01.09.2005
Mythos und Moderne
Analyse von Thomas DeGregori
Über das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Demokratie.
Zur Zeit der europäischen Aufklärung glaubte man, Wissenschaft und Vernunft würden den Glauben an Mythen und Magie bald Vergangenheit werden lassen. Für manche zählte auch die Religion zum Reich der Mythen, andere hielten noch an der einen oder anderen Art des Deismus oder gar Theismus fest und glaubten, dass es eine unbekannte Macht gebe, die jenseits des dem Menschen Fassbaren agiere. Tatsächlich gelang es vielen Wissenschaftlern, damals wie heute, religiöse Überzeugungen in ihrem Weltbild unterzubringen, indem sie sie so interpretierten, dass sich kein Konflikt zur Wissenschaft ergab. Dies gelang vor allem, weil einzelne Glaubenssätze darüber, wie die Phänomene der Natur zu erklären seien, neuen Erkenntnissen der Forschung stets wichen. Wissenschaft und Vernunft wurden zur Basis des wachsenden Weltverständnisses und der Aufklärung.
Als ich studierte, war das Ideal der Aufklärung an meiner Universität noch eine feste Größe. Wir gingen davon aus, dass die Ablehnung der Evolutionstheorie in den 1920er-Jahren endgültig überwunden worden war; religiöse Gruppen, die sich noch immer gegen Darwin wehrten, waren bedeutungslose Randerscheinungen, ihre Überzeugungen im Verschwinden begriffen, während ihre Kinder in der Schule Biologie und andere Naturwissenschaften lernten. Auch die verschiedenen romantischen Strömungen in der Literatur, in der Kunst und im Kunsthandwerk, im ökologischen Landbau oder in der Homöopathie wurden als unbedeutend und harmlos betrachtet. Die Literaturprofessoren, die sich gegen Naturwissenschaft und Materialismus wandten, pflegten einen Lebensstil, der sich kaum von dem ihrer Kollegen aus der Naturwissenschaft unterschied.
Aggressiver Widerstand gegenüber Wissenschaft und Vernunft, wie jener der Nazis, wurde als Reaktion von Menschen gewertet, die den Übergang in die moderne Welt des 20. Jahrhunderts nicht mitmachen wollten, und galt als letzter Atemzug des Vergangenen und nicht als Anzeichen für irgendetwas Kommendes. Nach 1945 galten diese Tendenzen als endgültig überwunden. In der postkolonialistischen Welt strömten Studenten nach Europa und Nordamerika, um dort eine Ausbildung zu erhalten, und die neu entstehenden Länder gründeten Hochschulen mit Natur-, Technik- und Ingenieurwissenschaften nach dem Vorbild der ehemaligen Kolonialmächte.
Im Gegensatz zur Behauptung postmoderner Denker waren die meisten von uns nicht der Meinung, die westliche Kultur sei ein universelles Modell, dem alle ohne Wenn und Aber folgen sollten. Doch viele von uns dachten, dass Naturwissenschaft und Technik kulturelle Grenzen überwinden, einen globalen Diskurs anstoßen und Mechanismen entwickeln könnten, die der Menschheit helfen, voranzukommen.
„Wie soll man gegen Wissenschaftsgegner ankommen, die nichts von Wissenschaft verstehen, dafür aber sehr kreativ beim Erfinden von Panikszenarien sind?“
Sechs Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist das Wissen über die Natur enorm angewachsen, und doch erscheinen die Ideale der Aufklärung ferner denn je. Das Ausmaß des Wissens und die Erklärungskraft heutiger wissenschaftlicher Theorien übersteigt das Vorstellungsvermögen früherer Generationen. Und wir haben es bei diesem Wissen nicht nur mit „Theorien“ in der negativ konnotierten Verwendung des Wortes zu tun, sondern mit Erkenntnissen, die ihre Richtigkeit und ihren Nutzen tausendfach bewiesen haben, indem sie uns helfen, weit länger, gesünder und besser zu leben als unsere Vorfahren.
