noch nicht stattgefunden hat. Das kirchliche Gebot wäre damit etwas subtiler und etwa so zu verstehen: „Du sollst nicht Sex nur zum Vergnügen haben, sofern nicht ein gewisses Risiko einer Empfängnis besteht.“ Es war in erster Linie die Unsicherheit, die unfruchtbaren Tage im Monatszyklus einer Frau exakt vorherzusagen, die dieser Form von „natürlicher Familienplanung“ den Beinamen „Vatikanisches Roulette“ eintrug. Doch heute, da neue biochemische Verfahren auf den Markt kommen, die es den Frauen erlauben, mit fast absoluter Sicherheit die fruchtbaren Tage ihres Menstruationszyklus zu bestimmen, wird diese „auf Hormonen basierende natürliche Familienplanung“ schlicht zu einer anderen Form von bewußter Empfängnisverhütung. Warum hat die katholische Kirche sie dann bis jetzt nicht verboten? Etwa deshalb, weil die relativ hohe Versagerrate nicht auf die inhärente Unzuverlässigkeit derartiger Hormontests zurückzuführen ist, sondern vielmehr auf menschliche Schwäche: die mangelnde sexuelle Disziplin der Paare, während der „unsicheren“ Phase des Menstruationszyklus auf intravaginalen Geschlechtsverkehr zu verzichten?

Es gibt noch andere interessante religiöse Ausnahmen im Falle der angeblich ausschließlich reproduktiven Funktion des Geschlechtsaktes. (...)

Oder nehmen wir den Mann, dessen Ejakulat ein bis drei Millionen Spermien statt der üblichen 50 bis 150 Millionen enthält. Einige Millionen Spermien hören sich nach sehr viel an, reichen aber nicht aus, um eine normale Befruchtung zu bewirken. Diese Männer leiden an schwerer Oligospermie und sind funktionell fortpflanzungsunfähig. Mittlerweile ist es jedoch möglich, mittels verschiedener Arten von künstlicher Insemination das Ei einer Frau mit dem Sperma ihres funktionell fortpflanzungsunfähigen Ehemannes zu befruchten, vorausgesetzt, sein Sperma wird zuvor in einem Kondom gesammelt – was z. B. frommen orthodoxen Juden absolut verboten ist. „Du sollst deinen Samen nicht vergebens vergießen“ – das poetisch formulierte Verbot der Masturbation – ist die Ursache, weshalb Kondome bei orthodoxen Juden verpönt sind. Doch wie die meisten Religionen tritt auch das Judentum für die Fortpflanzung ein, und so fand vor einiger Zeit ein Oberrabbiner in Israel einen Kompromiß von geradezu salomonischer Weisheit: Er machte mit einer Stecknadel ein Loch in ein Kondom, so daß eine geringe Menge Samen durch die winzige Öffnung austreten konnte, wodurch theoretisch die Möglichkeit einer Befruchtung gegeben war, während mehr als 90% des Samens für eine darauffolgende künstliche Befruchtung zurückgehalten wurden.

Aber was immer auch die Unsicherheiten und Widersprüche sein mögen, die sich aus dem gespannten Verhältnis zwischen überlieferter Religion und moderner Naturwissenschaft ergeben, das Grundmuster liegt klar auf der Hand: Indem die Religion die Fortpflanzung über die Sexualität stellt und indem sie gewährleistet, daß die Nachkommenschaft tatsächlich das genetische Material der Eltern an die nächste Generation weitergibt, erfüllt sie schlicht eine ihrer zentralen Funktionen, nämlich Unsterblichkeit in Aussicht zu stellen. Aber muß diese genetische Funktion mit Sex verbunden sein? Einige der aufsehenerregendsten Entwicklungen in der modernen Naturwissenschaft und die gesellschaftlichen Veränderungen, die sie begleiten, haben den historisch unbestrittenen Zusammenhang zwischen Sex und Reproduktion aufzulösen begonnen. In letzter Konsequenz wird diese völlige Trennung weitreichende Folgen haben, und nicht die geringste davon wird unsere Fähigkeit sein, über den wahren Charakter unserer Unsterblichkeit zu bestimmen.

