15.07.2019

Mobilität und eingeschränkte Mobilität in China

Von Austin Williams

Titelbild

Foto: Steve Langguth via Flickr / CC BY 2.0

Der technologische Fortschritt in China ist beeindruckend und rasant, der gesellschaftliche hält leider nicht mit

Die Verkehrsrevolution Chinas war bemerkenswert in ihrer Schnelligkeit und ihren transformierenden Auswirkungen auf das Land. Ob auf Schienen, auf Straßen oder im Luftverkehr, das Land hat sich für den Personenverkehr auf eine für frühere Generationen unvorstellbare Art und Weise geöffnet. Im Jahr 1990 hatte China keine Schnellstraßen1, bis 2004 insgesamt 35.000 Kilometer (bereits dreimal so viel wie das deutsche Autobahnnetz), bis 2017 waren es 166.000 Kilometer und bis 2030 sollen es 265.000 Kilometer werden. Von 2010 bis 2017 wuchs das Passagieraufkommen der drei größten chinesischen Inlandsfluggesellschaften auf fast 350 Millionen (das 3,5-fache der Zahl bei deutschen Fluggesellschaften), und der chinesische Flughafenmarkt soll bis 2036 auf 1,5 Milliarden Passagiere anwachsen.

Aus Kostengründen und Gründen der Bequemlichkeit ist der Zug nach wie vor das am häufigsten genutzte Transport- und Verkehrsmittel. Die Intercity-Eisenbahnstrecke Peking–Tianjin war die erste Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke (High-Speed Rail, HSR) in China. Mit nur 120 Kilometern wurde sie im August 2008 fertiggestellt, und dennoch hat China innerhalb eines Jahrzehnts weitere 20.000 Kilometer Eisenbahnnetz für den Hochgeschwindigkeitsbetrieb gebaut. Das ist mehr als das gesamte HSR-Netz der Welt zusammengenommen. China plant bis 2025 noch weitere 15.000 Kilometer HSR. Viele dieser Strecken erlauben Geschwindigkeiten von 300 Kilometer pro Stunde und mehr. Obwohl das konventionelle Schienennetz der USA doppelt so lang ist, haben sie gerade einmal fünf Prozent der HSR-Gleislänge Chinas. Dabei bedenke man, dass das US-Bahnsystem seit Mitte des 19. Jahrhunderts existiert. China hat seine Transportrevolution allein in den Anfangsjahren des 21. Jahrhunderts gemeistert. Bis 2025 wird das Schienennetz um weitere 50.000 Kilometer erweitert, davon 38.000 Kilometer für den Hochgeschwindigkeitsbetrieb.2

Wir sind es gewohnt, Superlative mit Chinas verkehrspolitischen und urbanen Ambitionen zu verknüpfen. In nur 20 Jahren hat Shanghais U-Bahn-System 620 km Bahn-Linien geschaffen und wird bis 2025 über insgesamt 25 U-Bahnlinien mit einer Länge von rund 900 Kilometer verfügen.3 Das ist die doppelte Länge des jahrhundertalten U-Bahn-Netzes in New York. Bis 2020 wird China 66 neue Zivilflughäfen haben (darunter Beijing Daxing, der von Zaha Hadid entworfene, größte der Welt). Eine ganze Reihe neuer Städte wird gebaut und an den Luftverkehr angeschlossen, bestehende Großstädte werden zu Mega-City-Regionen weiterentwickelt.

„Man kann die Megastädte und ihre U-Bahn-Systeme auch als Ergebnis des Fehlens einer vernünftigen, bewussten Planung betrachten.“

