01.07.2005

Neuwahlen. Endlich ist der Knoten geplatzt

Analyse von Sabine Reul

Mit der Entscheidung, den Weg zu Neuwahlen zu bahnen, hat Bundeskanzler Schröder eine Chance für die Erneuerung der Politik eröffnet. Ob sie auch genutzt wird, wird sich zeigen.

Nach Schließung der Wahllokale in Nordrhein-Westfalen ohne vorherige Konsultation des Bundespräsidenten oder sonstiger Gremien das vorzeitige Ende der Bundesregierung einzuläuten, war schon ein kurioses Manöver des Bundeskanzlers. Doch nun, da es so gekommen ist, gibt es eigentlich nur zwei Optionen. Gerhard Schröder geht entweder in die Geschichte ein als der Kanzler, der Deutschland – ob gewollt oder ungewollt – zu Beginn des 21. Jahrhunderts aus einer 20 Jahre andauernden politischen Erstarrung erlöste, oder ihm bleibt eine bloße Randnotiz als zwielichtige Irrgestalt der Politik.

Wie das ausgeht, wird der Blitzwahlkampf der nächsten Monate allein gewiss nicht entscheiden. Aber im Mittelpunkt dieses unerwarteten Wahlgangs steht ohne Zweifel die Frage: Werden wir die Chance für einen Neubeginn ergreifen, oder lassen wir sie ungenutzt verstreichen?


Darum geht es, ungeachtet dessen, wie man das Vorgehen des Bundeskanzlers wertet. Seine Entscheidung, über ein wie auch immer geartetes Votum des Bundestags das Ende seiner Regierung herbeizuführen, obgleich er über eine Mehrheit im Bundestag verfügt und sich bislang in noch jeder Abstimmung auf die Loyalität seiner Koalitionsfraktionen verlassen konnte, ist so in der Verfassung nicht vorgesehen. Die Anmaßung, mit der er sie über alle Köpfe hinweg – dabei offenbar auch beschämende Notlügen nicht scheuend – traf, legt nahe, der Kanzler sei vollends zur Karikatur seiner schon immer etwas unergründlichen Person geworden. Und dass Schröder damit nicht nur seinen Koalitionspartner, sondern auch die SPD in eine chaotische Lage gebracht hat, empfinden viele zu Recht als Zumutung.
Alle diese Aspekte des Vorgangs wurden schon und werden sicher weiter reichlich kommentiert. Aber so unerhört er sich auf den ersten Blick auch darstellen mag – er hat der Demokratie eine Chance eröffnet. Am Wahlabend begründete der Kanzler sein Vorhaben mit den Worten, der Ausgang der Wahlen in Nordrhein-Westfalen habe der Arbeit seiner Koalition „die Grundlage entzogen“. Eines lässt sich daraus in jedem Fall folgern: Anders als jene, die seit Jahren gebetsmühlenartig den Vertrauensverlust der Politik beklagen, hat Schröder die Konsequenz aus ihm gezogen und entsprechend gehandelt. Und daher empfinden die meisten das, was da geschehen ist, als Befreiung.
Dass es so nicht mehr weitergehen konnte, ist seit langem klar. Die Wähler haben einer Politik, die sich weigert, in nachvollziehbaren Begriffen Sinn und Ziel ihrer Maßnahmen darzulegen, die verdiente Absage erteilt. Das ist der gemeinsame Hintergrund der Berliner Regierungskrise und des Nein der Franzosen und Niederländer zur EU-Verfassung. Hier wie dort hat die Bevölkerung genug von einer technokratischen Elite, die ihnen Opfer abverlangt, ohne den Eindruck zu geben, sie wisse wenigstens selbst, wozu und wofür. Eine Elite, die sich noch dazu einer Sprache bedient, der allenfalls Insider vorgeben, folgen zu können, verdient kein Vertrauen. Das ist die einfache Botschaft der Abstimmungen in Deutschland und Europa.
Es gab in den letzten Wochen Hinweise, dass in der deutschen Politik manche verstehen, worum es geht. So beklagten Rainer Barzel und Helmut Schmidt in einem gemeinsamen Artikel den „Niedergang der Orientierung gebenden Parlamentsdebatte“ und fügten nicht ohne mahnende Strenge hinzu: „Wir möchten unsere mühsam errungene parlamentarische Demokratie bewahrt und ausgebaut erleben“ (FAZ, 11.5.05). Die Frage ist, ob die Chance, die sich nun bietet, genutzt wird, um eine Erneuerung der Demokratie zu wagen.