II

Um dieses erhabene Ziel zu erreichen, müssen wir weiter unten ansetzen und zunächst feststellen, daß keine Art auf der Erde so sexy ist wie der Mensch. Von den abermillionen Arten haben nur wir Sex zum Vergnügen. Nur wir – und vielleicht einige andere wie der Zwergschimpanse (Bonobo) – sind fähig und bereit, 365 Tage im Jahr Sex zu haben. Bei allen anderen Arten ist die Kopulation jahreszeitlich bedingt und steht in direkter Beziehung zum optimalen Zeitpunkt der Befruchtung und der Aufzucht der Nachkommenschaft. Roger V. Short und anderen Reproduktionsbiologen zufolge ist die Tatsache, daß der Mensch das sexieste Tier auf Erden ist, für die außergewöhnliche Größe (bezogen auf die Körpergröße) des erigierten Penis des Mannes verantwortlich. Man braucht ihn nur mit dem Penis eines Gorillas zu vergleichen, der ungefähr die Größe eines menschlichen Daumens aufweist. Warum sollten wir ein so absurd dickes, geschwelltes Ding benötigen, um Spermien in die Scheide einer Frau zu befördern – was doch angeblich die einzige biologisch signifikante reproduktive Funktion des Penis ist?

Nun, dazu bestimmt nicht. Ein dünnes, pipettenartiges Glied würde den Zweck ebenso erfüllen, wenn nicht sogar besser. Roger Short führt an, daß ein dicker, fester Penis mehr Genuß für die Partnerin bedeutet, die diesbezüglich besser ausgestattete Männer vermutlich als Partner bevorzugt. Die revolutionäre Selektion begünstigte folglich Männer mit größeren, dickeren Penissen. Falls dieses Argument zutrifft, könnte man daraus den Schluß ziehen, daß die sexuelle Befriedigung der Frau zu einer der Determinanten der natürlichen Auslese wird und daß die Befriedigung zusätzlich zur Fertilität die weibliche Empfänglichkeit bestimmt, die wiederum die Häufigkeit und zeitliche Steuerung des menschlichen Sexualverhaltens bestimmt.

Aber Sie müssen mir keineswegs aufs Wort glauben, nicht, wenn so viele Zahlen vorliegen, die mehr aussagen, als Worte es je könnten. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) finden alle 24 Stunden über 100 Millionen Geschlechtsakte statt, die zu etwa einer Million Empfängnissen führen, von denen 50% ungeplant und 25% ungewollt sind. Die letztgenannte Zahl – 250.000 ungewollte Empfängnisse pro Tag – wiederum ist dafür verantwortlich, daß alle 24 Stunden über 150.000 Abtreibungen stattfinden, von denen 50.000 illegal sind und jeden Tag den Tod von 500 Frauen zur Folge haben. Diese Zahlen verraten weder, welche Anstrengungen vorher unternommen wurden, um eine Empfängnis zu verhindern, noch sagen sie etwas darüber aus, ob der Geschlechtsverkehr ungewollt war oder ob er unter Alkohol- oder Drogeneinfluß stattfand. Auch ohne Kenntnis dieser Zahlen steht fest, daß die Fortpflanzung dabei nicht die alleinige treibende Kraft ist. Wenn ein Viertel der Empfängnisse, die stattfinden, ungewollt ist (und das trotz einer Ideologie, die so nachdrücklich für die Fortpflanzung eintritt), und zwar so ungewollt, daß Frauen das Risiko einer Strafverfolgung, ja sogar den Tod in Kauf nehmen, nur um die Schwangerschaft in vollen 60% der Fälle zu beenden, dann hat zweifellos ein beachtlicher Prozentsatz dieser 100 Millionen Geschlechtsakte pro Tag herzlich wenig mit Fortpflanzung zu tun oder dem Wunsch, die Art zu erhalten.