Die Vernetzung des Verkehrswesens für sich ist wirklich beeindruckend, aber man muss auch dazu sagen, dass die schnell hochgezogenen und schlecht organisierten Städte in von der Sowjetunion inspirierter Städtebaumanier eine Zersiedlung mit sich gebracht haben, die solch große Verkehrsnetze erst nötig machte. Chinas Städte sind gigantische urbane Ballungsräume und ihre ausgedehnten öffentlichen Verkehrsverbindungen sind notwendig, aber nicht notwendigerweise ein Triumph. Sie sind beeindruckend, man kann die Megastädte und ihre U-Bahn-Systeme aber auch als Ergebnis des Fehlens einer vernünftigen, bewussten Planung betrachten. Ein Forscher beschreibt, wie sich im modernen China „übergroße urbane ‚New Town‘-Schemata ausgebreitet haben […] getrieben von Träumen urbaner Größe, mit einem chicen Zentrum und ausufernden Außenbezirken voller leerer, eintöniger und lebloser Einfachwohnungen.“4 Mit anderen Worten, die Zersiedelung der Stadt hat eine ebenso ausgedehnte Verkehrsinfrastruktur erforderlich gemacht, die bei besserer Stadtentwicklung möglicherweise weniger umfangreich gewesen wäre. Aber wie wir wissen, hat China es eilig gehabt und unweigerlich Fehler begangen.

Chinesen unterwegs

In diesem Essay möchte ich auf die Vor- und Nachteile des Verkehrs in China eingehen, die Entwicklung großer Infrastrukturprojekte im ganzen Land betrachten und das Potenzial für eine Verbesserung des Zustands von Verkehr und Personenverkehr in naher Zukunft untersuchen. Ich werde aber auch auf die Grenzen dieser Ambitionen und die Einschränkungen der Mobilität der Menschen in China eingehen.

Während der zwei Wochen der chinesischen Neujahrsfeier sind in China rund drei Milliarden reisende Menschen unterwegs, darunter 2,5 Milliarden mit dem Auto, 356 Millionen mit dem Flugzeug und 43 Millionen per Schiff.5 Viele der Bahnreisen werden von Migranten aus den südöstlichen Industrieregionen getätigt. Mit Bündeln an Nahrungsmitteln und Elektrogeräten sind sie beladen, um ihren schwer verdienten Wohlstand und ihren Status zu Hause in Millionen von Kleinstädten und Dörfern in ganz China zu demonstrieren. Die Bahnhöfe sind extra wegen dieser alljährlichen Massenbewegungen bewusst überdimensioniert. Zum Vergleich: Der Haddsch in Mekka z.B. zieht 2,3 Millionen Pilger an, was in etwa der Anzahl der täglichen Besucher der East Nanjing Road in Schanghai entspricht.

„Die gesellschaftliche Entwicklung ist wegen regulatorischen Beschränkungen doch noch sehr behindert.“

Mitte der 1980er-Jahre lag die ländlich-urbane Migrationsbevölkerung bei rund zwei Millionen, und erst in den 1990ern wurde es üblich, woanders hinzuziehen und die Binnenmigration in weiter entfernte Städte nahm rasant zu.6 2005 wurden rund 147 Millionen (typischerweise Niedriglohn-) Migranten gezählt, die in wohlhabenderen Regionen eine Beschäftigung suchten. Im Vergleich zu früher ist es sehr viel einfacher geworden, den Ort zu wechseln. Aber auch heute unterliegt die Reise- und Niederlassungsfreiheit erheblichen Einschränkungen. Wenn man in einem Teil des Landes geboren ist, muss für andere Regionen eine Aufenthaltsgenehmigung beantragt werden – und die Bewilligung ist nicht garantiert. Selbst wenn Migranten eine Aufenthaltserlaubnis gewährt wird, kann es sein, dass sie keinen Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung oder anderen Sozialleistungen erhalten. Trotz aller Öffnung des Landes und trotz der Bereitstellung der Transportmittel, ist die gesellschaftliche Entwicklung wegen dieser regulatorischen Beschränkungen doch noch sehr behindert. Wanderarbeiter wurden als „treibende Bevölkerung“ beschrieben, die von einem „starken Gefühl der Unsicherheit geprägt“ wird.7

Wanderarbeiter

China verfügt heute über schätzungsweise 282 Millionen Wanderarbeiter, was etwa ein Drittel der gesamten Erwerbsbevölkerung ausmacht.8 Die Langstreckenmigranten, mit denen sich dieses Kapitel in erster Linie beschäftigt, sind vorübergehend Beschäftigte, die ihre Arbeitskraft außerhalb ihrer Heimatregion verkaufen. Sie liegen typischerweise in der unteren Einkommensklasse und sind auf die Bahn angewiesen, um die weiten Entfernungen nach Hause zurückzulegen. Mit zunehmendem Wohlstand der Migranten lernen jedoch auch sie ihre Zeit schätzen und reisen zunehmend mit dem Flugzeug.

