02.02.2010

Merkel speist Linsen

Von Sabine Reul

Gefährlich für das Gemeinwesen sind Steuerflüchtige nicht, die amoralische Lässigkeit, mit der hier an Grundlagen des Rechtsstaatverständnisses gesägt wird, aber schon.

Wie nennt man einen Staat, der bekannt gibt, seine eigene Rechtsgrundlage untergraben zu wollen? ‚Korrupt’, also „moralisch verdorben [>lat. corruptus „verdorben, vernichtet“], oder korrumpierbar, also „einer Korrumpierung zugänglich, bestechlich“? Das pflegt man heute generell Staaten mit schwacher Rechtsgrundlage nachzusagen, von denen man meint, sie hätten ohnehin nicht viel zu verlieren. Deshalb trifft das die Sache mit dem Kauf gestohlener schweizerischer Bankdaten nicht: Wir haben nämlich sehr viel zu verlieren.
Passender wäre wohl ‚dissolut’, d.h. „haltlos, zügellos [>lat. dissolutus „aufgelöst, ungebunden, liederlich“]. Nur ein liederlicher Staat verkauft sein Geburtsrecht wie Esau für eine Portion Linsen von ein- bis zweihundert Millionen Euro oder, genauer gesagt, für eine Portion Stimmen in den bevorstehenden nordrhein-westfälischen Landtagswahlen.
Gerichte werden zu entscheiden haben, was davon straf- und verfahrensrechtlich zu halten ist. Das ist, obschon darüber nun alle Welt spekuliert, sekundär. Schlimm genug, dass die buchstäbliche Gesetzestreue, die das demokratische Gemeinwesen selbstverständlich von seinen Mandats- und Amtsträgern erwartet, mit dieser Transaktion kompromittiert wird. Aber schlimmer noch ist, dass das dem politischen Führungspersonal der Republik nachgerade schnuppe ist. Das gilt für die SPD, die rechtliche Einwände gegen den Datenkauf aus der Unionsfraktion im Bundestag mit dem Vorwurf konterte, manche in der Union wollten durch „präventives Schonen“ von Steuersündern Spenden für den nächsten Bundestagswahlkampf gewinnen. Und es gilt für Kanzlerin Merkel, die sich diesem populistischen Müll dem vermeintlichen Gefühlshaushalt des Demos zuliebe beugte, statt mit souveränen Argumenten dagegenzuhalten. Das also ist das von vielen lang erhoffte „Machtwort“ der Kanzlerin: prinzipienloses Wahlkampfgerede.
Das Ganze ist degoutant: nicht nur für die Wähler, die man förmlich zum tumben Mob deklariert, sondern auch für das Nachbarland Schweiz, dem man erneut mit rechtlich dubiosen Mitteln in die Parade fährt, wobei den Ansehensschaden allerdings nicht die Schweiz erleidet, sondern Deutschland. Es ist aber noch viel mehr als degoutant. Die Integrität und Autorität des demokratischen Staats beruhen darauf, dass nicht zuletzt seine gewählten Vertreter mit dem Geist und Sinn dieser freiheitlichen Ordnung etwas anzufangen wissen. Steuerhinterziehung ist eine Straftat, gewiss, und soll geahndet werden. Doch im umfassenden Sinn gefährlich für das Gemeinwesen sind Steuerflüchtige nicht – die amoralische Lässigkeit, mit der hier an Grundlagen des Rechtsstaatverständnisses gesägt wird, aber wohl. Wir haben viel zu verlieren.

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