01.11.2002
Ökologie und unser Umgang mit der Erde
Essay von Josef H. Reichholf
Woher kommt es, dass wir ständig nach Prognosen verlangen: seien sie zum Wetter, zum Waldsterben oder zum Klimawandel? Und warum geben wir Unsummen dafür aus, ohne hinterher zu prüfen, welche Vorhersagen eingetroffen sind? Solchen und anderen Fragen geht Josef H. Reichholf in seinem neuen Buch "Die falschen Propheten" nach, aus dem wir auf den folgenden Novo-Seiten das erste Kapitel präsentieren.
Am Anfang war das Paradies. Diese Feststellung ergibt sich am Ende aus dem, was uns eine allgemeinverständlich aufbereitete Ökologie lehrt. Das Paradies war ohne Menschen. Erst mit seiner Ankunft gingen die paradiesischen Zustände zugrunde. Denn der Mensch hat alles, was vordem so wohlgeordnet war im großen Haus der Natur, gründlich durcheinandergebracht. Mit seiner Un-Natur! Der Mensch ist eine Naturkatastrophe. Eine der besonders schlimmen Art, weil sie vermeidbar wäre, würde sich der Mensch nur richtig, das heißt naturgemäß, verhalten. Ein Vulkan, der ausbricht, kann das nicht. Der Mensch, der ausgebrochen ist aus den Fesseln der Natur, hätte das können sollen, wollte aber offenbar nicht. Der Mensch ist böse und mit der Erbsünde belastet. Deswegen wurde er ja auch aus dem Paradies vertrieben. Die Geschichte läßt sich ausbauen, und sie ist vielfach ausgebaut worden. Die Fachliteratur zu Natur- und Umweltproblemen steckt voller Fortentwicklungen dieser Kerngeschichte vom mißratenen Sproß der Evolution, der zwar von dieser Welt ist, wie die Evolutionsbiologie unzweifelhaft klargestellt hat, aber mit dieser Welt offenbar nicht zurechtkommt, wie die »Ökologie« behauptet.
Gemeint ist mit dieser Ökologie nicht die naturwissenschaftliche Ökologie, sondern das, was jene, die sich ihrer vor einem guten Dritteljahrhundert bemächtigten, aus ihr gemacht haben: Ein Glaubensbekenntnis, eine Ersatzreligion. Daher steckt diese populär gewordene Ökologie in besonders großem Umfang voll von Weissagungen und Weltuntergangsmodellen, wie andere Religionen auch. »Öko« ist aber in einer Hinsicht ganz anders, bedienen sich die Öko-Modelle und -Prognosen doch des Instrumentariums der modernen Naturwissenschaften. Sie machen sich die größten geistigen Leistungen zunutze, die auf Fakten und Befunden aufbauen, sich strenger mathematischer Formeln bedienen und nachvollziehbar erscheinen für jeden Menschen, der entsprechend gut mathematisch-naturwissenschaftlich gebildet ist. Deshalb haben diese Vorhersagen eine so hohe Überzeugungskraft und eine so weite Verbreitung über alle Kulturen und Denkweisen hinweg gewonnen. Die neuen, die modernen, also dem Wissen unserer Zeit entsprechenden Prognosen kommen demgemäß aus Computern. Die Propheten, die sie verbreiten, erwecken den Eindruck, lediglich Vermittler zu sein und nicht eigentlich die Urheber oder Erfinder der Weissagungen. Was sein wird, sagen nicht sie, sondern die Superhirne der Computer, die sich gar nicht (mehr) irren können, wie uns – die wir auf unser eigenes Eineinhalbliter-Gehirn angewiesen sind – weisgemacht wird. Unser »gesunder Menschenverstand« ist längst unzureichend für die großen Probleme, die uns die Zukunft bringen wird. Da stimmen wir, die wir nichts dagegenhalten können als unser kleines Gehirn, natürlich allein schon deswegen gerne zu, weil wir uns nicht blamieren wollen. Selbst wenn wir gefühlsmäßig anderer Meinung sein möchten oder gar mit eigenen Augen anderes gesehen haben, als uns weisgemacht wird. Wer stellt sich schon gern durch unzureichendes Wissen und gänzlich ungenügenden Durchblick bloß.
