01.04.2004

Ohne Überzeugung geht es halt nicht

Analyse von Sabine Reul

Eine Analyse zum aktuellen Stand der Reformdebatte.

Der Rücktritt Gerhard Schröders als Parteivorsitzender der SPD markiert ohne Zweifel einen Wendepunkt im rot-grünen Regierungsprojekt. Ob er unbedingt gleich die von der Opposition schadenfroh ausgerufene „Kanzlerdämmerung“ signalisiert, ist offen. Schließlich stehen 14 Wahlen ins Haus. Da lässt sich die Übertragung des Parteivorsitzes auf den bisherigen Fraktionsvorsitzenden Franz Müntefering auch einfach als kluge Maßnahme werten. Der beliebte Funktionär soll sich ganz der Aufgabe widmen, die durch die sozialen Einschnitte und Flickschustereien der letzten Monate arg in Unruhe versetzte Parteibasis in den Griff zu bekommen. Die Regierungspolitik konzentrierte sich 2003 ganz auf die Suche nach einem parteiübergreifenden Konsens für die dringendsten Maßnahmen zur Stabilisierung der Staats- und Sozialhaushalte. Nun ist es offenbar höchste Zeit, das Verhältnis zur eigenen Parteibasis zu kitten, sollen die SPD und insbesondere ihre großen Landesverbände, aus denen im Februar sogar reihenweise Rücktrittsforderungen an Gerhard Schröder einliefen, nicht völlig zerzaust in die bevorstehenden Wahlkämpfe ziehen.

„Die politische Kultur in Deutschland ist für eine wirklich zielgerichtete Neubestimmung der Gesellschaftspolitik wohl noch nicht gerüstet.“

Die Ereignisse seit Jahresbeginn zeigen, wie stark die Orientierungskrise der Politik inzwischen an die Substanz geht. Das ist keineswegs nur ein Problem der SPD. Die Häme, mit der die Opposition die Führungskrise der Kanzlerpartei goutiert, dürfte sich über kurz oder lang als unbesonnen erweisen. Die Unionsparteien – von der FDP ganz zu schweigen – bieten wohl kaum ein überzeugendes oder geschlossenes Bild. Nur ist die SPD von der Entfremdung zwischen politischen Eliten und Wählerschaft derzeit am direktesten betroffen. Das liegt zum einen daran, dass sie weiter gegangen ist als andere – und als Regierungspartei auch gehen musste –, um die Leitlinien der Gesellschaftspolitik neu zu bestimmen. Zum anderen hat sie mit dem Zurückfahren sozialstaatlicher Versorgungsnetze gerade jene heiligen Kühe schlachten müssen, die für ihr Selbstverständnis als sozialdemokratischer Partei stets essenziell gewesen sind. Dass die Unionsparteien die Regierung mit Forderungen nach mäßigeren Einschnitten – so unter anderem bei der Reform der Kranken- und Sozialversicherung – immer wieder links überholen, sich also an der Seite der beunruhigten Volksseele und implizit auch der SPD-Basis gegen die Regierung stellen, hat den Druck auf die SPD nicht gerade gelindert.
Trotzdem muss sich die SPD die Schuld an der nun eingetretenen Krise selbst zurechnen, denn sie pflegt eine politische Kultur, die dem Missmut, mit dem die öffentliche Meinung ihre Reformvorhaben quittiert, laufend frische Nahrung liefert. Die letzten Wochen waren in dieser Hinsicht wieder bezeichnend: Zum Jahresende ging ein spürbares Aufatmen durch das Land. Die Einigung über die ersten Sozial- und Arbeitsmarktreformen im Vermittlungsausschuss des Bundestages und die Ankündigung, man werde nun auf Innovationen in Bildung, Forschung und Technologieentwicklung setzen, weckten die Hoffnung, die Regierung wolle nun endlich positive Reformziele angehen. Doch schon zum Neujahrsabend blies Schröder zum Halali gegen steuerflüchtige Milliardäre. Das war wieder genau eine jener Gesten, mit der die Regierung immer wieder Eigentore schießt. Sie sollen offenbar daran erinnern, dass die soziale Gerechtigkeit beim Kanzler trotz allem in guten Händen ist, erzeugen in Wirklichkeit aber ganz andere Effekte. Sie setzen all jene, die sich mit Vernunft und Elan den Herausforderungen der Zeit stellen wollen, schachmatt und fördern stattdessen jenen Komplex aus Opfermentalität und subalternen Neidaffekten, der den Bürger so definiert, wie er doch gerade nicht mehr sein soll: als passiven Dummbeutel. Offenbar versteht man an der SPD-Spitze noch immer nicht, dass man mit solchen Appellen an kümmerliche rest-sozialdemokratische Bewahrungsaffekte die eigene Reformagenda laufend konterkariert.
Der Bundeskanzler lieferte dieses Mal das Stichwort für alle, die schon bereitstanden, wie geifernde Hyänen über die gerade verkündete Innovationsoffensive der Regierung herzufallen. Wer Bildungseliten fordert und gleichzeitig dumpfe Affekte gegen die Bewohner der Villen und Vorstandsetagen schürt, darf sich nicht wundern, wenn ihm der Laden um die Ohren fliegt. Direktes Opfer der so erzeugten Stimmungslage wurde dann der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Florian Gerster. Er wurde am Ende einer beispiellosen Hetzkampagne unter eifriger Mitwirkung der gesamten Medienlandschaft aus dem Amt gejagt – nur weil er das tat, was jedes größere Unternehmen auch tut: Berater beschäftigen. Dass die Bundesregierung sich außerstande sah, zu dem Mann zu stehen, den sie selbst berufen hatte, um die Mammutbehörde zu modernisieren, war der wohl deutlichste Beleg dafür, wie gespalten ihre Haltung gegenüber den von ihr selbst eingeleiteten Reformen bleibt. Dass sich seither keine Führungspersönlichkeit aus der deutschen Wirtschaft bereit fand, an Gersters Stelle den Umbau der Arbeitsbehörde fortzusetzen, war nach diesem irrationalen Vorgang mehr als nachvollziehbar. Eine Regierung, die sich nicht einmal gegenüber dem paritätischen Klüngel im Verwaltungsrat einer Bürokratie durchsetzen kann, hat offenkundig ein erhebliches Glaubwürdigkeitsproblem. Und nach diesen Ereignissen fühlten sich jene Teile der SPD und der Gewerkschaften, denen der ganze Reformkurs ohnehin nicht schmeckt, verständlicherweise ermuntert, ihr Gewicht stärker in die politische Waagschale zu werfen.
Die politische Kultur in Deutschland ist für eine wirklich zielgerichtete Neubestimmung der Gesellschaftspolitik wohl noch nicht gerüstet. Die Haltung der Parteiführungen gegenüber diesem Projekt ist janusköpfig. Man beschwört es zwar, glaubt aber offenbar selbst nicht recht daran und verhält sich damit nicht anders als der Durchschnittsbürger, der dem Ganzen auch bei gutem Willen nicht zu trauen vermag. Auch die Politik sieht sich nicht wirklich als Akteur, der einen Wandlungsprozess bewusst gestalten möchte, sondern als Opfer, das widerwillig vollzieht, was ihm von Außen aufgezwungen ist. Diese deterministische Sicht des eigenen Handelns drückt der ganzen Reformdebatte ihren Stempel auf. Sie trägt wahrscheinlich am stärksten dazu bei, dass die Menschen sich in den aktuellen Reformprojekten nicht wiedererkennen, von ihnen wenig angesprochen fühlen sich jeden Einwand gegen sie dagegen vorbehaltlos zu eigen machen.
Ein gutes Beispiel ist die Praxisgebühr. Sicher ist sie keine besonders elegante Antwort auf die Finanzkrise der Krankenkassen. Und sicher trifft sie auch manche hart, etwa chronisch Kranke, Arbeitslose oder ärmere Rentner. Dass aber gleich die ganze Nation meint, den Gegenwert von drei Glas Bier nicht für den Arztbesuch zahlen zu können, ist überspannt. Solche Reaktionen haben weniger mit den jeweiligen Maßnahmen selbst zu tun als mit der Unfähigkeit der Parteien, den gesellschaftspolitischen Wandel insgesamt überzeugend zu vermitteln.