Wie zu erwarten, konzentriert sich die Aufmerksamkeit der Parteipolitiker zurzeit allein darauf, sich für den erwarteten Machtwechsel eiligst neu zu sortieren. Nachdem der Bundeskanzler das gemeinsame rot-grüne Regierungsprojekt für beendet erklärte, hat sich das Bündnis nach einer kurzen Phase schockierter Lähmung rasch in seine Einzelteile zerlegt. Da wurden in Vorbereitung für den Umzug in die Opposition in den Ministerien schon vorsorglich die Schreibtische aufgeräumt. Und sowohl in der SPD als auch bei den Grünen traten plötzlich Strömungen und Personen auf den Plan, die der Neuausrichtung für die Zeit nach dem Ende der Koalition Gestalt geben wollen. Bei der SPD formiert sich nun die Linke um Andrea Nahles, während Daniel Cohn-Bendit bei den Grünen die Rolle des Mentors auf dem Weg in eine neue Unabhängigkeit übernimmt und jüngere Mitglieder in Führungspositionen drängen.
Ob dabei inhaltlich Neues herauskommt, ist überhaupt noch nicht abzusehen. Doch seit Gerhard Schröder seine ursprüngliche Ansage, mit der Agenda 2010 in den Wahlkampf ziehen zu wollen, stornierte, erleben bei SPD und Grünen die Flügel Aufwind, die man die „linken“ nennt. Dass auch der Kanzler nun meint, die ungeliebte Reformagenda sei „abgearbeitet“, hat dieser Tendenz Auftrieb gegeben. Für die Annahme, es handele sich hier um mehr als einen vorübergehenden Moment der Auflösung des rot-grünen Bündnisses, besteht allerdings zurzeit wenig Anlass. Es geht bislang um nicht mehr und nicht weniger als um eine Etappe im Neujustierungsprozess des politischen Apparats.
Aber trotzdem: in jedem Fall ist Bewegung in den Mitte-Links-Bereich des politischen Spektrums gekommen. Die Starre, in der die Loyalität gegenüber der Regierung die Koalitionsparteien verharren ließ, hat sich gelöst. Und das ist gut so. Dass sich mit der Wahlalternative WASG, PDS und dem alten Recken Lafontaine eine „radikale Linke“ neu formieren möchte, ist in diesem Sinne ebenfalls positiv zu werten. Aus diesem Lager sind wirklich vorwärts weisende Konzepte erfahrungsgemäß zwar kaum zu erwarten. Doch es ist gut, wenn sich – auch im Westen der Republik – eine linke und gewerkschaftliche Opposition in die demokratische Auseinandersetzung einbringt, anstatt in Hinterzimmern zu versauern.


Das Bestreben aller Parteien, jeweils für sich die „Mitte“ zu reklamieren, hat bislang zur Folge gehabt, dass die Widersprüche der gesellschaftlichen Lage in der politischen Auseinandersetzung keinen Widerhall gefunden haben. Die Trennlinien zwischen gegensätzlichen Haltungen zu wichtigen Themen verliefen nicht zwischen, sondern innerhalb der Parteien. Ob beispielsweise eine protektionistische Reaktion auf die mit der wirtschaftlichen Öffnung Europas verbundene verschärfte Konkurrenz schlecht oder gut sei, ist in der Union ebenso umstritten wie bei der SPD – und in der Bevölkerung selbst. Wenn hier eine deutlichere Scheidung der Standpunkte entsteht, sind damit zwar die betroffenen Fragen noch lange nicht beantwortet, doch sie könnten endlich ohne Scheu offen und demokratisch debattiert werden.
Problematisch ist natürlich, dass dabei allem Anschein nach zurzeit auf vergangene Positionen zurückgegriffen wird, statt auf neue Entwicklungen mit neuen Fragestellungen und Begriffen zu reagieren. Schon die Heuschrecken-Schelte des SPD-Parteivorsitzenden Müntefering hat gezeigt, wie große diese Neigung derzeit ist. Es ist durchaus zu erwarten, dass wir in den nächsten Monaten einen Wahlkampf erleben, in dem die Kontrahenten auf allen Seiten aus ihrem alten ideologischen Fundus Phrasen destillieren, die man sich dann um die Ohren hauen wird. Doch sei es drum: auch da müssen wir wohl durch. Das wäre allemal besser als ein weiterer Wahlkampf der seichten Formeln und Sympathiewerbung. Nach der Lähmung der letzten Jahre wäre schon etwas gewonnen, wenn das politische Denken überhaupt wieder in Gang käme. Die Hauptsache wäre, es würde wieder um Ideen gestritten.
Wenn es dazu denn auch wirklich kommt. Denn die wohltuende Bewegung in der politischen Szene kann ein bloßes Intermezzo bleiben. Die Stühle werden gerückt, und dann bleibt alles beim Alten. Das wünscht sich offenbar die Union, der es wohl darauf ankommt, möglichst schnell und reibungslos dort weiterzumachen, wo Schröder gerade aufgehört hat. Hier will man nach gewohnter Manier einen Stimmungswahlkampf führen, mit weiblicher Kanzlerkandidatin und der Türkei als Reizthema – und dann wohl nach Schröder „light“ in 100 Tagen eine Hardcore-Version der Agenda 2010 in Gang setzen.
Der aus der Verbannung wieder aufgetauchte ehemalige CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz bekannte jüngst bei Sabine Christiansen, ihm sei eines am wichtigsten: „Es muss schnell gehen.“ (5.6.05) Es wird sich noch zeigen, ob auch die FDP als Partner in spe einer schwarz-gelben Koalition dieser Haltung folgt. Deren erfreulicher Ankündigung, für eine freiheitlichere Politik werben zu wollen, ist außer dem Ruf nach Subventionsabbau zumindest bislang nicht viel gefolgt.
Es muss überhaupt nicht schnell gehen. So arm und zerrüttet ist Deutschland nun auch wieder nicht, dass wir keine Zeit hätten für eine inhaltliche Auseinandersetzung über den Weg nach vorn. Wenn eines mitsamt der rot-grünen Koalition beendet gehört, dann ist es die technokratische Zwanghaftigkeit, mit der sie seit sieben Jahren über die Köpfe der Menschen hinweg Politik betrieben hat. Dieses Politikmodell hat ganz offensichtlich versagt. Und wenn die Union an ihm festhalten möchte, wird daraus gewiss kein „Wechsel“.


Vielleicht verläuft nach dem Ende von links und rechts eine neue Trennlinie in der deutschen Politik: auf der einen Seite die, die der Demokratie wieder Raum schaffen wollen; auf der anderen jene, die gerade so bürokratisch und selbstherrlich weiterwursteln möchten wie bisher. Darüber zu streiten wird sich lohnen. Denn das von allen sicher relevanteste Programm für diese Tage ist die Schaffung einer neuen demokratischen Öffentlichkeit.

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