Ökologie ist eben eine besonders hochkomplexe Wissenschaft und alles, wirklich alles auf der Erde gehört zu ihr und muß von den Öko-Modellen berücksichtigt werden. Diese Forderung, die jeden von uns überfordern muß, kann nur das hochvernetzt »denkende« System der Computer und ihrer Weltmodelle bewältigen. Drei große Anliegen der globalen Ökologie, drei echte Herausforderungen für die Zukunft, insbesondere für das neue Jahrtausend, mögen das verdeutlichen: Vernichtung der Biodiversität, Klimaveränderung und Bevölkerungsexplosion.
Zweifellos sind das global issues, weltweit bedeutsame Themen, wie die Globalisierung selbst. Sie betreffen die ganze Erde und die gesamte Menschheit. Sie erfordern Gegenmaßnahmen oder richtige Weichenstellungen.
Die populär gewordene Ökologie steckt voll von Weissagungen und Weltuntergangsmodellen, wie andere Religionen auch. »Öko« ist aber in einer Hinsicht ganz anders, bedienen sich die Öko-Modelle und -Prognosen doch des Instrumentariums der modernen Naturwissenschaften.
Zehn Jahre nach dem sogenannten Erdgipfel von Rio rückte die Vernichtung von Biodiversität mit der Nachfolgekonferenz in Johannesburg Ende August 2002 wieder ins Zentrum globaler Betrachtungen und Umweltpolitik. Damals, 1992 in Rio de Janeiro, hatte die Staatengemeinschaft beschlossen, die Erhaltung der Lebensvielfalt auf der Erde (Biodiversität) zusammen mit dem Prinzip Nachhaltigkeit in der Entwicklung zur Hauptaufgabe weltweiter Umweltpolitik zu machen. Der Schutz des Klimas der Erde wurde gleich dazugepackt. Zugrunde lag, wie auch in Johannesburg, die Annahme, die Biodiversität der Erde würde in rasendem Tempo schwinden. Zehn bis 38 Arten sterben pro Tag aus, so eine weitverbreitete Schätzung des Amerikaners Andrew P. Dobson von der Princeton Universität nach Auswertung einer ganzen Anzahl von unterschiedlichen Hochrechnungen aus den letzten 20 Jahren. Das wären zwischen 4.000 und 14.000 Arten, die pro Jahr von unserer Erde verschwinden. Unwiederbringlich ausgerottet! Vernichtet, weil auf ihr Verschwinden nicht geachtet wurde. Ausgestorben, weil vor allem in der Tropenwelt Wälder gerodet werden, um Platz für Menschen zu schaffen. Und für Vieh. Das Artensterben gilt als eine der ganz großen Katastrophen, deren Verursacher der Mensch ist.
Ein derartiges Massenaussterben hatte es allerdings mehrmals in der Erdgeschichte gegeben. Vor gut 65 Millionen Jahren zum Beispiel. Damals starben ziemlich plötzlich, wie Fossilfunde zeigen, die Dinosaurier aus. Mit ihnen verschwanden viele andere, vor allem größere und große Lebewesen. Mit diesem Massensterben kennzeichnen die Erdgeschichtswissenschaften das Ende des Erdmittelalters und den Beginn der Erdneuzeit. Mit kleineren wie größeren derartigen Massenaussterben gliedern sie die kontinuierliche Geschichte des Planeten Erde in Zeitalter – vergleichbar einer Unterteilung der menschlichen Geschichte durch Kriege, Herrscher oder große Entdeckungen. Nur selten gibt es schöne »gerade« Jahreszahlen, wie etwa bei der Krönung Karls des Großen im Jahre 800 (was hinsichtlich der genauen zeitlichen Festlegung ebenso umstritten ist wie das wirkliche Jahr Null, das Jahr von Christi Geburt). In den Erdwissenschaften verhält es sich genauso. »Krumme« Zahlen wirklicher Ereignisse gliedern die Abfolge der Jahrmillionen und Jahrzehntausende, wobei in der Erdgeschichte Naturkatastrophen, in der Menschheitsgeschichte Kriege und »historische Katastrophen« die Zeitmarken bilden.