Zu den großen Paradoxien unserer Zeit zählt das Phänomen, dass mit wachsendem Wissen in den letzten Jahrzehnten auch die Opposition gegen Naturwissenschaft und Technik erstarkt ist und an politischer Bedeutung gewonnen hat. Eine Ironie der antiwissenschaftlichen Strömungen besteht darin, dass Gruppen, die einander durchaus gering schätzen, sich in ihrer Abwehr der Wissenschaft doch sehr nahe stehen. Einige meiner Kollegen aus der geisteswissenschaftlichen Fakultät lästern gerne über ignorante „Rednecks“, die die Evolutionstheorie ablehnen und an die Lehre vom „Intelligent Design“ glauben; aber sie selbst vertreten auf ihre Art nicht minder absurde antiwissenschaftliche Ideen. Es fällt schwer, irgendeinen Unterschied zwischen der Behauptung der Verfechter des „Intelligent Design“, dem Leben wohne eine „irreduzierbare Komplexität“ inne, und der postmodernistischen Kritik an der modernen Naturwissenschaft, sie sei „reduktionistisch“ und nicht „holistisch“, zu finden.
Angesichts der organisierten Opposition gegen verschiedene Formen der wissenschaftlichen Ausbildung und Forschung muss unter Wissenschaftlern ohne Zweifel eine beträchtliche Frustration herrschen. Kürzlich las ich einen Artikel, der davon handelte, wie Wissenschaftler sich ärgern, wenn nachweislich falsche Behauptungen als Tatsachen vermeldet und zur Beeinflussung des Publikums genutzt werden. Obwohl ich selbst Ökonom und naturwissenschaftlicher Laie bin, konnte ich diese Frustration gut nachempfinden.
Es wird viel darüber diskutiert, die Wissenschaft müsse sich aktiv darum kümmern, in der Öffentlichkeit besser verstanden zu werden. Aber man muss sich fragen, wie man aktiv gegen Gegner ankommen soll, die nichts von Wissenschaft verstehen, dafür aber sehr kreativ beim Erfinden von Panikszenarien sind. An einem normalen Arbeitstag wacht ein Forscher auf und ist mit seinen aktuellen Projekten befasst. Ein Aktivist dagegen wacht auf und denkt darüber nach, welche Kampagne als nächste gestartet oder welche Medienvertreter besucht oder welche Freundschaften gepflegt werden müssen. Wie die multinationalen Konzerne, die sie angreifen, fangen manche Gruppen mit einem Thema an und verwandeln sich dann in Allzweck-Organisationen, die neue Kampagnenthemen danach auswählen, wie viel Publicity mit ihnen zu erreichen ist und wie viel Spendengeld sie einbringen könnten.
„Wissenschaftliche Methode und demokratische Weltsicht gehören untrennbar zusammen. Beides sind Methoden mit eingebautem Korrektiv und damit antidogmatischen Charakters.“
Obwohl viele an tradierten Glaubenssätzen festhalten, haben Wissenschaft und Technik unsere Welt in einer Weise verändert, die nicht ignoriert werden kann. Es gibt eine Menge pseudowissenschaftlicher Lehren, die Auswüchse hergebrachter Mythen sind und vorgeben, mit moderner Wissenschaft in Einklang zu stehen oder gar eine reinere und unkorrumpierte Form von Wissenschaft zu sein. So wird beispielsweise die Lehre vom „Intelligent Design“ als eine der Biologie überlegene wissenschaftliche Theorie präsentiert, da sie nicht von weltlichen Ideologien beeinflusst sei. Am anderen Ende des Spektrums wird der Glaube an eine Harmonie der Natur, der durch die Biotechnologie Gewalt angetan werde, als gewissermaßen wissenschaftlich lautere Vorstellung anderen Erkenntnissen von Wissenschaftlern gegenübergestellt, die angeblich alle von den großen Konzernen gekauft seien (unabhängig davon, ob sie von diesen Mittel erhalten haben oder nicht). Wendet man ein, dass dieser Konflikt über das Unterrichten der Evolutionstheorie oder Biotechnologie einer zwischen Wissenschaft und Antiwissenschaft sei, wird dies vehement zurückgewiesen.