Max Hirsch von der Universität Hong Kong berichtet, dass „Studenten, Rentner, Wanderarbeiter und Billigreisende viel wahrscheinlicher Fluggesellschaften, Flughäfen und städtische Transportsysteme nutzen, die außerhalb der Mainstream-Infrastruktur der internationalen Luftfahrt operieren.“9 Dies ist eindeutig in China der Fall, wo die Inlandsflugrouten neben dem innerchinesischen Fernverkehr auf der Schiene eine weitere preiswerte Option der Beförderung anbieten. Dennoch berichtet Bloomberg im Januar 2018: „Während das Aufkommen von Billigflügen die Attraktivität des Bahnverkehrs in anderen Teilen der Welt geschwächt hat, steigt sie in China.“10 Die Zahlen der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr haben sich zwischen 2008 und 2016 verdoppelt (auf 2,4 Milliarden beförderte Fahrgäste) und das Bahnfahren ist zum jetzigen Zeitpunkt wohl immer noch die von ländlichen Migranten bevorzugte Art des Reisens.

„Der Einsatz und der Missbrauch einer billigen Reservearmee von Arbeitskräften hat die Löhne niedrig gehalten.“

So wie die ausgedehnte Natur der städtischen Infrastruktur Chinas ein Problem im Herzen einer gut strukturierten Stadt offenbart, so spiegelt die Notwendigkeit, dass Millionen von Wanderarbeitern das Land durchqueren müssen, zweifellos ein strukturelles Problem in Chinas sozialpolitischer Ökonomie wider. Die Abwanderung billiger Landarbeitskräfte befeuert zwar seit Jahren die Wirtschaft in den Sonderwirtschaftszonen an der Ostküste, sie ist aber ironischerweise kein Zeichen für eine gesunde, dynamische und selbstbewusste Volkswirtschaft. In einem Bericht wird festgestellt, dass „68 Prozent aller Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe und 80 Prozent im Bausektor von ländlichen Arbeitsmigranten besetzt wurden“, die eine arbeitsintensive Wirtschaft aufrechterhalten und Investitionen in Mechanisierung, Forschung und Entwicklung und einen automatisierten Dienstleistungssektor bremsen (obwohl Credit Suisse darauf hinweist, dass China einen Wendepunkt bei arbeitsintensiven Endprodukten erreicht haben könnte).

Der Einsatz und der Missbrauch einer billigen Reservearmee von Arbeitskräften hat die Löhne niedrig gehalten, aber in China ist die Disziplin des Marktes zu riskant, als dass sich der chinesische Staat darauf verlassen könnte. Die Kommunistische Partei Chinas setzt Verwaltungs- und Rechtsinstitutionen ein, um die Einhaltung der Lohntarife und restriktive Praktiken zu gewährleisten. Der „Hukou“ zum Beispiel ist der interne Pass, der sicherstellt, dass Landarbeiter tendenziell vom Zugang zu öffentlichen Gütern ausgeschlossen oder marginalisiert werden.

Megastädte und trostlose Dörfer

Zu weiteren Gefahren dieser groß angelegten Migration gehört die Tatsache, dass Migranten in den Gebieten, in denen sie arbeiten, nach wie vor eine marginalisierte Gemeinschaft mit eingeschränktem Zugang zu Sozial- und Bildungsangeboten, mit niedrigem Lohn und geringer Arbeitsplatzmobilität sind.11 Die Kehrseite dieser ökonomischen Marginalisierung zeigt sich in erheblichen Problemen in den Heimatorten der Migranten, einschließlich weit verbreiteter Berichte über psychologische und ökonomische Härten.

