01.04.2001

“Meine Filme sollen nach Wahrheit riechen”

Interview mit Gillo Pontecorvo

Julian Namé sprach mit Filmemacher Gillo Pontecorvo über Filmästhetik, Widerstand und dessen Werk.

Novo: Mit 13 Jahren habe ich in einem Programmkino in Chicago Ihren Film “Schlacht um Algier” gesehen. Die Parallele zum Vietnamkrieg war offensichtlich. Vor zwei Jahren sah ich den Film ein zweites Mal im Rahmen des Filmfestivals “Africa Alive” in Frankfurt. Der Hintergrund war dieses Mal ein anderer: der aktuelle Algerienkonflikt. Ihr Film war immer noch aktuell. Wird er heute auch noch in anderen Ländern gezeigt, und wie ist die Resonanz?

Gillo Pontecorvo: Dieser Film ist sehr alt. Ich weiß gar nicht genau, wie alt, 30 oder 35 Jahre. Da ich die Musik dazu mit dem Filmkomponisten Ennio Morricone[1] verfasst habe, erhalte ich immer noch 50 Prozent der Tantiemen. So kann ich zurückverfolgen, dass er gerade in Australien und Japan gezeigt wurde. Ich stelle also fest, dass er merkwürdigerweise immer noch läuft. Obwohl sich der Film auf eine bestimmte Situation bezieht, ist er dadurch nicht begrenzt. Der Film spricht über etwas, was irgendwo auf der Welt immer aktuell ist.

Sie sind einer der wenigen Filmemacher, der einerseits sehr bekannte Schauspieler wie Yves Montand und Marlon Brando in seinen Filmen auftreten lässt, andererseits aber auch mit Laiendarstellern arbeitet. So haben Sie zum Beispiel in Schlacht um Algier mit echten Freiheitskämpfern gedreht. Hat das Probleme verursacht?

Nein, Probleme entstehen nur, wenn professionelle Schauspieler und Laien zusammen spielen sollen. Zum Beispiel in Queimada, wo Marlon Brando und sein Partner Evaristo Marquez, ein armer Bauer, den ich im Dschungel kennen lernte, zusammen vor der Kamera standen. Wir waren gerade auf der Suche nach einem Urwaldterrain, das wir für unseren Film abbrennen wollten. Ich sagte dem Co-Produzenten von United Artists, dass ich unbedingt Marlon Brando für die Rolle des Sir William Walker haben wollte. Er fragte zurück: “Warum nimmst du nicht Steve McQueen?” Ich lehnte ab, denn ich hatte das Drehbuch mit einer konkreten Vorstellung in meinem Kopf von Marlon Brandos Gesicht und Statur geschrieben. Der Produzent war nicht glücklich darüber, willigte aber ein. Er wollte jedoch, dass ich Sidney Poitier als schwarzen Hauptdarsteller nehmen sollte. Ich lehnte ab. Er war geschockt und meinte, ich sei verrückt: “Poitier ist ein wunderbarer Schauspieler!” “Ja, er ist ein wunderbarer Schauspieler, aber er hat nicht das Gesicht, das ich suche.” Ich war auf der Suche nach einem schwarzen breiten Gesicht. Die Zeit verging und ich hatte es noch nicht gefunden! Ich schaute mich am Broadway um – ohne Erfolg. Als ich kurz vor Drehbeginn und schon ziemlich verzweifelt war, suchte ich im südlichen Urwald Kolumbiens. Da sah ich einen Bauern, der ohne Sattel auf einem Pferd ritt. Ich sah sein Gesicht – und es ideal! Das war mein Mann! Wir riefen ihn von unserem Jeep aus, was ihn erschreckte. Er ritt fort. Ich war wütend – und die Crew und ich kehrten ins Hotel zurück. Aber ich bestand darauf, den Reiter erneut im Dschungel zu suchen. Wir kamen in ein Dorf und trommelten alle zusammen – und da fanden wir unseren Mann wieder. Ich rief Marlon Brando an und sagte ihm, ich hätte ich den Mann gefunden, aber es werde hart für ihn: Er könne kaum lesen und habe keinerlei Spielerfahrung. Das bedeute endlose Drehwiederholungen. Marlon fragte: “Glaubst du wirklich an dieses Gesicht? Ist es für den gesamten Film wichtig?” Ich antwortete: “Ja, unbedingt!” Brando war sehr großzügig: “Dann mach dir keine Gedanken um mich!” – und willigte ein. Zurück zu Ihrer Frage. Ich weiß nicht, ob es richtig oder falsch ist, aber ich lege großen Wert auf die physische Erscheinung der Protagonisten, wenn ich ein Drehbuch schreibe und Darsteller suche, ganz besonders auf die Gesichter. Sicher arbeite ich lieber mit Schauspielern. Es ist weniger anstrengend. Aber im Film kann man Szenen wiederholen, Kamerawinkel ändern, schneiden, weiter drehen, wenn man Zeit und einen Produzenten hat, der einen nicht gleich umbringt. Dann kann man sogar einen Koffer oder einen Schirm zum Spielen bringen. Und wenn das Gesicht stimmt, nehme ich es.