Tatsächlich können wir in dieser Welt sehr gut ohne Mythen und Pseudowissenschaft auskommen. Das riesige Ausmaß an Wissen mag in gewisser Hinsicht jeden Einzelnen von uns überfordern. Doch die Art und Weise, wie dieses Wissen entstanden ist, liefert uns Orientierung. Dass ich an einer Newsgroup beteiligt bin, in der Naturwissenschaftler Ideen austauschen, bestimmte Sachverhalte erklären und Fehler in den Argumentationen von antiwissenschaftlichen Aktivisten aufdecken, bedeutet noch lange nicht, dass ich als Ökonom über mehr als ein sehr oberflächliches Verständnis ihrer Erklärungen verfüge. Letztlich ist es mein Vertrauen in die wissenschaftliche Methode, die korrektive Kraft der gegenseitigen Überprüfung der Forscher und das gefestigte Gerüst wissenschaftlicher Methodik, die mich darin bestärken, die Argumente zu akzeptieren. Ein Teil meines Vertrauens rührt auch aus meiner eigenen Erfahrung in der Wirtschaftswissenschaft her, für die die wissenschaftliche Methodik ebenfalls eine konstitutive Rolle spielt. So bin ich in der Lage, zwischen konkurrierenden Ideen zu entscheiden und mich in der Welt zurechtzufinden. Und letztlich ist es natürlich auch der Erfolg, der der Naturwissenschaft Recht gibt, das Faktum, dass es dank ihr gelungen ist, den meisten Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen. Dieser Erfolg verleiht ihr Glaubwürdigkeit und zugleich auch einen praktisch moralischen Wert.
Nach meiner Meinung gehören wissenschaftliche Methode und demokratische Weltsicht untrennbar zusammen. Beides sind Methoden mit eingebautem Korrektiv und damit antidogmatischen Charakters. Jede Aussage der Wissenschaft muss sich ständiger Überprüfung aussetzen und unweigerlich weichen, wenn eine neue Theorie bestimmte Phänomene der Natur besser erklären kann. Jeder demokratisch gewählte Politiker muss sich mit öffentlicher Kritik auseinandersetzen, um nach wenigen Jahren durch erneute Wahl im Amt bestätigt oder eben abgelöst zu werden.
Wenn eine Institution im Kern einen solchen Mechanismus zur Korrektur hat, akzeptiert sie damit, grundsätzlich nicht perfekt zu sein. Sie garantiert aber gleichzeitig, nach ständiger Verbesserung zu streben. Genau deshalb sind die Resultate wissenschaftlichen und ebenso die demokratischen Vorgehens besser als alles andere. Mit den Worten Winston Churchills: „Die Demokratie ist die schlechteste Regierungsform, abgesehen von allen anderen.“ Was die Möglichkeit von Irrtümern betrifft, so lehnen sowohl Wissenschaft als auch Demokratie jede Form von Absolutismus ab, einschließlich solch kleingeistige Varianten wie das Zerstören von Versuchsanbauten gentechnisch veränderter Pflanzen „zur Rettung des Planeten“.
Die Wissenschaft verlangt die ständige Überprüfung der Methodenverlässlichkeit. In der letzten Zeit gab es in angesehenen Fachzeitschriften vermehrt Berichte über unstatthafte Einseitigkeit oder Beeinflussung wissenschaftlicher Forschung, beispielsweise im Bereich der klinischen Erprobung neuer Medikamente, und Vorschläge, wie man solchen Fehlentwicklungen begegnen könnte. Kritiker verweisen gerne auf solche Artikel; allerdings nicht, um zu zeigen, dass das eingebaute Korrektiv funktioniert, sondern um den Wissenschaftsbetrieb als korrupt darzustellen. Doch wann hat das letzte Mal eine dieser Gruppen die eigene Vorgehensweise kritisch hinterfragt, die eigenen Fehler in ihrer pseudowissenschaftlichen Agenda an die Öffentlichkeit getragen und sich ernsthaft gefragt, ob ihr Tun eher zum Wohle oder zum Wehe der Menschheit ist?
Eine gedeihende Demokratie sollte die Auseinandersetzung über die eigenen Ideale und Praktiken nie zur Ruhe kommen lassen. Sowohl Wissenschaft als auch Demokratie bedürfen der Freiheit der Gedanken und der Freiheit des Austauschs von Ideen, um effektiv funktionieren zu können. Sich aktiv und bedacht am demokratischen Prozess zu beteiligen, verlangt genauso viel Anstrengung und Bildung wie die Teilnahme an wissenschaftlicher Forschung und ist weit schwieriger, als einfach dem Diktat oder den vermeintlichen Weisheiten eines allein gesegneten Führers oder einer dogmatischen Ideologie zu folgen. Die breite Akzeptanz der Grundsätze der Demokratie deutet darauf hin, dass – wie bei der Wissenschaft – weit mehr behaupten, ihnen zu folgen, als dies tatsächlich der Fall ist.
