17.07.2015

Nudgen statt entscheiden

Essay von Mareike König

Die Entscheidungsfreiheit ist die Grundlage des individuellen Denkens. Je seltener man es uns überlässt, Entscheidungen zu treffen, desto weniger können wir uns im eigenständigen Denken üben. Nudging nimmt uns diese Freiräume für die Selbstentwicklung.


Ebenso wie der allwissende Göttervater Zeus in Schillers Gedicht Die Teilung der Erde müssen wir immer wieder erkennen, dass unser Leben nichts anderes als eine Verkettung von Entscheidungen und deren Konsequenzen ist. Die meisten dieser Entscheidungen erfolgen unbewusst und automatisch. Oft wird erst dann klar, dass man überhaupt eine Wahl hatte, wenn Entscheidungen besonders angenehme oder besonders unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen.

Wissenschaftliche Modellvorstellungen haben in den vergangenen Dekaden keinen unerheblichen Beitrag zur weit verbreiteten Meinung geleistet, dass Menschen in vielen Situationen nicht dazu in der Lage scheinen, Entscheidungen zu ihrem eigenen Besten zu treffen. Ein häufiges Argument lautet, dass Individuen durch die schiere Masse an Wahlmöglichkeiten kognitiv überfordert seien. Deshalb müsse man sie seitens der Politik unterstützen: Nudging („Anstupsen“) heißt das Zauberwort. Dies ist ein von Psychologen und Ökonomen erfundenes Prinzip, um durch bestimmte Reize und Rahmenbedingungen die Entscheidung für eine „bessere“ Alternative zu vereinfachen. Ähnlich wie bei Gesetzen geht man hier davon aus, dass es objektiv „gute“ und objektiv „schlechte“ Entscheidungen gibt. Letztere Annahme ist sicherlich diskussionswürdig, soll aber nicht primärer Gegenstand der nun folgenden Überlegungen sein.

Hier soll das Argument entkräftet werden, die künstliche Vereinfachung von Entscheidungen durch Verbote oder Anreize sei ein Beitrag zur kognitiven Entlastung und gebe den Bürgern somit mehr von ihren mentalen Kapazitäten zur freien Verfügung. Andernfalls würden diese Kapazitäten für wichtige Entscheidungen gebunden, die die Bürger aufgrund ihrer eingeschränkten Rationalität ohnehin nicht zu „ihrem eigenen Besten“ fällen könnten. Diese Annahme klingt zynisch? Sie klingt nicht nur so, sie ist es auch.

„Geistige Entlastung“

Zuerst wenden wir uns dem Argument der „kognitiven Entlastung“ zu. Hierzu müssen wir zunächst in die klassische Modelltheorie eintauchen: Entscheidungen werden im Wesentlichen durch drei Dinge beeinflusst: Durch die möglichen Konsequenzen einer Entscheidung, durch die Eintrittswahrscheinlichkeiten dieser möglichen Konsequenzen und durch den Wert, den das entscheidende Individuum den einzelnen Konsequenzen beimisst. In der Forschung werden diese drei Dinge zusammengefasst als „erwarteter Nutzen“ einer Entscheidungsalternative bezeichnet.

1955/56 führte der Sozialwissenschaftler Herbert Alexander Simon das Prinzip der „begrenzten Rationalität“ ein. Ging man zuvor in ökonomischen Modellen von einem Individuum aus, das den normativen Beschreibungen eines rational handelnden Homo Oeconomicus folgt, so brachte Simon nun einen deskriptiv orientierten Ansatz ins Spiel, der den realen Umständen einer Entscheidungsfindung deutlich besser Rechnung trug. Simon sprach dem Individuum eingeschränkt rationales Verhalten zu, indem er zuließ, die objektiv optimale Entscheidung gegen die Beschaffungskosten von Information sowie gegen die Ungewissheit und Unsicherheit für das Individuum abzuwägen. Sein Zugeständnis an den Menschen war also: Unter bestimmten Nebenbedingungen ist euer suboptimales Verhalten als rational zu betrachten.

„Verbote oder Anreize sollen Entscheidungen vereinfachen und uns geistig entlasten“

Dieser Ansatz wurde in den folgenden Dekaden immer weiter ausgearbeitet. Eine wichtige Arbeit hierzu war das Forschungsprogramm der Psychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky. Sie hoben die Relevanz der Rahmenbedingungen für eine Entscheidung, sogenannte „Framing-Effekte“, hervor und brachten die Existenz von kognitiven Verzerrungen ins Spiel. Kognitive Verzerrungen sind in diesem Fall als systematische „Denkfehler“ zu verstehen, die zu weniger rationalen Entscheidungen führen. Ein klassisches Beispiel ist die Verlust-Aversion: Für Menschen wiegt ein Verlust grundsätzlich schwerer als ein Gewinn. Ein damit verwandtes Phänomen ist die Status-quo-Verzerrung, in Analogie zu klassischen Effekten der Physik auch häufig als „menschliches Trägheitsmoment“ bezeichnet: Offensichtlich gehen Menschen größere Risiken ein, um ihren aktuellen Zustand zu erhalten, als um ihre Situation zu ändern. Mit den Worten der Theorie des erwarteten Nutzens: Dem Erhalten des Status quo wird ad hoc ein höherer subjektiver Wert beigemessen, sodass Entscheidungen bei gleicher Eintrittswahrscheinlichkeit stets zur Erhaltung des Status quo ausgehen.