 

 

Filmographie Gillo Pontecorvo

Missione Timiriazev (Dokumentarfilm, 1953)
Porta Portese (Dokumentarfilm, 1954)
Cani dietro le sbarre (Dokumentarfilm, 1954)
Festa a Cantelluccio (Dokumentarfilm, 1955)
Uomini del marmo (Dokumentarfilm, 1955)
Pane e zolfo (Dokumentarfilm, 1956)
Giovanna (Episode in Die Windrose, 1956)
La lunga strada azzurra (1957) – Das Leben ist ohne Gnade
Kapò (1959)
La battaglia di Algeri (1966) – Schlacht um Algier
Queimada (1969) – Queimada – Insel des Schreckens
Ogro (1979)
Nostalgia di protezione (Kurzfilm, 1997)

 

Die ersten Monate des Drehs waren schrecklich. Marlon war allerdings sehr geduldig und sagte: “Erklär mir, wie Evaristo spielen soll!” So erzählte ich ihm, was ich wollte, und Marlon spielte es für ihn. Und Evaristo imitierte dann Marlon. Nach zwei, drei Monaten fingen wir an, mit Evaristo genauso wie im Actor‘s Studio

zu arbeiten: “Versuch, Dich zu erinnern!” und so weiter.
Die Schwierigkeit lag darin, die beiden zusammenzubringen. – Ansonsten ist die Arbeit mit Laien kein großes Problem. Im Theater, wo alles live ist, ist die Situation eine ganz andere: Entweder kannst du spielen oder du kannst es nicht. Aber im Film ist das nicht ein so großes Problem.

Hatten Sie ähnliche Probleme beim Dreh von Schlacht um Algier?

Nein, keineswegs. Außer dem französischen Oberst, einem algerischen Schauspieler, waren alle Darsteller im Film Laienschauspieler. Keine der großen Gruppenszenen war schwer zu drehen. Journalisten denken oft, dass solche Szenen sehr schwer zu filmen sind. Aber das ist nicht wahr. Die einzige Szene, die wirklich sehr schwer war, war die letzte. Denn wenn du beschließt, alles Spektakuläre wegzulassen, sogar alles, was im Kino normalerweise funktioniert, wenn du das rigoros verfolgst, sollte die Szene förmlich nach Wahrheit riechen. Wenn nicht, kannst du es sowieso vergessen. Wenn du so arbeitest, ist das Filmen nicht schwer. Große Massen zu bewegen, ist nicht schwierig. Man muss nur einem Prinzip folgen: Wenn etwas so aussieht, als ob du es von der Realität gestohlen hättest, musst du mehr auf die Kleinigkeiten achten und jedes Detail aufschreiben: Gruppe 1 bewegt sich auf das zweite Signal hin nach dort, zwei Personen kommen währenddessen hierher usw. Und wenn du das getan hast, probt es der Assistent, und du musst die Sache nicht mehr in dem Maße kontrollieren. Dann kannst du dich auf die fünf oder sechs Personen konzentrieren, die gerade rennend oder schießend auf die Kamera zulaufen, so als ob du im Studio wärst. Du sagst nur: “Ein bisschen mehr nach links oder nach rechts”. So erreichst du das Gefühl von Wahrheit.

