01.11.2005

Nachschlagewerk als Utopie?

Analyse von Yvonne Caldenberg

Yvonne Caldenberg über die freie Enzyklopädie Wikipedia und die Frage, ob da mehr ist als ein Lexikon.

In der Online-Welt waren die Buzzwords des letzten Jahres „Wiki“ und „Blog“. Worum geht es? Wikis, bekannt durch die Enzyklopädie Wikipedia, sind eine freie Software, mit deren Hilfe eine Gruppe von Menschen gemeinsam an Texten arbeiten kann. Die Wiki-Programme – das Bekannteste ist die von der Wikipedia genutzte Mediawiki-Software – haben viele praktische Features. Nicht nur kann man sehr einfach die Bedienung des Programms erlernen – meist reichen fünf Minuten, und man hat die wichtigsten Funktionen begriffen –, sondern es werden auch alle Änderungen mitprotokolliert. Konkret bedeutet das: Man schreibt einen Text; danach wird dieser Text von X Personen geändert. Dennoch kann man jederzeit, ähnlich dem Versionsvergleich in MS-Word, alle Änderungen zwischen allen Versionen einsehen und gegebenenfalls jede Änderung per Klick wieder rückgängig machen. Alle Versionen sind abgespeichert, nichts geht verloren. Wiki-Software ist praktisch.


Bei der Diskussion über Wikis geht es jedoch selten um die Software an sich, fast immer geht es um die Wikipedia. Was ist zu diesem Projekt zu sagen? Die Wikipedia ist eine Enzyklopädie, die es mittlerweile in zahlreichen Sprachen gibt – von englisch, deutsch und japanisch bis hin zu plattdeutsch und alemannisch. Die Zahl der Artikel differiert von Sprache zu Sprache erheblich. Derzeit gibt es in der englischen Wikipedia etwa 730.000 Artikel, in der deutschen 290.000, in der plattdeutschen hingegen nur 1800. Die Anzahl der Artikel hängt aber nicht nur von der Verbreitung der jeweiligen Sprache ab, sondern davon, wie viele Menschen an dem Projekt freiwillig und unbezahlt mitarbeiten. Mitarbeiten kann jeder.


