23.07.2012
Panik triff auf Furcht
Analyse von Patrick Hayes
Zwei Übel: Rauchen und Terrorismus. Beide scheinen das Denken der Behörden im Großbritannien des 21. Jahrhunderts geradezu obsessiv zu beherrschen. In einer bizarren Karambolage der Furcht sind sie im Vorfeld der Olympischen Spiele in London aufeinandergeprallt.
Während das Tabakrauchen in geschlossenen Räumen und Arbeitsstätten Großbritanniens verboten ist, besteht kein derartiges Verbot der Benutzung von E-Zigaretten (elektronische Zigaretten). Allerdings ist die Anti-Raucher-Hysterie dermaßen ausgeprägt, dass manche auch ihre E-Zigaretten lieber heimlich und etwas unbeholfen konsumieren. Dies war auch der Fall, als Anfang Juli ein Reisebus der Firma Megabus auf der Autobahn M6 unterwegs war. Tatsächlich stellte sich der „Dampfer“ in diesem Bus vor lauter Bestreben, keine Aufmerksamkeit zu erregen, dermaßen ungeschickt an, dass er den Wasserdampf von seinem Gerät in eine Plastiktüte leitete. Diese Vorsichtsmaßnahme ging – wahrscheinlich in Verbindung mit seinem asiatisch anmutenden Äußeren – drastisch nach hinten los. Denn ein Mitpassagier geriet dermaßen in Panik, dass er gleich die Polizei rief.
Diese Tatsache an sich spricht bereits Bände über die Entfremdung, die heutzutage zwischen Menschen im öffentlichen Raum herrscht. Denn es kam dem Informanten nicht in den Sinn, etwa den „Dampfer“ zu fragen, was er da denn eigentlich tue, oder einfach den Fahrer oder einen seiner Mitreisenden darauf anzusprechen. Stattdessen ging er wohl einfach davon aus, dass der „Dampfende“ etwas Schreckliches vorhaben müsse und womöglich dabei sei, in einem Bus auf der Autobahn eine Bombe vorzubereiten (was Terroristen ja regelmäßig tun, versteht sich). Somit folgte er den allgegenwärtigen Aufforderungen der Polizei zu mehr „Wachsamkeit“ und rief diese von seinem Handy aus an.
Trotz, vielleicht aber auch wegen der Unklarheit in der Meldung des Passagiers, entschloss sich die paranoide Staatsgewalt, keinerlei Risiko einzugehen. In den Worten eines Polizeisprechers erfolgte die Reaktion auf „schnelle und verhältnismäßige“ Art. Diese „verhältnismäßige“ Reaktion umfasste das Losschicken von 25 Polizeiwagen und -transportern, 13 Feuerwehrfahrzeugen, vier Ambulanzen, Bombenräumtrupps sowie echten Militärpersonals. Selbst ein Dekontaminierungstrupp wurde in Marsch gesetzt für den Fall, dass sich auf der M6 gerade ein Angriff mit schmutzigen Kernwaffen abspiele.
Die Autobahn M6 wurde sechs Stunden lang gesperrt, während die 48 Passagiere des Reisebusses mit vorgehaltener Waffe aus dem Bus geholt und durchsucht wurden. Einige Passagiere zeigten Verständnis für die Polizei, andere sagten aus, sie hätten befürchtet, „bei der geringsten falschen Bewegung erschossen zu werden“.
Berücksichtigt man das fiebrige Klima, das die Überreaktionen des Amtsapparats auf terroristische Bedrohungen standardmäßig hervorbringt, dann sind derartige Bedenken mit Sicherheit nicht unbegründet (man denke nur an die Erschießung von Jean Charles de Menezes in der U-Bahn-Station Stockwell in London kurz nach den Anschlägen vom Juli 2005). Allerdings gibt es auch Stimmen, die das Vorgehen der Polizei auf der M6 verteidigen. Sie weisen darauf hin, dass man im Vorfeld der Ende Juli beginnenden Olympischen Spiele in London die nationale Sicherheit verschärfen müsse, und es allemal besser sei, auf Nummer sicher zu gehen.
Doch sollten wir den Behörden wirklich ein dermaßen blindes Vertrauen schenken? In einem Ausmaß, dass wir es nicht einmal zu kritisieren wagen, dass man eine Hauptverkehrsader der englischen Midlands sechs Stunden lang sperrte, was Zehntausenden Unannehmlichkeiten bereitete – einzig und alleine wegen einer E-Zigarette? Was kommt als Nächstes? Wird man die ganze Olympiade abbrechen, weil irgendjemand im Publikum ein bisschen Wasserdampf absondert? Offensichtlich sind versteckte E-Zigaretten nur eine von vielen potentiellen Bedrohungen Großbritanniens und der Londoner Spiele 2012. Risikoscheue Behörden haben in ihren Planungen im Vorfeld der Spiele mit großem Eifer alle möglichen Katastrophenszenarien durchgespielt. Sie reichen von einem Feuerüberfall „à la Mumbai“ auf die Segelwettbewerbe in Dorset bis zu „möglichen Luftangriffen durch fanatische Al-Qaida-Anhänger“. Die Öffentlichkeit wird man natürlich zu Wachsamkeit gegenüber allem Erdenklichen aufrufen, was nur im allergeringsten nach Terrorismus aussieht oder sich anhört. Bedenkt man, dass die Behörden zur Abwehr terroristischer Bedrohungen Flugabwehrraketen in Teilen Londons stationieren, fragt man sich durchaus, was bei künftigen Fehlalarm-Szenarien so alles passieren könnte. Allerdings scheint der zitterige Finger des Behördenapparats am Abzug von Flugabwehrraketen, sowie dessen Befugnis, je nach Laune bewaffnete Armeetruppen loszuschicken, eine größere Bedrohung für die Sicherheit und Atmosphäre der Olympiade zu sein, als es jede Fanatikerbande sein könnte.
Der Vorfall auf der M6 bestätigt, dass die Politik der Angst für das heutige Sozialgefüge eine größere Gefahrenquelle ist, als es winzige Gruppen gewaltbereiter Individuen jemals sein könnten. Es ist die Furcht des Amtsapparats vor seinem eigenen Schatten, die das Leben in Teilen Großbritanniens an einem eigentlich ganz normalen Arbeitstag lahmgelegt hat, und es ist die Kultur der Panik, die von unseren politischen Führern dermaßen verinnerlicht wurde, dass ihre irrationalen Ängste schon jetzt einen Schatten auf die beginnenden Olympischen Spiele werfen. Das wahre Katstrophenszenario wäre, wenn keiner dieser lähmenden Kultur der Furcht in den nächsten Wochen widersprechen würde.