Die Möglichkeit, durch allgemeine Anwendung bewußter Geburtenkontrolle Sex zu haben, ohne reproduktive Konsequenzen befürchten zu müssen, ist noch keine hundert Jahre alt (auch wenn in der Geschichte genügend Rezepte überliefert sind, wie dieses Ziel zu erreichen ist). Die eigentliche Verwirklichung von „Sex for Fun“ fand erst vor etwa vierzig Jahren mit der Einführung der Pille und des Intrauterinpessars statt, die zum ersten Mal den Geschlechtsakt völlig von der Empfängnis trennten. Frauen, die sich dieser Mittel bedienten, waren vorübergehend unfruchtbar und konnten sich daher ohne Angst vor einer unbeabsichtigten Schwangerschaft dem sexuellen Genuß hingeben. All die abermillionen Paare, die diese Art von Geschlechtsverkehr pflegten, taten dies ohne jedes Verlangen nach reproduktiver Unsterblichkeit. Im Prinzip wurde die Entscheidung, sich fortzupflanzen, für Millionen von Paaren zu einer bewußt gewählten Alternative und nicht mehr zu einer Form von reproduktivem Glücksspiel.

Aber um die völlige Trennung von Sex und Befruchtung zu erreichen, bedarf es zweier Komponenten. Die erste ist eine wirksame Kontrazeption: quasi die Garantie, beim Geschlechtsverkehr kein neues Leben zu schaffen. Damit allein ist aber noch keine völlige Entkoppelung von Sex und Fruchtbarkeit erreicht, denn um zu reproduzieren, muß man sich noch immer paaren. Jedenfalls war das bis vor kurzem so. Die zweite Komponente ist das genaue Gegenteil der ersten: ohne Geschlechtsverkehr neues Leben zu schaffen. Diese Möglichkeit war durch die immer häufigere Anwendung von künstlicher Befruchtung gegeben, bei der man Millionen von Spermien in die Vagina einer Frau injiziert, statt in situ auf die penile Ejakulation zu vertrauen. Diese Low-Tech-Methode mittels einer Injektionsnadel oder auch einer simplen Spritze gelangte 1978 in England durch die Geburt von Louise Joy Brown zu höchster technischer Perfektion. Louise wurde unter einem Mikroskop empfangen, wo das Ei ihrer Mutter mit dem Sperma ihres Vaters befruchtet wurde; nach zwei Tagen wurde das befruchtete Ei wieder in die Gebärmutter ihrer Mutter eingeführt, und nach einer ansonsten völlig konventionellen Schwangerschaft wurde neun Monate später ein gesundes Mädchen geboren. Dieses Verfahren, das seither unter dem Namen In-vitro-Fertilisation (IVF) bekannt ist, wurde inzwischen mehrere hunderttausend Mal angewendet und führte zur Geburt ebenso vieler IVF-Babys.

Als Steptoe und Edwards IVF im Jahre 1977 entwickelten, machten sie sich nicht bewußt daran, die Trennung von Sex und Fortpflanzung zu ermöglichen. Genau wie anderen Klinikern ging es ihnen um die Behandlung von Infertilität. Infertilität ist selbst ein ethisch befrachtetes Thema. Offen und brutal gesagt: Warum sollte man Infertilität überhaupt behandeln? Global gesehen gibt es ohnehin zu viele fruchtbare Eltern und folglich zu viele Kinder, von denen viele ungewollt sind. Der Lauf der Weltgeschichte wird sich nicht ändern, wenn kein einziger Fall von Infertilität je behandelt wird, aber er wird sich dramatisch ändern, wenn exzessive menschliche Fertilität nicht in Schach gehalten wird. Aus persönlicher Sicht dagegen ist der Drang, eigene Kinder zu haben, oft übermächtig. Unfruchtbare Paare sind bereit, enorme Opfer finanzieller, psychischer wie auch physischer Art auf sich zu nehmen, um selbst dann, wenn die Natur es unmöglich macht, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen. Es stellt sich daher die Frage, ob die Verwirklichung des Kinderwunsches biologisch unfruchtbarer Paare einen ethischen Imperativ beinhaltet – pro oder kontra.