Man darf Texte allerdings nicht abkupfern und auch keine Bilder einfach aus dem Internet holen und in die Wikipedia einfügen. Alle Inhalte müssen entweder selbst erzeugt werden oder aber aus anderen, frei verfügbaren Quellen stammen (d.h. aus Quellen, die nicht dem Copyright unterliegen). Die Wikipedia ist eine „freie Enzyklopädie“. Das bedeutet, ihre Inhalte – Texte, Bilder etc. – können unter gewissen Vorbehalten kostenlos und frei weiterverwendet werden. Zu den Einschränkungen gehört, dass man die Quelle und auch die Hauptautoren nennen muss.
Zu Beginn des Projekts stellten sich viele die Frage: Wie kann das funktionieren? Werden nicht schnell Unfug und Fehler die nützlichen Informationen überschwemmen? Die Erfahrung hat gezeigt, dass es im Wesentlichen funktioniert. Zahlreiche ehrenamtliche Redakteure und Administratoren überwachen fortlaufend die Änderungen und machen sie gegebenenfalls rückgängig. Dazu gibt es umfangreiche Mechanismen zur Entscheidungsfindung, von Diskussionen bis hin zu Abstimmungen. Grob gesagt funktioniert das Ganze als Meritokratie. Diejenigen, die viel in dem Projekt tun und sich ein gewisses Ansehen erarbeitet haben, haben auch bei Entscheidungen viel Gewicht, ohne dass sie einen formalen Anspruch darauf hätten. Um die Qualität einzelner Einträge zu verbessern, gibt es zudem Qualitätszirkel, also freiwillige Zusammenschlüsse von Personen, die zu einem Themengebiet arbeiten, dazu (hoffentlich) kundig sind und sich um eine mehr oder weniger systematische Fortentwicklung bemühen. Auch hier gibt es keine Garantie für Qualität. Wie gut ein bestimmtes Fachgebiet ist (man kann sie in der Wikipedia unter „Portale“ finden), hängt davon ab, wie viele beschlagene Mitarbeiter zusammenkommen.
Und hier beginnen die Probleme. Jeder, der etwas mehr Zeit in der Wikipedia verbringt und sich aktiv beteiligt, wird rasch merken, dass es sich bei den fleißigen Mitarbeitern größtenteils um Männer handelt, die zwischen 18 und 28 Jahre alt sind. Warum? Die Altersstruktur ist einfach zu erklären: Um viel mitzuarbeiten, braucht man viel Zeit. Nicht wenige Aktivisten verbringen gut und gerne 40 Stunden pro Woche in der Wikipedia. Das ist nur möglich, wenn man keine Kinder hat und nicht arbeitet. Das ungleiche Geschlechterverhältnis dürfte damit zu tun haben, dass sich, ähnlich wie in der Open-Source-Szene, vor allem Männer für Bastelarbeiten und technische Features interessieren (und der technische Aspekt ist nicht unbedeutend, da sich viele Aktivisten auch an der Weiterentwicklung der Mediawiki-Software beteiligen).
Entscheidend ist aber die Frage, wie es um die Inhalte bestellt ist. Was taugen sie? Wie schneiden sie im Vergleich zu traditionellen Nachschlagewerken ab? Ein klarer Vorteil der Wikipedia ist ihre Aktualität. Gedruckte Inhalte, vor allem, wenn es um Personen und Ereignisse des Zeitgeschehens geht, veralten schnell. In der Wikipedia hingegen findet man, hat ein Forscher einen Nobelpreis erhalten, sofort auch die entsprechende Ergänzung in dem Artikel über ihn (oder der Artikel, gibt es ihn noch nicht, wird umgehend neu angelegt). Ein weiterer Vorteil der Online-Enzyklopädie besteht darin, dass sie sich nicht um den Umfang der Artikel und nur wenig um Fragen der Relevanz kümmern muss. Im Unterschied zu gedruckten Werken müssen Texte in der Wikipedia nicht so zusammengestrichen werden, dass sie zwischen Buchdeckel passen. Auch die Frage, ob die Manga-Serie „Dragonball“, die Sängerin Katie Melua oder „Broken Flowers“, der neueste Film von Jim Jarmusch, eines Artikels würdig ist, stellt sich nicht – gerade zu solchen eher populären Themen findet man in der Wikipedia häufig brauchbare Informationen.
 

„Als Enzyklopädie ist die Wikipedia weder besonders schlecht noch besonders gut. Aber als Gesellschaftsmodell taugt sie in keinem Falle.“