Neuere Forschungsprogramme aus der Psychologie gehen von einer weniger pessimistischen Sicht aus: Sie betrachten spontane und eventuell uninformierte Lösungsversuche nicht als Denkfehler, sondern als höchst anpassungsfähige und hochentwickelte Daumenregeln, die in den alltäglichen Situationen begrenzter Rationalität hervorragende Dienste leisten. In solchen Situationen sind die menschlichen Mechanismen zur Datenreduktion in ihrer Anpassungsfähigkeit an verschiedene Entscheidungssituationen jedem Computer überlegen. Der Psychologe Gerd Gigerenzer erfand in diesem Zusammenhang die sehr anschauliche Analogie eines adaptiven Werkzeugkastens: Für unterschiedliche Situationen haben wir verschiedene Daumenregeln in unserem Werkzeugkasten, die in Abhängigkeit vom Kontext entsprechend hilfreich sein können. Was diese Metapher darüber hinausgehend impliziert: Wir können unseren Werkzeugkasten stets mit neuen Werkzeugen bestücken, wir können bestehendes Werkzeug verbessern, und wir können lernen, in welchen Situationen welches Werkzeug am besten passt. Um das tun zu können, müssen wir jedoch Entscheidungen treffen: Wir müssen ausprobieren, testen, Fehler machen und wieder ausprobieren. Unser menschliches Gehirn ist dafür optimiert, komplexe Regeln zu entdecken und anzuwenden, sonst würde kein Kind völlig problemlos Sprachen und soziale Konventionen erlernen.

Entscheiden üben

Das erste Argument gegen die staatlichen Ambitionen, unsere Entscheidungen zu vereinfachen: Jede noch so komplexe Entscheidung, die wir treffen müssen, macht alle danach folgenden im selben Kontext einfacher. Entscheiden kann man üben und jede Vereinfachung nimmt uns eine Gelegenheit dazu.

Eine zweite Voraussetzung, um effiziente und gute Entscheidungen treffen zu können, besteht darin, die eigenen Präferenzen und Ziele zu kennen. Wenden wir uns also dem Argument zu, Menschen könnten nicht zu „ihrem eigenen Besten“ entscheiden:

„Entscheiden kann man üben und jede Vereinfachung nimmt uns eine Gelegenheit dazu“

Um zu seinem eigenen Besten zu entscheiden, muss man dieses „Beste“ erst einmal kennen. Man stelle sich jede Entscheidung wie einen Tauschhandel vor: Jedes Mal, wenn sich ein Individuum für eine Alternative entscheidet, entscheidet es sich automatisch gegen eine andere. Diese Erkenntnis klingt zunächst trivial. Sie ist es allerdings nicht: Ebenso wie auf monetärer Ebene der Preis eines Produkts nicht einfach nur eine Funktion von dessen materiellem Wert ist, sondern sich über Angebot und Nachfrage generiert, so sind auch die Alternativen einer Entscheidung nicht durch objektiv bestimmbare Werte definiert. Indem unterschiedliche Entscheidungsalternativen immer wieder in verschiedenen Kontexten und variierender Konstellation miteinander konkurrieren, findet ein ständiges Abwägen statt: Welche Alternative bin ich bereit, zu Gunsten einer anderen aufzugeben? Welchen Preis in der Währung „abgelehnte Wahlmöglichkeit“ bin ich bereit, für diese Alternative zu zahlen?

Menschen können lernen, rationale Entscheidungen zu treffen, die mit ihren persönlichen Zielen und Werten vereinbar sind. Die Entscheidungen sind also in dem Sinne rational, als sie durch diese Ziele und Werte vorhergesagt werden können. Dazu müssen diese allerdings bekannt sein. Ziele und Werte lernt das Individuum jedoch wiederum nur durch beständiges Entscheiden. Jede Entscheidung gibt neue Informationen über die eigenen Präferenzen. Mit jeder Entscheidung werden also auch die eigenen Ziele und Werte konkreter. Je häufiger ich Entscheidungen treffe, desto besser werde ich darin, sie zu meinem „eigenen Besten“ zu fällen.

Von der Unfreiheit zur Abhängigkeit

Am Anfang ist es stets anstrengend, Entscheidungen zu treffen, da wir noch nicht das passende Werkzeug zur Datenreduktion kennen und zur „Berechnung“ des erwarteten Nutzens einer Entscheidung noch viele unbekannte Variablen in Form unserer Werte und Ziele existieren. Leben Individuen in einem gesellschaftlichen Klima, in dem einzelne Werte überrepräsentiert sind und aufgezwungen werden oder in dem schlicht und ergreifend keine Entscheidungsfreiheit besteht, dann beraubt man sie dieser beschriebenen Übungsmöglichkeit. Man entlastet sie zwar kognitiv, zukünftig wird sie aber jede komplexere Entscheidung überfordern. Eine der effektivsten Methoden, Individuen langfristig in die Abhängigkeit zu zwingen? Man halte sie davon ab, sich den kognitiven Herausforderungen von Entscheidungssituationen zu stellen.

„Nimmt man Individuen ihre Entscheidungsfreiheit, macht man sie langfristig von anderen abhängig“

Unsere eigenen Entscheidungen zu treffen, ist anstrengend. Unsere eigenen Entscheidungen zu treffen, wird einfacher, je öfter wir uns Entscheidungssituationen aussetzen. Die Möglichkeit, unsere eigenen Entscheidungen treffen zu können, macht uns zu einem Individuum, das seine Werte, Prinzipien und Präferenzen kennt und somit über die Fähigkeit verfügt, selbst langfristig für das eigene Wohlergehen zu sorgen.

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