Trotz der Zusicherungen von Premierminister Li Keqiang, aus diesen zurückgelassenen Orten – Dörfern, aus denen die Wanderarbeiter stammen – würden keine „trostlosen Dörfer“ werden, ist genau das oft der Fall. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage befragte 7000 Dorfkinder von Wanderarbeitern und kam zu dem Ergebnis, dass 13 Prozent der Kinder von beiden Elternteilen zurückgelassen wurden und 25,7 Prozent von einem Elternteil. Ein Forscher behauptet, dass es 61 Millionen Kinder gibt – fast ein Viertel der Kinder in China –, die auf dem Land ohne Eltern aufwachsen und nur von Großeltern versorgt werden.12 Einige dieser Kinder sind in einer sich schnell wandelnden technologischen Gesellschaft schlecht sozialisiert und benachteiligt. Das sind die menschlichen Tragödien des chinesischen Wirtschaftswunders, wenngleich es offensichtlich auch enorme Vorteile gibt.

„Die Verbesserung der Verkehrsmittel bei gleichzeitiger Verweigerung echter Reisefreiheit ist eine Spannung.“

Ich führe dies hier an, um die Widersprüche zu verdeutlichen, die mit dem Wachstum der Investitionen in das Transportwesen in China verbunden sind. Die Verbesserung der Verkehrsmittel (d.h. der technischen Infrastruktur für die Mobilität) durch Investitionen in bessere, schnellere, billigere Züge usw., bei gleichzeitiger Verweigerung echter Reisefreiheit (durch Aufrechterhaltung eines restriktiven internen Passsystems), ist eine Spannung, die China zu lösen versucht, ohne die Beziehungen des Einzelnen zum Staat grundlegend zu verändern und ohne den Menschen echte Autonomie zu gewähren. Solche Widersprüche sind natürlich im Hinblick auf die Gewährung echter Freiheit – die der Staat nicht hinnehmen kann – nicht aufzulösen. Und so ist die chinesische Regierung ständig damit beschäftigt, genug anzubieten, um die soziale Harmonie aufrechtzuerhalten und Unruhen zu minimieren. Ihre Verkehrsstrategie zielt daher als Teil der Wirtschaftspolitik auf die Verbesserung der Lebensqualität und die Aufrechterhaltung harmonischer sozialer Beziehungen ab. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um ein Transportsystem, das den Wunsch nach mehr Reisen, der eine Enttäuschung über das Zuhause widerspiegeln könnte, eigentlich nicht wecken will.

Go West

Der Staat setzt dazu mehrere Mittel ein. Es gibt zwar noch andere Treiber, aber in diesem Aufsatz geht es um einige der sozialen Aspekte des Verkehrswesens in China. Bereits im Jahr 2000 startete China seine „Go West“-Strategie: ein massives Unterfangen von Regierungsbehörden und ausländischen Investoren, die in und über viele der zurückgelassenen Regionen hinweg Geld schaufeln. Durch diese Initiative wurden die zentralchinesischen und westlichen Regionen Chinas – fern der bestehenden Industrie- und Handelszentren an der Ost- und Südküste – gestärkt, um die wirtschaftlichen Chancen zu verbessern und die Abwanderung zu bremsen. Das hat sowohl positive als auch negative Absichten und Konsequenzen. In jüngster Zeit hat die Belt and Road Initiative (oder Seidenstraßen-Initiative) begonnen,  wirkliche Transportrouten und Handelsverbindungen zwischen China und dem Rest der Welt zu schaffen. Die Städte und Gemeinden entlang der Strecke werden zweifellos davon profitieren.