Dazu paßt bestens, daß das von uns Menschen ausgelöste und beschleunigte Artensterben einer Katastrophe gleicht, dem Massenaussterben ferner Zeiten der Erdgeschichte ähnelt. Der Mensch selbst wird auf diese Weise zur Naturkatastrophe gemacht. Es läßt sich leicht hochrechnen, wie schnell der Artenreichtum, die Vielfalt des Lebens und seine natürliche Diversität zu Ende sein würden, wenn das Artensterben mit ungefähr 10.000 Toten (Arten) pro Jahr so weiterginge. In nur 300 Jahren würde die gesamte Lebensvielfalt der Erde vernichtet sein; vielleicht schon früher, weil sich die Vernichtungsrate beschleunigt, je mehr sich die Menschheit ausbreitet und die Natur unseres Planeten auffrißt.
Allerdings machen die Hochrechner selbst eine nicht unwichtige Einschränkung: Die Berechnungen hängen selbstverständlich davon ab, wieviele Arten es auf der Erde überhaupt gibt. Doch an dieser Frage entzündet sich der Streit – wissenschaftlich erfaßt und eindeutig beschrieben sind noch nicht einmal zwei Millionen Arten von Tieren und Pflanzen sowie Mikroorganismen. Geschätzt werden zwischen fünf Millionen und 80 bis 100 Millionen existierender Arten. Je nachdem, welche Schätzung zugrundegelegt wird, ergeben sich kleine oder außerordentlich große Schätzwerte für das Artensterben.
Vor allem bei Säugetieren, Vögeln und anderen Wirbeltieren sowie bei einigen wenigen Teilgruppen von Insekten und Weichtieren ist das Aussterben von Arten nachgewiesen. Die Befunde zu den tatsächlich und nachweisbar ausgestorbenen Arten sehen aber merkwürdigerweise ganz anders aus als die so besorgniserregenden Hochrechnungen. Nach diesen Befunden fand das Artensterben hauptsächlich zwischen 1500 (Entdeckung Amerikas) und 1800 oder 1900 statt. Im 20. Jahrhundert gab es nur noch wenige dokumentierte Fälle des Aussterbens von Arten; die meisten davon wie auch schon im 19.Jahrhundert auf kleinen ozeanischen Inseln. Kaum eine Tier- oder Pflanzenart starb in den letzten beiden Jahrhunderten in Europa aus.
Die tatsächlichen Befunde (ein starker Rückgang des Artensterbens bis auf nahezu Null in der jüngsten Vergangenheit) könnten kaum weiter von der verbreiteten Besorgnis entfernt sein, die zur Biodiversitätskonvention von Rio (1992) geführt hatte, daß wir uns mitten in einem Artensterben katastrophalen Ausmaßes befänden, das dereinst gleichrangig mit dem Verschwinden der Dinosaurier ein Erdzeitalter beenden und ein neues – die Zeit nach dem Menschen – begründen würde: denn wir würden uns im Zuge dieses globalen Aussterbens die eigenen Lebensgrundlagen entziehen und somit selbst verschwinden.
