01.09.2000

ZUR SACHE Müder Markt

Von Thomas Deichmann

So einfältig wurde über das kapitalistische Gesellschaftssystem wohl seit seiner Etablierung vor weit mehr als hundert Jahren noch nicht diskutiert.

So einfältig wurde über das kapitalistische Gesellschaftssystem wohl seit seiner Etablierung vor weit mehr als hundert Jahren noch nicht diskutiert. Gibt’s eigentlich irgendwo noch irgend jemanden, der sich auch nur ansatzweise die Mühe macht, die marktwirtschaftliche Dynamik objektiv zu verstehen und reale wirtschaftspolitische Konzepte daraus abzuleiten? War da nicht mal was mit Leistungs- und Profitdenken, mit Krisenanfälligkeit und Gegenkonzepten – gemessen an Investitionen und anderen wirtschaftlichen Basisdaten? Wo sind die Analytiker, die Politische Ökonomie als eine wissenschaftliche Disziplin verstanden?


Wenn man heute Unternehmerverbände über die Schlechtigkeit der Welt philosophieren hört oder Chefetagen beobachtet, die sich statt um Gewinnmaximierung und Leistung in ihren Betrieben um das seelische Wohlergehen der Mitarbeiter und den “Share-” wie “Stakeholder-Value” sorgen, dabei gleichzeitig Zurückhaltung und “kleine Lösungen” preisen, dann wird selbst Leuten, die an der Marktwirtschaft allerlei auszusetzen hätten, mulmig. Man fragt sich, wo es enden soll, wenn traditionelles Leistungs- und Effizienzdenken allseits in Frage gestellt wird.
Viele Marktkommentatoren werfen heute mit Luftblasen um sich und schwafeln wie biblische Propheten unentwegt von Globalisierung, E-Commerce und diversen “Post”-Zuständen unserer Gesellschaft. Andere warnen nicht minder prophetisch vor den Niederungen des jetzt angeblich um sich greifenden Neo-Liberalismus, der Mensch, Natur und womöglich unsere gesamte Galaxie zerstören wird. Neo-Liberalismus ist zu einem Kampfbegriff geworden, der sich gegen jeden richtet, der meint, die Marktwirtschaft sei nicht allein verantwortlich für Krieg und Elend, sondern auch für einen stetig wachsenden Lebensstandard und enormen sozialen Reichtum.


Einer Vielzahl von populären Wirtschaftskommentatoren ist ein hoher Grad an Entfremdung von der eigentlichen Materie gemeinsam, was sich spätestens dann zeigt, wenn man die tatsächliche ökonomische Entwicklung einmal näher betrachtet. Widmet man sich den objektiven Trends der Weltwirtschaft und setzt sie mit soziologischen und politischen in Verbindung, kommen erstaunliche Dinge zum Vorschein: zum Beispiel der irrsinnige Hype um IT und New Economy, die lähmende Therapeutisierung der Arbeitswelt und nicht zuletzt eine von Zukunftsangst und Psychostrategien gedämpfte Marktwirtschaft, der langsam die Lichter ausgehen – und mit ihr dem Streben der Menschheit nach sozialem Fortschritt und Innovation. Neu an der “Systemkrise” scheint heute, dass weniger systemimmanente, also objektive Barrieren der Kapitalakkumulation den Ausschlag geben als die labile geistige, also subjektive Verfassung der Gesellschaft und ihrer Eilten. Nach ein paar Jahrhunderten Marktwirtschaft (mit durchaus ansehnlichen Erfolgen) bringen sie heute selbst so etwas auf den Weg wie eine Ökosteuer, mit der vernünftiges Effizienzdenken und Wachstumsstreben der ideologischen Doktrin des Ökologismus geopfert werden. Zukunftsbranchen wie der Biotechnologie wird zudem durch Gesetze und Moraldebatten das Vorankommen erschwert. Von solchen Missständen und anderen Dingen lesen Sie in diesem Novo.


Eine anregende Lektüre wünscht


Thomas Deichmann
Chefredakteur

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