Ist dieses Gefühl schwer zu erreichen?

Nein, das ist sehr leicht. Um auf die Schlussszene zurückzukommen, die mit der Menschenmenge, die gegen die Polizei für ihre Freiheit demonstriert: Ich wollte, dass diese Demonstration sich in eine Art Ballett verwandelt, in ein Bild, das für jeden Freiheitskampf gültig ist. So eine Art Ballett – aber ohne die stilistische Einheit zu untergraben. Das heißt, das Ballett muss verschmelzen mit der Atmosphäre oder dem Gefühl der demonstrierenden Menge. Du musst den Eindruck vermeiden, dass eine Szene von der Realität gestohlen sei. Und so haben wir beschlossen, für die Schlussszene körniges Filmmaterial zu benutzen, ein Material, das man oft in alten Wochenschauen sieht. Und so erzeugten wir den Eindruck, dass die Demonstranten Teil eines großen Kampfes seien, dass der Kampf wirklich stattfinden würde.

“Ich wollte, dass diese Demonstration sich in eine Art Ballett verwandelt, in ein Bild, das für jeden Freiheitskampf gültig ist.”

Ein Ballett aber ist etwas anderes. Diese beiden Ziele in Einklang zu bringen, ist eine Herausforderung. Wir haben es fünfmal abgedreht. Dann schickten wir das Material nach Rom. Als wir es zurückerhielten, schien uns die Szene nicht mehr glaubwürdig. Also drehten wir sie noch einmal. Das Ballett sah erst dann echt aus.

Bevor Sie Spielfilme drehten, machten Sie mehrere Dokumentarfilme. Hat Schlacht um Algier dokumentarische Momente?

Nein, denn hier ist nichts durch einen Filmkommentar rekonstruiert. Schlacht um Algier ist ein Spielfilm. Es kann kein Dokumentarfilm sein, denn außer der Schlussszene sind alle Szenen Flashbacks mit Kommentar und sogar Musik wegen des dramatischen Effekts. Es gibt sehr viele spannungsgeladene Szenen, wie z.B. wenn die drei Frauen Bomben in der Stadt legen. In diesen Szenen wissen die Zuschauer sogar mehr über die Filmsituation als die Protagonisten selbst. Das heißt, du musst alles rekonstruieren.

 

 

Biographie Gillo Pontecorvo

Gillo Pontecorvo wird 1919 in Pisa als fünftes Kind einer jüdischen Familie geboren. In Paris besucht er eine Journalismus-Schule. Dort arbeitet er für die Havas-Agentur und spezialisiert sich auf Fotoreportagen. Während des Zweiten Weltkrieges tritt er in Paris in die Kommunistische Partei ein. Den Partisanenkrieg erlebt er direkt: Mit kaum mehr als zwanzig Jahren wird er Oberbefehlshaber des Widerstandes in Piemont. Nach dem Krieg kehrt er nach Paris zurück, wo er Filme des Neorealismus entdeckt. Mit dreißig Jahren beginnt er seine Filmkarriere. Mit Giovanna liefert er 1956 seine erste längere Regiearbeit ab. Pontecorvo hat als Direktor der Filmfestspiele von Venedig und als Präsident von Cinecittà wichtige Ämter innerhalb der Kinowelt bekleidet und ist trotz der geringen Zahl seiner Filme bis heute einer der bekanntesten italienischen Regisseure.