Dieser Zwiespalt zeigt deutlich, worum es geht: Vorhandene Befunde stehen gegen Annahmen und Hochrechnungen. Nichts wäre nun aber verkehrter, als das »Artensterben« einfach als Machwerk abzutun. Denn die Hochrechnungen basieren durchaus auf plausiblen Annahmen, und legen andere Befunde zugrunde, die sich auf Flächen an artenreichen Tropenwäldern beziehen, welche in den letzten Jahrzehnten Kettensägen und Feuer zum Opfer fielen, um Land für Rinder und Menschen zu gewinnen und »urbar« zu machen. Urbar meint: nutzbar im Sinne des Menschen. Denn in einem anderen Sinne waren die Tropenwälder in höchstem Maße urbar, brachten sie doch (abgesehen vom Wasser) die höchste Vielfalt an Arten und besonderen Formen des Lebens hervor. So viele, daß die Hauptunsicherheit in der Kalkulation des Artenreichtums in eben diesen Tropenwäldern steckt, die heute so großflächig vernichtet werden. Weil wir nicht wissen, wie viele Tier- und Pflanzenarten es etwa in Amazonien oder auf der tropischen Inselwelt Südostasiens gibt, können wir nicht wissen, wie viele Arten den dortigen Erschließungsmaßnahmen zum Opfer fallen. Wir kennen nur das Ausmaß der veränderten Flächen: Wieviel Wald wo gerodet, abgebrannt und in andere Landnutzungsformen umgewandelt wird, läßt sich im Zeitalter der Satellitenüberwachung nicht mehr verheimlichen oder mit gefälschten Zahlen verschleiern. Wir wissen aber nicht, wie viele gänzlich unbekannte Arten gleichzeitig mit den bekannten (weil auffälligen und großen) in den letzten Jahrhunderten des dokumentierten Artensterbens im Verborgenen ausgestorben sind. Wenn das Artensterben bei den großen Arten tatsächlich rückläufig und fast unbedeutend geworden ist, so heißt das nicht, daß es bei den kleineren, weniger auffälligen oder noch unbekannten Arten nicht vorhanden wäre und jene hochgerechneten katastrophalen Ausmaße annehmen würde. Es bedeutet aber genauso wenig, daß es dieses katastrophale Artensterben wirklich gibt, weil es eben nur auf Grund von Annahmen hochgerechnet werden kann.
Was berechtigt überhaupt zu der Annahme, das Klima vor der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei das beste und einzig richtige gewesen? Denn nur dann, wenn wir von dieser Annahme ausgehen, wird jede Abweichung davon negativ und muß »bekämpft« werden.
Was sich aber zweifelsfrei ermitteln läßt, ist der Grad der Bedrohung der bekannten und seltenen Arten. So gilt ganz zu Recht ein gutes Zehntel aller Vogelarten der Erde als vom Aussterben bedroht, weil die Vorkommen der betreffenden Vogelarten so gering geworden sind. Auch für viele Säugetiere, Kriechtiere, Fische oder Lurche gibt es verläßliche Angaben über deren Seltenheit und Gefährdung. Es sind, wie die genauere Betrachtung zeigt, genau dieselben Ursachen, die den Hochrechnungen zum Artensterben zugrundegelegt werden: Vernichtung der Tropenwälder, Urbarmachung von Sumpfgebieten, Verkleinerung der Lebensräume, auf denen die betroffenen Tierarten wie auf Inseln eingeschlossen festsitzen und auf deren Erhaltung sie angewiesen sind. So gut wie alle der zahlreichen Ursachen sind »menschengemacht«.
Es sind also weniger die »Hochrechnungen« und Prognosen selbst, die uns Probleme machen, als vielmehr die Schlußfolgerungen daraus: Was zu tun ist oder was getan werden müßte, um den absehbaren Entwicklungen entgegenzuwirken.
Das bringt das zweite Globalbeispiel, die Klimaveränderung, noch deutlicher zum Ausdruck. Ursprünglich herrschte die Sorge, es könne auf der Erde zu warm werden, weil der Mensch zu viele sogenannte Treibhausgase freisetzt (»Die Erde liegt im Fieber« wurde zur aufrüttelnden Schlagzeile hochstilisiert). Mittlerweile ist diese Befürchtung um ein ganzes Paket zum »globalen Wandel« (global change) erweitert worden. Zentrale Grundlage bildet aber nach wie vor die Sorge um die Stabilität des Klimas der Erde, und wichtigstes Kernstück dafür ist aus der Sicht des internationalen Umweltschutzes das »Kyoto-Protokoll« zum Schutz der Erdatmosphäre.