Bestätigtes Wissen, das aus experimenteller wissenschaftlicher Forschung hervorgeht, erlaubt uns, auf allen Ebenen – von der persönlichen bis zur politischen – Entscheidungen zu treffen und uns auf wechselnde Umstände einzustellen. Ideologisch motivierte Politik ist dagegen statisch und unflexibel, geeignet zum Blockieren, nicht aber für den Fortschritt. Wie wenig jeder Einzelne von uns über bestimmte Gebiete von Natur-, Technik- und Ingenieurwissenschaft wissen mag, wir können alle ihre Erkenntnisse akzeptieren – als einerseits vorläufiges Wissen, aber andererseits auch als solide Handlungs- und Entscheidungsgrundlage bis zu jenem Zeitpunkt, an dem die Wissenschaft neue, noch präzisere oder weiter reichende Erkenntnisse gewonnen hat. Mit anderen Worten: Im Gegensatz zum blinden Vertrauen Gläubiger können wir auf den aktuellen Stand der Wissenschaft bauen und uns gleichzeitig ein gewisses Maß an Vorbehalten und Skepsis bewahren. Dies erfordert, dass alle Forschung ergebnisoffen ist und stets zu harter innerwissenschaftlicher Kritik ermutigt wird.
In den vergangenen Jahrzehnten haben die Wissenschaftler alle Schlachten gewonnen und es doch geschafft, den Krieg zu verlieren. Wissenschaftler müssen auf zwei Ebenen arbeiten. Sie müssen sich beständig gegen Pseudowissenschaft und ideologisch motivierte Lehren zur Wehr setzen, und sie müssen der Öffentlichkeit helfen, ein besseres Verständnis der wissenschaftlichen Methode und der wissenschaftlichen Weltsicht zu erlangen.
Wissenschaftler müssen sich bewusst sein, dass, wenn sie eine nachweislich falsche Überzeugung angreifen, sie letztlich das ganze Weltbild derer in Frage stellen, die daran glauben. Für die Familie in Kansas, die die Evolutionstheorie ablehnt, ist der Unterricht eines Biologielehrers an der örtlichen Schule weit mehr als nur Unterricht. Der Lehrer dringt regelrecht in ihr Leben ein und greift Überzeugungen an, die ihr Selbstverständnis von Familie und Gemeinschaft prägen. Man muss sich nicht wundern, dass sie sich als Opfer fühlen. Ebenso sind viele Umweltschützer der Überzeugung, Biotechnologen würden den Planeten zerstören oder seien Teil einer weltweiten Verschwörung zur wirtschaftlichen Ausbeutung der Natur. Man muss sich nicht wundern, dass auch sie sich als Opfer fühlen. In absolutistischen Weltbildern bedeutet, einen Grundsatz zu brechen, das Gleiche wie ihn aufzugeben, und so wird jedes Zugeständnis als komplette Niederlage empfunden. So kommt es, dass sich desillusionierte Ex-Kommunisten in Radikalkonservative verwandeln, dass von vielen die Grüne Gentechnik nicht für spezielle Anwendungen abgelehnt, sondern per se verteufelt wird, und dass die wissenschaftliche Forschung an embryonalen Stammzellen als Mord diffamiert wird.
Zu Beginn des neuen Jahrtausends wurde viel darüber gesprochen, was wohl die größte Errungenschaft des vergangenen gewesen sei. Ein Kandidat für diese Ehrzuweisung war die Entwicklung der wissenschaftlichen Methode. Dieser Kandidat bekommt auch meine Stimme. Wenn wir daran arbeiten, könnte eine der größten Leistungen dieses Jahrtausends darin bestehen, die wissenschaftliche Methode weiter kontinuierlich zu verbessern, dafür zu sorgen, dass sie einen festen Platz im Weltbild der meisten Menschen und im alltäglichen Leben erhält und so zum Wohle der Menschheit wirken kann.