03.11.2010

Multikulti-Tod in Berlin

Von Vasile V. Poenaru

Wenn sich einer integrieren will, taucht irgendwann die Frage auf: Bushido oder Goethe?

Der Leitwolf ist da – jung, bissig, deutsch. Seine Kultur wird nicht abgeschafft (right?), seine Liquiditäten werden nicht unendlich angezapft. Aus dem Kaufvertragsrecht entlehnte Begriffe (etwa Bringschuld: wohlgemerkt ursprünglich die Pflicht des Schuldners) prägen seit geraumer Zeit u.a. den Talk rund um die Anderen. Deutschland will kein Zuwanderungsland, kein Schlaraffenland, kein Sozialamt mehr sein. „Multikulti ist tot”, trug CSU-Chef Seehofer die gar nicht so frohe Botschaft (besser: das mühsam wiederbelebte Echo einer längst verhallten Nachricht) ins Land. Lauter, anhaltender Beifall. Dem Parteinachwuchs aus der Seele gesprochen. Auf gut Ausländerdeutsch (wer immer das auch sprechen mag): Tot! Kaputt ... He! Du verstehen?


„Total gescheitert“, bekräftigte auch die Bundeskanzlerin das Urteil, in dem freilich gar nicht so viel Urteilskraft steckt, und verstieß darauf leider gleich einmal prompt gegen das (vorerst nur den Migranten) anempfohlene Gebot der Stunde. „Wer nicht gefördert werden will, muss auch gefordert werden.“ Eine durchaus korrekturbedürftige Aussage von alleroberster Stelle. Ein nicht nur auf grammatischer Ebene auffällig unstimmiges Machtwort. Darf das sein? Eigentlich schon. Politiker müssen ja nicht unbedingt korrekt sprechen, doch wer will, dass die Anderen es tun, sollte sich doch erst selber mal ein klein bisschen bemühen. Das (und nicht etwa den) kann man doch hoffentlich noch fordern. Bei einer Sendung der Deutschen Welle (dwtv) über Indien höre ich: „Wir sollten mehr Inder online bekommen.“ Miese Übersetzung aus dem Englischen? Klar, doch das englische Verb „to get“ wird im deutschen Sprachraum auch sonst weitgehend undifferenziert (und eben oft genug mit geradezu grotesken Wirkungen) durch „bekommen“ übersetzt. Wie im Merkel-Zitat wird der Mensch dabei unter Umständen schlechthin unreflektiert – und natürlich unangemessen – als Akkusativobjekt gehandelt.


Damit sich alle fleißigen Zuwanderer das gute linguistische Beispiel der Bundeskanzlerin zu Herzen nehmen mögen, braucht es einen Kontext, in dem das von ihr Gesagte auch beim allerstengsten Deutschlehrer nicht allzugroßen Anstoß erregt. Wenn z.B. ein Integrationsbedürftiger, beispielsweise ein Inder (um mal sozusagen am Ball zu bleiben und zugleich von den Türken abzulenken), mal nicht gefördert werden will (Arbeitsdiagnose: Integrationsfaulheit), muss man ihn (ja von wem bloß?) fordern – im Sinne von „verlangen“. Kann ich bitte einen weiteren Inder bekommen? Ich hab gestern vier gefordert, doch ich bekam nur drei.


Aber so war es ja nicht gemeint – obwohl die damaligen Verfechter der deutschen Leitkultur vor zehn Jahren, bei der Einführung der IT-Greencard, bekanntlich „Kinder statt Inder“ verlangten: Das heißt, lieber Kinder bekommen statt Inder ins Land lassen. Noch verzerrter: Ach wenn wir bloß mehr Kinder online bekommen könnten! Nein, das wäre ja Fernsehdeutsch.


Aber weil wir schon im schönen Konjunktiv sprechen, sei an dieser Stelle auf Lessing, einen Meister des Modus, mehr, einen Integrationsexperten, einen wahrhaften Schlichter zwischen Mehrheit und Minderheit verwiesen:
„Der Baron: O wie achtungswürdig wären die Juden, wenn sie alle Ihnen glichen!
Der Reisende: Und wie liebenswürdig die Christen, wenn Sie alle Ihre Eigenschaften besäßen!“ (Die Juden)


Clash of Civilizations oder einfach Dialog zwischen Kulturen (strenggenommen: Dialog innerhalb einer Kultur)? Man übersieht in der Fachliteratur jedenfalls gerne die schlagfertige Antwort des Reisenden und belässt die Interpretation kurzerhand beim Bejubeln des vermeintlich total geglückten Aufklärungsversuchs. Und wenn dann noch ein bisschen aus Kants einschlägigem Aufsatz zitiert wird, desto besser. Es dreht sich aber eben letztendlich alles um die Ränder, und nicht etwa um die mittlerweile ziemlich verspülten Mitten – besonders heutzutage, da der Globus so rund geworden ist.


Zurück zum Mainstream: Wenn sich dann also einer integrieren will, taucht irgendwann die Frage auf: Bushido oder Goethe? Und nimmt man es mit dem zweiten vorlieb (was allerdings nicht gesagt ist), kann ein Blick auf die Seiten der angesehenen Goethe-Gesellschaft in Weimar e.V. nicht schaden – oder doch? Integration, nichts so Integration als Merkels Menschen! würde es einer fast stürmisch und drängisch ausdrücken, Goethes Shakespeare-Aufsatz im Hintergrund, das Kleine Deutsche Sprachdiplom im Visier, die Gemeinplätze der deutschen Subkultur im Sack. Töte Göte! sollte man aber trotzdem nicht sagen. Das wäre schlechtes Deutsch.


„Goethe in seiner gegenwärtigen Bedeutung zur Geltung zu bringen sind (sic!) Ziel und Zweck der 1885 gegründeten Goethe-Gesellschaft in Weimar, einer Gemeinschaft von über 3000 Goethefreunden in aller Welt.” Die für den Inhalt der Website verantwortlichen Experten (Geschäftsführerin bzw. Präsident der Goethe-Gesellschaft) sind beide Muttersprachler, sie haben beide promoviert, und der letztere hat sogar habilitiert. Selbst abgesehen von diesem Schnitzer ist ihre Internetpräsentation der an sich ja eigentlich äußerst sinnvollen Goethe-Gesellschaft gequält, unbeherzt, inkohärent und schülerisch-vereinfachend fade (was auch für die englische Fassung gilt). Kränkelt der alte Geheimrat (der übrigens seinerzeit unbetrübt am jungen Heine vorbeiblickte)? Vermag uns Johann Wolfgang nicht aus dem (weit über das Migrantenproblem hinweg) spürbaren Prozess der Verluderung der deutschen Sprache herauszuhelfen? Umformuliert: zurück zu Bushido?


Ein neues Zuwanderlied, ein besseres Zuwanderlied, O politische Freunde, will ich euch dichten! würde ein Heine heute allenfalls auf Kongressen sagen, wenn er sich dazu nicht zu schade wäre. Zwischen Leitkultur und Begleitkultur können allerdings die besten Absichten stecken bleiben. Woran sich das gerade frisch gebackene Integrationskonzept orientiert, weiß womöglich der neue Leitwolf, der dieser Tage an Stelle des unbarmherzig zerfleischten Multikulti-Leichnams gekrönt wird. Er spricht fließend Englisch und fordert gutes Deutsch.

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