Wer die schier ununterbrochene Folge von Katastrophenmeldungen aus aller Welt in den Medien verfolgt, muß zwangsläufig zu der Überzeugung gelangen, es stimme etwas nicht mehr mit dem Klima. Stürme und Überschwemmungen verheerenden Ausmaßes, Hitzewellen mit gewaltigen Feuersbrünsten oder unzeitgemäßer Schneefall bis in die subtropischen Regionen, ein Nordpol ohne Eis, das Jahr um Jahr größer werdende Ozonloch; die unglaublich genauen Messungen zum Gehalt der Erdatmosphäre an klimaverändernd wirkenden Kohlendioxid- und Spurengasen präsentieren uns sowohl die Nachrichten als auch die mit dem globalen Wandel befaßten Wissenschaftler. Wer könnte da auf die abwegige Idee kommen, man könne das alles auch ganz anders sehen und beurteilen? Zum Beispiel, daß früher vieles gar nicht bekannt wurde, weil es nicht gemeldet werden konnte, oder daß die meisten Temperaturmessungen vor 1950 oder gar in früheren Jahrhunderten mangels besserer Instrumente und Meßmethoden ungleich weniger präzise als die heutigen ausfallen mußten. Oder daß mit Beginn der regelmäßigen Wetteraufzeichnungen, welche die Grundlage für die Ermittlung der Klima-Mittelwerte darstellen, eine Klimaphase zu Ende ging, die ein paar Jahrhunderte lang angedauert hatte und von den Historikern ganz selbstverständlich als die »Kleine Eiszeit« bezeichnet worden war. Mehr noch: Was berechtigt überhaupt zu der Annahme, das Klima vor der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei das beste und einzig richtige gewesen? Denn nur dann, wenn wir von dieser Annahme ausgehen, wird jede Abweichung davon negativ und muß »bekämpft« werden. Ein geradezu unpolitisch-exaktes Meßverfahren, das Lufttemperaturen und Niederschlagsmengen, Eistage oder – im Meer – Wassertemperaturen festhält, zu langen Serien aufreiht und daraus Mittelwerte berechnet, gerät, wenn aus den Meß-Werten Be-Wertungen gemacht werden, in eine politisch hochbrisante Zone. Selbst wenn es stimmen mag und das Ergebnis aller wissenschaftlichen Kritik und Überprüfung standhalten sollte, besagt die durchschnittliche Zunahme der Lufttemperatur um ein Grad Celsius an sich überhaupt nichts. Ein derartiger Befund gewinnt erst in Bezug zu anderen und mit der Bewertung anderer Zustände Bedeutung.
In der Klimadebatte wird dies in doppelter Weise deutlich und höchst problematisch. Denn einmal geht es um die ökologischen Folgen von Klimaveränderungen für den Menschen, seine Haustiere und Nutzpflanzen in den verschiedenen Regionen wie auch um mögliche Auswirkungen auf die ganze übrige Natur. Zum anderen aber um die Maßnahmen, die den Veränderungen entgegenwirken sollen, wie etwa die sogenannte »Öko-Steuer« (Energieverbrauchs-Besteuerung) oder der weltweite (mögliche) Handel mit Industrieabgasen und dergleichen.
Die Ökologie als Naturwissenschaft kann hierzu nicht mehr als Fakten liefern. Deren Berücksichtigung wie auch das Ausmaß, in dem sie für die umweltpolitischen Bewertungen und Maßnahmen herangezogen werden, fällt höchst unterschiedlich und selektiv aus. So ermittelte zum Beispiel die Umweltforschung, die sich mit dem nacheiszeitlichen Klima der letzten 10.000 Jahre und seinen Veränderungen befaßt, daß das Klima in Mitteleuropa (woher nicht nur die meisten Meßdaten zur Klimaveränderung, sondern auch die plausibelsten Modelle für die zukünftige Klimaentwicklung stammen) während immerhin mehr als zwei Drittel dieser nacheiszeitlichen Periode wärmer als gegenwärtig war. Die Alpengletscher waren zeitweise so gut wie ganz verschwunden. Wein gedieh in Nordeuropa und in Köln am Rhein wurden mediterrane Feigen reif. Günstige Witterungsbedingungen in Skandinavien bedingten eine kleine Überbevölkerung, die wiederum die Ausfahrten von Wikingern und Normannen auslöste, bei denen Grönland entdeckt und besiedelt wurde und rund ein halbes Jahrtausend vor Kolumbus die »Nordmänner« bis nach Nordamerika führte, das sie »Weinland« (Vinland) nannten. Zu Zeiten des Römischen Weltreiches war Nordafrika (heute Wüste) die Kornkammer Roms. Vieles spricht dafür, daß die Völkerwanderung durch eine damals wohl mit Sicherheit nicht vom Menschen verursachte Klimaveränderung in Innerasien ausgelöst wurde; die Folge war bekanntlich der Zusammenbruch der alten Ordnung des Römischen Reiches und die jahrhundertelange Vorherrschaft der Germanen in Europa.