III

Die ungeheuren ethischen Dimensionen dieses Problems werden deutlicher, wenn wir uns mit der Unfruchtbarkeit beim Mann befassen. Diese Thematik wurde 1992 angesprochen, als eine Forschergruppe (Palermo, Joris, Devroey und van Steirteghem) in Belgien einen sensationellen Artikel veröffentlichte, in dem sie von der Geburt eines gesunden Jungen berichtete, der von einem Mann mit schwerer Oligospermie (starker Verminderung der Spermienzahl) gezeugt worden war. Dieses Kind wurde durch die Erfindung einer IVF-Technik namens „ICSI“ (intracytoplasmatische Spermieninjektion) möglich, bei der ein einzelnes Spermium unter dem Mikroskop direkt in eine menschliche Eizelle injiziert wird. Während die Eizelle bei dem ursprünglichen englischen IVF-Verfahren mit Millionen von Spermien überschwemmt wurde (wie beim normalen Geschlechtsakt), wurde die künstliche Befruchtung mittels ICSI mit einem einzigen Spermium erreicht. Die Technologie, die diese Art der Befruchtung ermöglicht, führt zu einer völlig neuen Definition des Begriffs Unfruchtbarkeit: ICSI kann nicht nur bei Männern mit geringer Spermienzahl angewendet werden, sondern auch bei Männern, die überhaupt keine reifen Spermien haben.

Diese Männer leiden an einer ererbten Form von totaler Infertilität, bekannt als „kongenitales bilaterales Fehlen des Samenleiters“. Der Samenleiter ist der Gang, der die Hoden mit der Harnröhre verbindet, und das Organ, in dem das Sperma gelagert und dann zur Harnröhre transportiert wird, um bei der Ejakulation ausgestoßen zu werden. Ohne Samenleiter ist kein Sperma zur Befruchtung einer Eizelle vorhanden; ein Mann mit diesem Status kann verständlicherweise nie durch Geschlechtsverkehr Vater werden. Es gilt jedoch zu beachten, daß die Barriere, die die Fruchtbarkeit verhindert, in diesem Fall nicht unüberwindlich ist. Tatsächlich besitzen selbst unreife Spermien das gesamte genetische Material, das erforderlich ist, um das genetische Erbe eines Mannes an die Nachwelt weiterzugeben. Was fehlt, sind die Maschinerie der Mobilität und die Enzyme, die die Membran der Eizelle durchdringen, da diese während des Reifungsprozesses erworben werden. Bei ICSI dagegen kann die Maschinerie des Labors liefern, was den Spermien fehlt: Man kann unreifes Sperma direkt aus den Hoden entnehmen und seine DNA unter dem Mikroskop in eine Eizelle injizieren. Befruchtungen dieser Art wurden bereits durchgeführt; zahlreiche Männer sind dadurch mit Erfolg Vater geworden! Aber ist das akzeptabel? Hat ein unfruchtbarer Mann das Recht, zu verlangen, daß ihm diese Reproduktionstechnologie zugänglich gemacht wird? Und kommt es darauf an, welche Motive dieser Forderung zugrunde liegen? Ist es ein Unterschied, ob wir uns vorstellen, daß wir über das Schicksal eines Kindes bestimmen – eines Beteiligten, gewiß, aber doch einer Person, deren Bedürfnisse gar nicht existieren außer als Folge unserer Entscheidung – oder ob wir schlicht das Verlangen eines Menschen befriedigen, Unsterblichkeit zu erlangen? Und ändert sich etwas an der Sachlage, wenn wir bedenken, was wir hier eigentlich tun – daß wir nämlich das Unvererbbare (d. h. genetische Infertilität) vererbbar machen?

Es geht hier um mehr als ethische Haarspalterei. In einem von vier Fällen von kongenitalem bilateralem Fehlen des Samenleiters trägt der Mann auch das Gen für Mukoviszidose in sich. Mit ICSI kann man sich ein Szenario vorstellen, bei dem die betroffenen Männer sowohl Infertilität als auch Mukoviszidose an ihre Nachkommen weitergeben, was das Schreckgespenst heraufbeschwört, daß nachfolgende Generationen ICSI benötigen, um ihre genetische Unsterblichkeit fortzupflanzen – eine Unsterblichkeit, die durch eine Krankheit gefährdet ist, die zu einem langsamen, frühen Tod führt.