 

Ich versuche, an das Wesentliche der Realität heranzukommen. Dieser Ansatz ist im Allgemeinen nützlich für jede Art von Film, für den Spielfilm genauso wie für Science Fiction. Man lernt z.B., langsame Kameraschwenks zu machen, um verschwommene Bilder zu vermeiden. Das ist das ABC des Kinos. Außer in diesem sehr allgemeinen Sinn ist jedoch der Ansatz eines Spielfilms mit dem eines Dokumentarfilms nicht zu vergleichen.

Was halten Sie von den jüngsten Entwicklungen im Dokumentarfilm?

Ich muss ehrlich sagen, dass ich in letzter Zeit nicht so viele Dokumentarfilme gesehen habe. Ich möchte hinzufügen: Viele Leute reden mit mir über Schlacht um Algier, immer Schlacht um Algier, Schlacht um Algier. Der Film, den ich bevorzuge, ist nicht Schlacht um Algier, sondern Kapò. Sicher, der Film hat viele Schwächen. Es ist mein zweiter Spielfilm, und das merkt man. Aber in zwei Aspekten ist Kapò besser: Erstens in seiner Suche nach einem eigenen Stil. Zweitens in seiner emotionalen Intensität. Meiner Meinung nach ist das emotionale Moment in Kapò stärker als in Schlacht um Algier. Ich weiß, die beiden einzigen Länder, die da mit mir übereinstimmen, sind Japan und Frankreich.

Aus welchem Grund?

Ich weiß es nicht. Vielleicht habe ich nur Journalisten und Kritiker in diesen zwei Ländern getroffen, die mit mir einverstanden waren. Ich weiß, dass ich weniger Fehler in Schlacht um Algier gemacht habe, aber ich ziehe Kapò vor. Und nicht nur, weil die emotionale Qualität höher ist. Das Thema ist anders. Auch die Suche nach der angemessenen Sprache. Die Art von Photographie. Die Idee, den Film zu drehen, als ob alles tatsächlich passiert wäre, als ob es real sei. Das Experimentieren mit Photomaterial, so dass die Szenen echt aussehen. Ich habe das alles gelernt. Ich habe viele Sachen gelernt. Wie man Musik benutzt. Wie man schneidet etc.

Wie Sie sich vorstellen können, ist so ein Film wie Kapò schwierig für Deutschland. Filme, die sich mit dem Thema Holocaust beschäftigen, tendieren oft dazu, sehr moralisch zu sein. Einen Film, der die menschlichen Qualitäten der KZ-Gefangenen und gleichzeitig ihren brutalen Überlebenskampf zeigt, gibt es selten. So einen Film in Deutschland zu sehen, ist selten und schwierig.

Das kann ich verstehen.

Ihre Filme haben viel mit Widerstand zu tun, vor allem mit Befreiungskämpfen. Was würden Sie jungen Leute vorschlagen, die sich engagieren und die Welt in der einen oder anderen Form ändern wollen?

Ich werde Ihre Frage nicht direkt beantworten. Was ich am meisten verabscheue, ist diese Kultur der Indifferenz.Also auf jeden Fall ist für mich das Wichtigste, sich um andere Leute zu kümmern. Die Tatsache, dass man sich nicht um den Anderen kümmert, ist das Schlimmste. Es ist nicht nur abscheulich, es ist verächtlich.

“Fortschritt ist alles, was die Macht eines Menschen über einen anderen vermindert.”

Und ich werde das Wort “Vorschlag” nicht benutzen, weil ich generell keine Vorschläge mache. Aber ich versuche, meine Söhne für die Welt zu interessieren, damit sie sich engagieren, an etwas glauben und einem einfachen Prinzip folgen: Fortschritt ist alles, was die Macht eines Menschen über einen anderen vermindert.

Vielen Dank für das Gespräch.

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