Dagegen gab es in der – laut historischer Einteilung – »Neuzeit« genannten Periode der letzten Jahrhunderte so harte Winter, daß Hollands Grachten wie auch der Bodensee zur Gänze zugefroren waren, wie auf zeitgenössischen Bildern (zum Beispiel von Brueghel) zu sehen ist. Weder in den letzten beiden Jahrtausenden unserer Zeitrechnung noch in den weiteren acht bis zehn davor (bis zurück zum Ende der letzten Eiszeit) war das Klima jemals stabil. Im Gegenteil: Seine Veränderung muß als das Normale angesehen werden und es gibt keinen Sollwert, den es (wir personifizieren unbewußt die künstlich zusammengruppierten Meßwerte und Mittelwerte, wenn wir von »dem Klima« sprechen!) einzunehmen hat oder welcher tatsächlich der Richtige wäre. Denn jede Witterungsphase, die zum Zeitsegment eines »Klima-Ausschnitts« beiträgt, hat ihre Eigenheiten und damit ihre Vor- und Nachteile. Wer, wie Millionen Mittel- und Nordeuropäer, im Urlaub ans Mittelmeer fährt, um dort Sonne und Wärme zu genießen, wird emotional wenig Verständnis dafür entwickeln, daß man gegen schönere, wärmere, mediterrane Sommer auch bei uns in Mitteleuropa etwas einwenden sollte. Und wer bei knapper Kasse winterliche Heizkostenrechnungen präsentiert bekommt, dürfte milde Winter den kalten vorziehen.
Wer trägt die Folgen von Maßnahmen, die auf Prognosen aufgebaut sind, die sich als nicht zutreffend herausgestellt haben? Bislang nimmt anscheinend noch kein einziges demokratisches System diese »falschen Propheten« in die Pflicht.
Andererseits kann ein einheitlich gleichartig angenehm warmes Gesamtklima der Erde viele andere Ansprüche und Wünsche nicht erfüllen. Jeder weiß, daß das Wetter nicht einfach »gemacht« werden kann, und ist wohl auch froh darüber – bei allem Ärger darüber, daß das Wetter wieder einmal so ist, wie es nicht sein sollte. Und daß es sich mit hoher Verläßlichkeit als unzuverlässig zeigen wird. Warum also die ganze Aufregung? Wem nützt der Klimawandel in Theorie und Wirklichkeit? Solche Fragen drängen sich nachgerade auf, wenn man wegen der Gefahr des Klimawandels weniger Auto fahren soll und mehr für Erdgas bezahlen muß.
Besteht das Problem nicht einfach darin, daß wir zu viele geworden sind? Daß die Menschheit explodiert und den Blauen Planeten wie ein Brei, der außer Kontrolle geraten ist, mit Megastädten zu überziehen droht? Das Problem der Bevölkerungsexplosion, die dritte große Herausforderung für die Zukunft, begleitet uns nun schon ein halbes Jahrhundert – doch wir Menschen in den Industrienationen überaltern und die Bevölkerung schrumpft bis zur Unbezahlbarkeit der Renten. Der Zuzug von Ausländern soll dennoch begrenzt werden, weil wir sie als zu zahlreich empfinden. Wo ist das Maß? Warum fallen die Beurteilungen so höchst unterschiedlich aus? Das ist sicher nicht das leichteste Fallbeispiel zum Einstieg in die Problematik, aber eines, das sehr deutlich hervortreten läßt, was den Menschen kennzeichnet -– im Guten wie im Schlechten!