Auf Probleme stößt man in der Wikipedia vor allem dann, wenn es um die Qualitätsstandards bei ausführlichen Artikeln geht. Zwar gibt es hierfür einen internen Review-Prozess bis hin zur Wahl eines Textes zum „exzellenten Artikel“, aber die Kriterien dafür, was Exzellenz ausmacht und was Qualität bedeutet, sind alles andere als klar. Selbstverständlich ist es bei einem Projekt von der Größe der Wikipedia einfach, einige schlechte Artikel herauszupicken um sie dann zu verreißen. Aber schlechte Artikel wird man auch in gedruckten Nachschlagewerken hier und da finden. Das Projekt Wikipedia hat ein grundsätzliches Problem. Gute Artikel findet man vor allem dann, wenn es sich um ein Schlagwort handelt, bei dem reine Fakten möglichst vollständig aufgelistet werden müssen, beispielsweise in dem Artikel „Deutsche Fußballnationalmannschaft“ (Spiele, Turniere, Titel, Spieler und Trainer). Ein zweiter, seltenerer Fall sind Artikel zu ausgefallenen Themen, die von jemandem, der sich auskennt, erstellt wurden (beispielsweise der Artikel „Jakobusweg“ über die entsprechenden Pilgerpfade) und an denen nur wenige andere mitschreiben.
Häufig passiert es aber, dass gerade an langen Artikeln zu als wichtig geltenden Themen viele mitarbeiten und mitdiskutieren wollen. Das ist an sich erfreulich, führt aber sehr oft dazu – da eben keine klaren Kriterien für Qualität vorhanden sind –, dass ein recht fader Kompromiss herauskommt. Im Zweifelsfall entscheiden die, die am meisten Zeit haben und beharrlich genug sind. Oder aus Ermüdung entsteht ein lauer Kompromiss, und man findet dann nur Fakten, aber nichts, was diese erklärte oder einordnete. Die Wikipedia gerät so nicht selten zur Stichpunktsammlung, in der Trivialitäten und eventuell bedeutende Einzelheiten bunt durcheinander purzeln. In vielen Artikeln aus den Bereichen Malerei, Literatur und Film beispielsweise findet man zu einzelnen Künstlern lange Listen mit Werkverzeichnissen, dazu einige wenige Lebensdaten, zum Werk, zu dessen Qualitäten, Einfluss und Rezeption aber so gut wie nichts. Mit einem Fachlexikon ist man hier besser bedient. Die Chance, dass die Wikipedia aufholen kann, ist gering. Einen Artikel, den ein ausgewiesener Kenner der Materie verfasst hat und der von einem Redakteur in einem Lexikonverlag fachkundig gegengelesen wurde, wird die Wikipedia mit ihrem wenig organisierten, basisdemokratischen Prinzip nicht schlagen können. Leider setzen sich diese Mängel der Wikipedia durch das Internet leicht und schnell fort. Prüft man einen Artikel, wird man nicht selten feststellen, dass alle Informationen darin von verschiedenen Websites „zusammengegoogelt“ wurden. Geht man dem weiter nach, bemerkt man, wie sich anschließend – wegen der Beliebtheit der Wikipedia – dieses Halbwissen im Netz sehr rasch fortpflanzt. Das hier zu findende, oft sehr oberflächliche Wissen hat aber wenig mit wirklichem Wissen zu tun. Bis das Netz an Bücher und Bibliotheken heranreicht, wird leider noch sehr viel Zeit vergehen.
Ein weiteres Ärgernis, das weniger mit den Inhalten der Wikipedia zusammenhängt, sondern teils dem Selbstverständnis und teils der Außenwahrnehmung geschuldet ist, ist der Hype um das Projekt. Als Enzyklopädie ist die Wikipedia nicht schlecht, nicht gut. Aber taugt sie auch als Gesellschaftsmodell? Eben das behaupten einige Wikipedianer in Anlehnung an ähnliche Postulate der Open-Source-Bewegung. Freie, nicht-kommerzielle Programme und auch Texte haben durchaus ihren Ort. Es ist schön, dass es frei verfügbare, gelegentlich recht nützliche Software gibt. Aber wie soll dergleichen auf die Gesellschaft im Ganzen übertragen werden? Bei Open-Source-Programmierern leuchtet das Modell im Kleinen noch ein. Selbst geschriebene Programme mehren den eigenen Ruhm und sind nicht selten der erste Schritt in den Beruf. Bei der Wikipedia wird dies nicht funktionieren. Nur weil man einige, vielleicht auch sehr gute Artikel in der Wikipedia geschrieben hat, wird man keinen Job bei Suhrkamp oder der Berliner Zeitung bekommen. Auch weiter und weniger pragmatisch gefasst sind die Perspektiven gering. Wie soll man sich freie Autos vorstellen, freie Supermärkte oder freie Nahverkehrssysteme? Nur weil einige mit viel Engagement im Internet basteln – wo das mit Texten und Software auch funktioniert –, heißt das nicht, dass sich dergleichen in der nicht-virtuellen Hardware-Welt reproduzieren lässt. Die Behauptung, hier entwickle sich ein neues, kooperatives Gesellschaftsmodell, ist eben das: eine Behauptung, der es an jeder Plausibilität gebricht.
Nicht wenige Wikipedianer gehen denn auch eher pragmatisch an das Projekt heran, sehen es als interessante Erfahrung, als lohnenswerten Versuch. Das hat jedoch die Medien und allerlei professionelle Trendscouts nicht davon abgehalten, Wiki zum Buzzword zu machen, zu einem inhaltsleeren Begriff, der, wie auch Blogs, als „das neue Ding“ mit viel Lärm dort eingesetzt wird, wo nicht viel ist. Man sollte sich davon nicht beeindrucken lassen. Wiki-Software ist sicher hier und da nützlich; die Wikipedia ist immer mal wieder ein hilfreiches Nachschlagewerk. Am besten, man lässt es darauf ankommen und versucht einmal, die Wikipedia nicht nur passiv, sondern selbst aktiv zu nutzen. Der Versuch lohnt sich; vielleicht lernt man sogar etwas dabei. Die Welt wird sich dadurch nicht verändern.

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