Dr. Jane Golley, stellvertretende Direktorin des Australian Centre on China in the World, weist darauf hin, dass eine solche Verlagerung von den konventionellen Entwicklungszentren an der Ostküste in Regionen weiter westlich, als unvermeidliche Folge kapitalistischer Kräfte hätte erfolgen müssen, die daraufhin wirken, die Produktion von etablierten Produktionsstätten in billigere Arbeitsregionen zu verlagern, um Profite zu maximieren. Golley betont, dass die Zeit, die die unsichtbare Hand des Marktes benötigt, um ihre Magie zu entfalten, zu lang für die Bedürfnisse Chinas ist. Deshalb ist die Partei eingesprungen und hat per Willensakt umgesetzt, was man nicht der Unvorhersehbarkeit einer unsichtbaren Hand überlassen wollte.13

„Nur vier Prozent der Bevölkerung verfügen über einen international gültigen Reisepass.“

Nehmen wir als Beispiel die Lanzhou New Area (LNA), 55 Kilometer nördlich der alten Stadt Lanzhou. Es handelt sich dabei um eine Stadt, die 2012 noch nicht existierte und durch Vorzugsbehandlung und riesige Geldbeträge geschaffen wurde. In nur drei Jahren entwickelte sich LNA zu einer embryonalen neuen Stadt mit den damit verbundenen Chancen auf wirtschaftliches Wachstum für die zentrale Region Chinas. Diese Verbesserungen sind für sich allein genommen enorm notwendig, aber auch, um den Menschen das Gefühl zu geben, dass sie nicht fortziehen müssen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Solche Maßnahmen – die Verbindung von Stadtentwicklung und Verkehrsinfrastruktur – beschleunigen die Entstehung neuer urbaner Zentren und Wirtschaftsräume.

Die Reiserevolution

Einhergehend mit einer Verkehrsrevolution, die immer mehr Möglichkeiten und innovative Reisemöglichkeiten bietet, geht ein zunehmendes Maß an Zurückhaltung – die Menschen werden ermutigt, in ihren Heimatorten zu bleiben und NICHT zu reisen. Wegen strikter Vorgaben, die Einwohnerzahl zu senken, werden Pekinger Wanderarbeiter zum Teil gezwungen, in ihre Heimatstädte zurückzukehren. In anderen Politikbereichen hat die Regierung die Wiederbelebung zahlreicher Städte und Dörfer mit Steuervergünstigungen für Ladenbesitzer und Fabriken gefördert, um ein Gefühl der wirtschaftlichen Dynamik zu schaffen und die Menschen davon abzuhalten, wegzuziehen.

Auch andere Bereiche der Verkehrsinvestition sind nicht für jedermann bestimmt. So wird in den Geschichten über den massiven Anstieg des internationalen Reiseverkehrs durch eine neue Generation globalisierter chinesischer Touristen oft übersehen, dass nur vier Prozent der Bevölkerung über einen international gültigen Reisepass verfügen.14 China investiert auch in Automatisierung, autonome Fahrzeuge, fahrerlose U-Bahnen, Skytrains, unbemannte Drohnen etc. Diese sind nicht für gewöhnliche oder arme Reisende gedacht, aber sie könnten zu technologischen Fortschritten führen, die bald schon allen zugutekommen.

China ist der größte Hersteller von Drohnen und hat vor kurzem Feldversuche mit personalisierten Flugzeugen durchgeführt. Der Tech-Riese Baidu hat die erste Lizenz für die Erprobung von autonomen Fahrzeugen in Peking erhalten. Die Firma Ehang hat bereits eine Passagierdrohne in der Produktion. Im Sommer 2018 begannen Roboter-Containerfahrzeuge mit der Lieferung von Lebensmitteln und Snacks, sodass die Fahrt zum Laden oder die durch E-Bike-Fahrer verursachten Staus entfallen. Manches erweist sich als Humbug oder Betrug, etwa der ominöse Mega-Bus, der auf Stelzen über den restlichen Verkehr hinweg fahren sollte. Aber viele Investitionen bringen viele echte Verbesserungen. Die meisten Busse sind heute klimatisiert (was London noch nicht zu bieten hat) U-Bahn- und Straßenbahnnetze werden in hohem Tempo ausgebaut und bevorzugter Antrieb ist der Elektromotor.