Seit Ende des 20.Jahrhunderts leben aller Wahrscheinlichkeit nach sechs Milliarden Menschen auf der Erde. Täglich werden es mehr. Wenn das Wachstum der Menschheit sich so weiterentwickelt, werden wir bald nicht einmal mehr Platz haben, um zu stehen. Hochrechnen läßt sich das leicht, auch mit kleinen Taschenrechnern. »Exponentielles Wachstum«, »geometrische Progression« nennt man in der Mathematik solche Formen der Zunahme. Das Prinzip ist einfach und logisch. Aus 2 mach 4, aus 4 werden 8, daraus 16, 32, 64, 128, 256 und so weiter. Bei der Weltbevölkerung des Menschen ging die Verdopplungszeit in den letzten 200 Jahren immer weiter (auf unter 30 Jahre) zurück, was zu einer extrem raschen Bevölkerungszunahme, vor allem in den Entwicklungsländern, führte . Da jedoch die Lebensgrundlagen begrenzt sind und einfach (also »arithmetisch« und nicht, wie die Bevölkerung, »geometrisch«) wachsen und zunehmen können, muß zwangsläufig die Schere zwischen Bevölkerungszahl und Lebensgrundlagen immer weiter auseinanderklaffen.
Ob die entwickelten Länder der früher sogenannten Ersten Welt wirklich darauf reagierten und aus Einsicht, daß es so nicht weitergehen könne, ihre Vermehrung drastisch minderten, ist fraglich. Sicher ist freilich der »Pillenknick«, der mit der umfassenden Verfügbarkeit der Empfängnis verhindernden Pille die Geburtenrate stark absinken ließ. Profiteure dieser Entwicklung waren nicht nur die Pharmaindustrie, sondern vor allem auch bestimmte Bevölkerungsgruppen, etwa die Frauen oder die ausländischen Arbeitskräfte. Andererseits warf sie das Problem der Rentensicherung und Auflösung des Generationenvertrags auf. Neuerdings prognostizieren Bevölkerungswissenschaftler sogar einen globalen Zusammenbruch der Menschheit. Jedenfalls ist man ziemlich sicher, daß die Vorhersagen zur weiteren Entwicklung der Menschheit bei weitem nicht eintreffen werden und schon bei wohl weniger als dem Doppelten der heutigen Weltbevölkerung der Rückgang einsetzen wird. Global, versteht sich, aber womöglich in ähnlicher Weise wie in Europa während der weltweiten Bevölkerungsexplosion.
Wir Europäer haben mit abnehmenden Bevölkerungszahlen zu rechnen, während vor allem in Asien die Menschenflut anschwillt. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Sollen wir einfach den Überschuß aus der Dritten Welt aufnehmen? Oder sollten wir die eigene Vermehrung wieder stärker in Gang bringen, auch wenn dies nicht gerade in Übereinstimmung mit den Forderungen an die Dritte Welt steht, die dortige Zunahme zu drosseln? Wer wird die Folgen von zu geringer und zu starker Vermehrung tragen müssen? Die betreffenden Völker selbst oder jeweils nur die wohlhabenden oder die gesamte Staatengemeinschaft der Erde?
Mehr noch: Wer trägt die Folgen von Maßnahmen, die auf Prognosen aufgebaut sind, die sich als nicht zutreffend herausgestellt haben? Bislang nimmt anscheinend noch kein einziges demokratisches System diese »falschen Propheten« in die Pflicht. Gäbe es so etwas wie eine Regreßmöglichkeit, ließe sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit prognostizieren, daß die Zahl der Weissagungen drastisch zurückgehen würde. Und die dennoch aufgestellten Prognosen würden höchst vorsichtig und unter Einbeziehung vieler Abweichmöglichkeiten formuliert werden. Selbstverständlich ist das unter den gegebenen Bedingungen nicht mehr als ein Wunschbild. Für eine bessere Beurteilung von Prognosen gibt es aber eine Vorgehensweise, die der in unseren Schulen gelehrten Form des mathematischen Beweises entspricht: 1.Voraussetzung, 2.Behauptung und 3.Beweis(führung). Läßt sich der Beweis nicht führen, wird die Behauptung verworfen.
