01.11.2002

Der Politik geht die Luft aus

Kommentar von Sabine Reul

Kraftlos, so das einhellige Verdikt aller Beobachter, präsentiert sich seit Beginn der zweiten Amtszeit der rot-grünen Koalition die deutsche Politik. Verwunderlich ist dies ganz und gar nicht, meint Sabine Reul.

Die neu-alte Bundesregierung hat einen schweren Start. Kaum im Amt, steht sie vor geballten Problemen in der Wirtschafts- und Haushaltspolitik. Die düstere Konjunkturlage, anhaltende Arbeitslosigkeit und sinkende Steuereinnahmen bringen den Reformkalender der Regierung aus dem Lot. Statt gemächlicher Reformschritte sind auf einmal Sofortmaßnahmen gefragt, um die Staatsverschuldung einzudämmen und die Haushaltslöcher zu stopfen.

Dass sie auf diese Problemlage mit Steuer- und Beitragserhöhungen reagiert, bringt der rot-grünen Koalition nun herbe Kritik ein. Die in der vergangenen Legislaturperiode zögerlich begonnenen Reformen der Steuer- und Sozialsysteme drohen so, mit einem Schlag zunichte gemacht zu werden, so die einhellige Meinung der Medien. Kanzler Schröder mache sich zum Gefangenen der „Traditionalisten in den Gewerkschaften“ (Werner Perger, Die Zeit), die rot-grüne Truppen seien „Sieger einer Kulturrevolution, der in Wahrheit schon lange die Luft ausgegangen ist“ (Thomas Schmid, FAS), es stehe eine „freudlose Legislaturperiode“ (Kurt Kister, Süddeutsche Zeitung) und „Regieren per Reparaturkommission“ (Jan Ross, Die Zeit) ins Haus, lauten die ungnädigen Kommentare.

Das ist alles sehr wahr. Nur fragt sich, ob von der neuen Regierung ein konsequenteres oder inspirierteres Vorgehen überhaupt zu erwarten war. Dagegen spricht schon lange der desolate geistige Zustand der Parteienlandschaft insgesamt. Seit Beginn der 90er-Jahre ist es keiner Partei gelungen, Konzepte für eine Neuausrichtung von Gesellschaft und Politik nach dem Ende des Kalten Krieges ins Gespräch zu bringen. Statt dessen hat man sich darauf verlegt, mit glatten Formeln kurzfristige Stimmungen, Ängste oder vermutete Imagepräferenzen zu bedienen. Auch der „Dritte Weg“, der zumindest noch so klang, als habe man 1998 bei SPD und Grünen etwas Neues angedacht, erwies sich rasch als reine Show auf dünnem Eis. Alleiniges Kriterium für die politische Ausrichtung wurde quer durch die Parteienlandschaft der momentane Erfolg auf dem Politbarometer.

Die Folgen sind inzwischen unübersehbar: Die Parteien sind geistig verödet, nehmen ihre politische Gestaltungs- und Meinungsbildungsrolle kaum noch wahr, lassen sich mit Vorliebe von der Werbebranche inspirieren und treiben Politik frei nach deren Motto: Gut ist, was die Konsumenten kaufen. Folglich werden die Parteien selbst zu Barometern. Sie reflektieren die von den demoskopischen Auguren diagnostizierten Kaufwünsche der Bevölkerung, statt selbst zur sozialen Meinungsbildung beizutragen.

“Erstmals seit Bestehen der Bundesrepublik gibt es im deutschen Parlament keine Opposition mehr.”

Entsprechend indifferent war der Ausgang der Bundestagswahlen. Mit weniger als 9.000 Stimmen zwischen SPD und CDU/CSU wurde die rot-grüne Koalition von der „Joschka-Stimme,“ dem Einbruch der PDS und dem Fehlschlag der freidemokratischen Spaßkampagne gerettet. Keine Partei gewann ein Mandat für eine politische Linie, denn eine solche wurde von keiner Seite vorgetragen. Und entsprechend konfus lässt sich nun die zweite rot-grüne Amtszeit an.

Erstmals seit Bestehen der Bundesrepublik gibt es im deutschen Parlament praktisch gesehen auch keine Opposition mehr. Die FDP ergeht sich angesichts des 18 Prozent-Debakels und der Möllemann-Affäre in öffentlicher Selbstzerfleischung und scheidet damit als Impulsgeber in der parlamentarischen Auseinandersetzung mehr oder weniger aus. Die PDS scheint sich aus der großen Politik gänzlich verabschiedet zu haben.
Aber vor allem in der Union, die ein durchaus vorzeigbares Wahlergebnis erzielte, verhält es sich nun auch nur noch graduell anders. Dort scheint man zu meinen, schuld an der Niederlage der Unionsparteien sei mangelnde Anpassung an die Wertewelten der Wähler. Dies, obgleich sich die Union und ihr Kanzlerkandidat Edmund Stoiber im Wahlkampf aus Furcht vor der Wählermeinung ohnehin schon mehr oder weniger tot stellten. Mit dem Aufruf zur Angleichung des Unionsprofils an die postkonventionellen Lebensstile städtischer Mittelschichten gab CDU-Chefin Angela Merkel in ihrer Nachlese zum Wahlausgang zu erkennen, dass auch im Unionslager der Blick nur noch starr auf das Politbarometer gerichtet ist.

SPD und Grüne haben 1998 ein klares Mandat für einschneidende gesellschaftspolitische Reformen gewonnen und es schon in ihrer ersten Amtszeit weitgehend verschenkt. Da im nun vergangenen Wahlkampf keine Partei die allseits gewünschten Reformen auch nur anzusprechen wagte, kann es nicht wundern, dass die Wähler inzwischen von Reformen nur noch das Schlimmste erwarten. Wenn die Politik so weiter macht, wird die Luft dünn, denn dann wird sie künftig von jeder neuen Entwicklung überrollt, statt selbst gestaltend auf sie einwirken zu können. Wir brauchen keine Barometer, sondern Politiker.

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