01.05.1999

Lug und Trug um Tschernobyl

Kommentar von Patrick Körber

Seitdem der Reaktorblock IV am 26. April 1986 explodierte, gilt Tschernobyl als Symbol für die Gefahren moderner Technologie und Mahnmal des Atomtods. Ohne Grund, meint Patrick Körber.

Je weiter das Reaktorunglück zurückliegt, desto größer wird die Legendenbildung über die Zahl der Opfer. Es ist von bis zu 125.000 Toten in Folge des Unglücks die Rede. Dieser Riesenzahl gegenüber steht die offizielle Bilanz, die von 31 Menschen spricht, die direkt durch den Unfall und die unmittelbare Strahleneinwirkung ums Leben kamen. 237 der sogenannten Liquidatoren, die nach der Explosion den Brandherd bekämpften, die umliegenden Häuser dekontaminierten und die rund 116.000 Bewohner der Region evakuierten, wurden wegen Verdachts auf akute Strahlenkrankheit in Krankenhäuser eingeliefert. In 134 Fällen wurde der Verdacht durch die Diagnose bestätigt, 14 von ihnen verstarben in den folgenden zehn Jahren.
Des weiteren ist dokumentiert, daß rund 2500 Liquidatoren von insgesamt 152.000 (die Gesamtzahl der Liquidatoren wird in verschiedenen Quellen zwischen 152.000 und 800.000 angegeben, die Zahlenangaben sind insgesamt nicht zuverlässig) bis März 1993 gestorben sind. Zum Vergleich: In Deutschland sterben im gleichen Zeitraum aus einer beliebigen Gruppe von 152.000 Männer zwischen 25 und 35 Jahren im Durchschnitt etwa 1900. Diese Todesfälle unter den Liquidatoren haben die unterschiedlichsten Ursachen, sie werden jedoch medizinisch nicht als Folgen der Strahleneinwirkung eingestuft. Eine Studie des Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit Neuherberg (GSF) nennt als Todesursache “nicht nur die unmittelbare Strahlung, sondern auch Veränderungen der Lebensbedingungen wie zum Beispiel Streß”. Deutlich erhöht sei die Selbstmordrate der Liquidatoren. Unter den Toten seien auch solche, die an Unfällen oder Herz-Kreislauferkrankungen gestorben sind. Unklar ist letztlich, wieviel Liquidatoren wirklich an Kausalursachen, die mit dem Unfall zu tun haben, starben.

Von journalistischer Seite wurde ein “Tschernobyl-Aids”, angeblich eine mysteriöse Immunschwäche, erfunden.

Von journalistischer Seite wurde in diesem Zusammenhang ein “Tschernobyl-Aids”, angeblich eine mysteriöse Immunschwäche, erfunden. Medizinisch entbehrt dies indes jeglicher Grundlage. Erkrankungen, die durch Strahlung bedingt werden, sind mittlerweile sehr gut untersucht und beschrieben. Die Annahme, Strahlung könne ganz neuartige Syndrome hervorbringen, wird durch nichts gestützt.
Bekannte strahlenbedingte Krankheiten sind Leukämie und Schilddrüsenkrebs. So wurde allgemein ein rapider Anstieg der Leukämierate bei Kindern erwartet. Noch heute sprechen die Medien von einer verheerenden Zunahme und prognostizieren weiter Tausende von Toten. Doch die Realität sieht anders aus: In den am stärksten kontaminierten Bezirken in der Ukraine erkrankten zwischen 1988 bis 1993 insgesamt 15 Kinder an Leukämie. Durchschnittlich wären gemäß den vorangegangenen sieben Jahren 13 Erkrankungen zu erwarten gewesen. Der Anstieg blieb innerhalb des Bereichs zufälliger Schwankung.
Allein beim Schilddrüsenkrebs zeigt sich ein sehr deutlicher Anstieg. In der Ukraine, Weißrußland und Rußland wurde bis Ende 1995 bei rund 1000 Jugendlichen Schilddrüsenkrebs diagnostiziert. Von 600 Kindern, die in Minsk operiert wurden, gelten heute 75% als geheilt, drei der Patienten sind bisher gestorben. Dieser Anstieg ist besonders deshalb bedauerlich, weil er durch geeignete Maßnahmen deutlich zu begrenzen gewesen wäre. Der Schilddrüsenkrebs entsteht in Folge einer Anreicherung von radioaktivem Jod in der Schilddrüse. Dies hätte durch die rechtzeitige Gabe von Jodtabletten und den Verzicht auf kontaminierte Nahrung verhindert werden können.

Eine Zahl, die alle Leukämie- und Schildrüsenkrebserkrankungen weit in den Schatten stellte, fiel 1994 in der Presse: Von 125.000 Toten zwischen 1988 und 1994 in der Ukraine, gestorben an den Folgen der Verstrahlung, war die Rede. Der Grund: Das ukrainische Gesundheitsministerium hatte 1994 die Meldung bekanntgegeben, daß zwischen 1988 und 1994 “die Gesamtzahl der Todesfälle unter der am meisten vom Tschernobylunfall betroffenen Bevölkerung” mehr als 125.000 betragen habe. Diese enorme Zahl umfaßte jedoch alle Todesfälle in der Region während dieser Zeit. Es handelte sich größtenteils um alte Menschen, deren Leben zu Ende gegangen war. Die angegebene Zahl entspricht etwa der prozentualen Sterberate der deutschen Bevölkerung (1% jährlich) und ist somit kein Hinweis auf eine erhöhte Mortalität.

Der Umgang mit den Folgen des Tschernobyl-Unglücks war in Deutschland von Anfang an absolut unverhältnismäßig und ausgezeichnet geeignet, die Mythenbildung voranzutreiben. Fast eine halbe Milliarde Mark ließ man sich hierzulande die Vernichtung von Nahrungs- und Futtermitteln kosten, die in keiner Weise gefährlich waren. Es wurden übertriebene Empfehlungen abgegeben, etwa Kinder nicht mehr auf den Spielplatz gehen zu lassen, und mit Grenzwerten hantiert, die weit jenseits von Gut und Böse waren: So galt beispielsweise international damals ein Grenzwert von 3700 Bq/l für die Belastung von Milch mit Jod, in Deutschland lag er jedoch bei 500 Bq/l, in Hessen sogar bei 20 Bq/l (und damit weit unter dem Wert der natürlichen Aktivität von Milch).

Aus heutiger Sicht muß man eine Darstellung des Reaktorunfalls von Tschernobyl als Sündenfall des technischen Fortschritts im 20 Jahrhundert zurückweisen.

Aus heutiger Sicht muß man eine Darstellung des Reaktorunfalls von Tschernobyl als Sündenfall des technischen Fortschritts im 20 Jahrhundert zurückweisen. Insgesamt stellt die freigewordene Radioaktivität wohl eine Umwelt- und Gesundheitsbelastung dar, die Folgen erscheinen aber in keiner Hinsicht exzeptionell, vergleicht man sie etwa mit den Folgen von Großbränden, Chemieunfällen, schweren Erdbeben, Überflutungen, Vulkanausbrüchen oder Militärschlägen.

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