Auf die hier behandelten Öko-Prognosen bezogen hieße das: 1.Fakten, 2.Schlußfolgerungen und 3.kritische Überprüfung. Die Schlußfolgerungen können nicht besser sein als die Grundlage, auf der sie ermittelt und gezogen werden: die Fakten und ihren Gültigkeitsbereich. Die kritische Überprüfung der Schlußfolgerungen, die als Prognosen oder »Modelle«, wie sie zunehmend auch bezeichnet werden, entworfen werden, bedarf dabei, anders als in der Mathematik, des »doppelten Beweises«. Das wird noch näher auszuführen sein, weil in der Natur und ihren Vorgängen Entwicklungen, in denen die Zeit eine maßgebliche Rolle spielt, die Regel darstellen. Was heute zutrifft, muß in zehn Jahren längst nicht mehr gültig sein. Die direkte Beweisführung funktioniert oftmals nicht, weil sich die Umstände ändern können. Im Prozeß des Lebens nennt man diesen Umstand »Anpassung«. Ohne diese Anpassung, ohne Einstellung auf sich ändernde Bedingungen, hätte das Leben keine Chance gehabt, zu überdauern. Vorgänge in der Natur sind nicht unveränderlich-statisch, sondern höchst veränderlich-dynamisch. Das gilt für die Arten, ihr Werden und Sterben, wie für das Klima oder die Entwicklung von Bevölkerungen, von Populationen, wie sie in der Ökologie allgemein genannt werden. Ob Populationen von Hefepilzen, Fliegen, Seevögeln, Rehen oder Menschen – die Grundvorgänge sind gleich und entsprechen einander.
In der lebendigen Natur, also im gesamten Naturhaushalt der Erde, gibt es diesen Zustand des Gleichmäßig-Weitergehens ebenso wenig wie das Verharren in einem bestimmten Zustand.
Deshalb sind zwei sehr häufig in Prognosen eingebaute Annahmen von vornherein unzutreffend: erstens die Annahme, daß es »so weiter gehen würde« und zweitens, daß »der Ausgangszustand der Richtige gewesen sei«. In der lebendigen Natur, also im gesamten Naturhaushalt der Erde, gibt es diesen Zustand des Gleichmäßig-Weitergehens ebenso wenig wie das Verharren in einem bestimmten Zustand. Genau deswegen kann die Ökologie als Wissenschaft auch keine »ehernen Gesetze« wie die Physik vorweisen. Und deswegen kann als Zwischenbilanz für die drei Beispiele nur festgehalten werden, daß die Grundannahmen, auf denen sie aufbauen, nicht zutreffen und für die Öffentlichkeit aufbereitet worden sind. Was nicht heißen soll, daß die Problematik des Artensterbens, des Klimawandels und der Bevölkerungsexplosion bedeutungslose Scheinthemen wären. Ganz und gar nicht! Vielmehr geht es darum, diese Probleme so darzulegen und zu behandeln, daß sich die Schlußfolgerungen mit hinreichender Sicherheit ziehen lassen und daß klar ist, um welche damit verbundenen Ziele es sich handelt.
Anders ausgedrückt: Worauf gründet sich das »Szenario Zukunft« der Prognosen und Propheten? Soll lediglich alles so bleiben, wie es ist? Und ist man deswegen gegen den Wandel, gegen die Veränderung? Oder sind die Verhältnisse in der Gegenwart und ihre Entwicklung aus der Vergangenheit heraus tatsächlich so schlecht, so veränderungsbedürftig, daß Gegenmaßnahmen zu ergreifen sind? In beiden Fällen geht es um Bewertungen und nicht um Fakten allein. Kann die Ökologie überhaupt solche Bewertungen beibringen oder gar begründen? Als Glaubensbekenntnis und Ersatzreligion ist sie dazu in der Lage, wie jede andere Religion auch. Aber als Naturwissenschaft, die unabhängig von Glauben und Weltanschauungen mit dem Faktischen überzeugt, sicherlich nicht – sonst verliert sie ihren Charakter und ihre anzustrebende Neutralität. Die (falschen) Propheten wissen das und machen »die Wissenschaft« mit dem Argument lächerlich, sie bringe ja doch nur andauernd neue Theorien und ihr fehle der Blick aufs Ganze. Zwar ist durchaus möglich, daß in all der Detailforschung der Blick aufs Ganze aus dem Blickfeld gerät – doch das ist nicht das Kernproblem. Weit problematischer wird es, wenn unter dem Deckmantel naturwissenschaftlicher Betrachtung Ideologisches verbreitet und dadurch die Ideologie fast unangreifbar gemacht wird.