„Eine Politik, die sich defensiv immer wieder hinter der Vorgabe verschanzt, was sie vorschlägt, werde alternativlos gemusst, statt vielleicht zur Abwechslung auch einmal gewollt werden zu dürfen, wird fast immer mürrische Reaktionen hervorrufen.“

Etwas davon hat ja der Kanzler wohl geahnt, als er zu Jahresbeginn erklärte, es sei an der Zeit, Innovationen, insbesondere auch technologische, endlich nicht mehr nur als Risiko, sondern auch als Chance zu begreifen. Doch das im Januar von der SPD vorgelegte Strategiepapier „Weimarer Leitlinien Innovation“ fiel hinter diesen positiven Ausblick gleich wieder zurück, indem es Innovation wieder als Zwangsverhältnis beschreibt, das uns durch den globalen Wettbewerb vorgeschrieben sei: „Beschäftigung können wir nur sichern und neu schaffen, wenn wir Zukunftsmärkte gezielt und schnell erschließen“, heißt es da. Man könnte es ganz anders formulieren: Wir wollen die Chancen der Technik nutzen, um neue Verfahren einzuführen, produktiver zu arbeiten, gesünder zu leben und neue Beschäftigungsfelder zu erschließen.
Prägend für die Reformvorstellungen der Parteien ist ein ökonomistisch verengtes Konzept des gesellschaftlichen Wandels. Man konzentriert sich auf das Justieren finanzieller und wirtschaftlicher Stellschrauben in der Erwartung, damit ließen sich positive Effekte erzielen, nur um dann erschreckt zu bemerken, dass sich diese Erwartung nicht erfüllt. Das wird, nebenbei gesagt, auch das Schicksal der Ausbildungsplatzabgabe sein, welche die Regierung nun beschleunigt einführen will, um die SPD-Parteibasis zu besänftigen. Bei diesem Spiel wird vergessen, dass der Wandel bewusstes menschliches Tun voraussetzt, das auch positiver Ziele und Überzeugung bedarf. Eine Politik, die sich defensiv immer wieder hinter der Vorgabe verschanzt, was sie vorschlägt, werde alternativlos gemusst, statt vielleicht zur Abwechslung auch einmal gewollt werden zu dürfen, wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mürrische Reaktionen hervorrufen. Bekanntlich schallt es aus dem Wald immer nur so heraus, wie man hineinruft. Wichtiger noch: Menschen wollen nun einmal nicht immer nur müssen, sondern auch wollen. Das ist schließlich Freiheit.

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