„Die brodelnde Spannung zwischen dem Wunsch nach Mobilität und Aufstieg und dem Management, der Kontrolle und Lenkung dieser Wünsche ist unauflösbar.“

Die Reiserevolution in China ist ein Prozess der Umweltverbesserung, der wirtschaftlichen Aufwertung und des gesellschaftlichen Ehrgeizes. Die brodelnde – oft unbewusste – Spannung zwischen dem Wunsch nach Mobilität und Aufstieg und dem Management, der Kontrolle und Lenkung dieser Wünsche ist unauflösbar. Bemerkenswerterweise ist der chinesische Staat allerdings recht versiert darin, das Unauflösbare aufzulösen.

Reisen erweitert den Horizont und der Verkehr bietet die Möglichkeiten, sich zu treffen, zu denken, kreativ zu sein. Das ist auch in China die ländlich-urbane Erfahrung. Bei all dem Einsatz von Zuckerbrot und Peitsche, um die Menschen in ihren Dörfern, in den Vororten, in den Städten der dritten Klasse zu halten, wird es immer diejenigen geben, die sich nach mehr sehnen. Festzusitzen ist für den Abenteurer ein Gräuel. Und das chinesische Volk ist bekannt für seinen Appetit: Junge Menschen, von ihren Eltern ermutigt, begeistern sich dafür, ihre Kinder von zu Hause wegzuschicken. 500.000 Chinesen verlassen jedes Jahr das Land und kehren nie wieder zurück.15 Noch ist dies eine Option für die kleine Elite (und eine Sorge für die Regierung). Aber auch in armen Bevölkerungsgruppen wachsen die Begehrlichkeiten.

China entwickelt sich und mit dem Land entwickeln sich die Muster gesellschaftlicher Mobilität und gleichen sich denen im Westen an. Viele neue Städte werden ihre eigene Dynamik entfalten, dennoch werden viele Bürger weiterhin die Chancen nutzen wollen, die sich in den etablierten großen städtischen Ballungsräumen eröffnen. Im Gegensatz zu westlichen Städten sind Chinas Wanderungsbewegungen jedoch kein organischer Prozess. Sie werden durch die Verweigerung des Rechts auf Freizügigkeit behindert. Das Recht auf Niederlassung ist für viele Menschen nicht existent. Auch wenn die Regierung Pläne ankündigte, bis 2020 städtischen Hukou an 100 Millionen vom Land kommende Stadtbewohner auszugeben, erfolgt das eher als Geschenk und es besteht weiter kein Rechtsanspruch.

Der wirklich unbekannte Faktor ist, wie sich der soziale Ehrgeiz des Individuums, der durch das Versprechen der Freizügigkeit freigesetzt wird, manifestieren wird. Als Zentren der Regierung, der Industrie, der Kultur werden Peking, Shenzhen oder Shanghai auch weiterhin ihren Reiz für die Mittelschicht und die Jugend behalten. Für Migranten können die wirtschaftlichen Bedürfnisse und Wünsche in Kleinstädten erfüllt werden, oder es wird sich zeigen, dass die Großstädte nach wie vor die besten Chancen auf höheres Einkommen bieten. Es handelt sich dabei um eine persönliche Berechnung, wie sie Migranten aus Polen, Rumänien oder Afrika anstellen, wenn sie sich entscheiden, sich in wohlhabendere Länder in Europa aufzumachen. Werden Urumqi, Lanzhou oder Karamay genügend Anziehungskraft entwickeln, um Menschen in ihrer Umlaufbahn zu halten? Oder werden Shenzhen und Shanghai weiterhin arme Wanderarbeiter anziehen, die ihr Glück suchen? Wird der Xiongan New District Wanderarbeiter freiwillig aus der Hauptstadt weglocken, oder wird diese Verlagerung dadurch erreicht, dass Peking „Händler, Wanderarbeiter und Fabriken rauswirft und Schulen, Krankenhäuser und Institutionen an einen anderen Ort verlagert“16 und darauf besteht, dass sie sich in den neuen Städten niederlassen? Die Herausforderung für China besteht darin, die Bedeutung der Freizügigkeit als chinesisches Charakteristikum zu definieren – und eher nicht als Wert der Aufklärung.

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