Das erste ICSI-Baby ist erst zehn Jahre alt, doch in diesem Zeitraum wurden schon über 10.000 ICSI-Babys geboren. Ich finde, daß die Fragen, die diese Technik aufwirft, breitere Erörterung verdienen, als es der traditionelle Rahmen eines Zeitungsartikels oder eines akademischen Vortrags gestattet. Darum habe ich diese Thematik in einem Theaterstück mit dem Titel Unbefleckt behandelt. (...)

ICSI wirft noch andere ethische und soziale Probleme auf (...); z. B., daß – seit das Sortieren von Y- und X-Chromosomen tragenden Spermien perfektioniert wurde – ICSI es den Eltern ermöglicht, das Geschlecht ihres Kindes mit 100prozentiger Sicherheit zu wählen. Bei einem Paar mit drei oder vier Töchtern, das unbedingt einen Sohn will, könnte die Fähigkeit, sich das Geschlecht des Kindes auszusuchen, sogar positive Folgen für die Gesellschaft haben, aber was ist, wenn davon in Kulturen (wie China oder Indien) Gebrauch gemacht wird, in denen ein Junge fast immer einem Mädchen vorgezogen wird? Noch komplizierter sind die Fragen, die sich durch die Vorherbestimmung des Geschlechts aus medizinischen Gründen ergeben. Wie würden Sie die Ethik des folgenden konkreten Eingriffs beurteilen, der im Jahre 2000 vorgenommen wurde?

Hämophilie, die Bluterkrankheit, wird durch die Mutter übertragen, was bedeutet, daß männliche Bluter die Krankheit nicht an ihre Kinder weitergeben, daß aber die Töchter von Blutern Überträgerinnen der Krankheit sind und sie ihren eigenen Söhnen vererben. In Spanien beschloß eine betroffene Familie, nur männliche Embryonen zur In-vitro-Fertilisation zu verwenden, um das Risiko auszuschließen, daß ihre eventuellen Enkelkinder die Bluterkrankheit bekamen. Dadurch wurde eine Generation übersprungen und die Krankheit in dieser Familie ausgerottet.

Wie steht es, abgesehen von der Vorherbestimmung des Geschlechts, mit der Fähigkeit, das Sperma eines gerade erst verstorbenen Mannes zu konservieren (sagen wir 24 – 30 Stunden post mortem), um Monate oder sogar Jahre später (mittels ICSI) ein gesundes Kind zu zeugen – ein Ziel, das bereits erreicht wurde? Das ist Unsterblichkeit auf die Spitze getrieben. Aber was ist mit dem Produkt einer solchen technologischen Glanzleistung? Die Verwendung von eingefrorenen Samen- und Eizellen verstorbener Eltern würde bereits unter dem Mikroskop Waisenkinder entstehen lassen. Eine groteske Vorstellung – aber braucht es wirklich viel Phantasie oder Mitgefühl, sich Umstände auszumalen, unter denen eine Witwe den Samen ihres geliebten verstorbenen Ehemannes benutzen könnte, um ihrer beider einziges Kind zu haben? Oder was ist mit unserer närrischen Tierliebe? Wohlhabende Hundeliebhaber haben schon das Sperma ihres kleinen Lieblings konservieren lassen, um nach dessen Tod möglichst exakten Ersatz zu schaffen. Von einem dieser posthum gezeugten Hunde hieß es in der New York Times, er sei „wirklich und wahrhaftig unser kleiner Prinz, und er sieht genauso aus wie sein Vater“. Diesem Artikel zufolge sollte alsbald auch das Sperma des „kleinen Prinzen“ eingefroren werden, um die Nachfolge des Vierbeiners sicherzustellen.

Hier handelt es sich im Grunde um Grauzonen; die Technologie nimmt eine mehrdeutige Position ein, da sie uns befähigt, unsere positiven wie negativen Impulse umzusetzen, doch Naturwissenschaftler und Technologen können nicht die Antworten liefern. Das abschließende Urteil muß die Gesellschaft fällen, und das ist, im Falle von Sex und Fortpflanzung, das betroffene Individuum selbst. In letzter Konsequenz ist dieses Individuum das Kind, doch die Entscheidung muß vor seiner Geburt von den Eltern getroffen werden – oder nur von einem Elternteil, was häufiger der Fall ist, als wir zugeben wollen.

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